Ein Jahr in Gemeinschaft
von Conny
Als Conny nach ihrem Abitur in der Frauen-WG im Schloss einzog, ahnte sie nicht, auf welches Abenteuer sie sich eingelassen hatte. Der Schutz und das "Reizklima" der Gemeinschaft halfen ihr, Wahrheiten zu entdeckte, die ihr Leben veränderten.
Als ich im September 2006 in Reichelsheim ankam, waren meine Erwartungen an das Jahr nicht sehr explizit, ich wollte einfach "raus", nach 13 Jahren Schule etwas Praktisches arbeiten, Gott und mich neu und besser kennenlernen.
In den ersten Tagen sagte Klaus Sperr, unser Hausvater, dass er uns nicht ein einfaches Jahr wünschen möchte, sondern ein "gutes Jahr", aus dem wir schöpfen können, das uns prägen darf und soll. Ich nickte, das fand ich einleuchtend, aber eigentlich verstand ich nicht besonders viel. Die Reichweite dieser Worte ging weit über das hinaus, was ich vermutet hatte.
Ich arbeitete im Tagungsbüro des Schlosses und in der Backstube. Die Arbeit machte mir Spaß, die Gemeinschaft mit den neuen Geschwistern war zwar herausfordernd, aber toll. Ich war fast überall dabei - in der OJC gibt es ja auch immer genug zu erleben.
Die andere Seite des Spiegels
Anfang November änderte sich etwas in meiner Stimmung, ich war viel müde, mein Tagebuch ist voll mit Einträgen wie "Ich kann nicht mehr, bin so erschöpft". Ich wusste nicht, woher diese Müdigkeit kam, merkte nur, dass ich mehr Abgrenzung brauchte und lernen musste, auch einmal "Nein" zu sagen. Das hatte ich nie gut gekonnt. Ich gab mir Mühe, doch insgesamt wurde ich immer erschöpfter, im Büro und in der Backstube passierten mir Fehler, ich vergaß Dinge, wurde oft krank und verstand mich selbst immer weniger. Was war los? Dieser Leistungseinbruch tat mir weh. Aus der Schule und der Gemeinde, vom Reiten und den ehrenamtlichen Tätigkeiten zu Hause war ich Erfolg gewöhnt; ich hatte Leistung erbracht, viel geschafft und getan - wahrscheinlich zu viel.
Ich versuchte weiterhin, meinem gewohnten Standard treu zu bleiben und scheiterte daran.
Im Dezember war ich eigentlich dauerkrank, immer tat etwas weh. Ich hasste diesen Zustand und verachtete mich selbst dafür.
Vieles verstand ich nicht, erst im Rückblick konnte ich den Wert dieses Tales schätzen lernen. Denn gerade in dieser Zeit wurden mir Wahrheiten zugesprochen, die ich selbst niemals gedacht haben könnte. Meine Mentorin sagte mir: "Du darfst dich auch so schwach, so krank lieben. Erkenne es als Chance, hier darfst du Luft holen, hier darfst du ohne Leistung sein." Was?! Mich lieben? So, wie ich gerade bin? Mein Stolz rebellierte. Es brauchte seine Zeit, bis meine Seele verstand und mein Herz zu der Schwäche "Ja" sagen konnte.
Der Tiefpunkt wird zum Wendepunkt
Ende Dezember hatten wir Stille Tage, eine Zeit der persönlichen Auswertungen der ersten drei Monate unseres FSJ-Jahres. In den Gästezimmern des Schlosses gab es einen wunderschön gestalteten Gebetsgarten. In diesen Tagen hatte ich meinen absoluten Tiefpunkt, die Schwere und Dunkelheit der Zeit findet sich heute noch auf gemalten Bildern und im Tagebuch wieder. Ich klagte Gott an: wo war er? Ihn spürte ich schon lange nicht mehr, war wieder krank, hatte wahnsinnige Rückenschmerzen, trug eine Last, die ich nicht mehr tragen konnte. Ich erlebte Ängste, deren Grund ich nicht kannte, doch deren Macht mich fesselte und zu Fall brachten. Ich schrie zu Gott, flehte ihn an, wütete innerlich gegen ihn. Dann, eines Abends, nahm ich im Gebetsgarten das Abendmahl - und gab auf. Legte Ihm alles hin, schrie Gott an, dass er gewonnen habe, dass es mir reichte. Endlich gestand ich meine Schwäche ein.
Das war der Wendepunkt. Meine Jahreslosung für das neue Jahr, die ich kurz darauf zog, traf mich im Innersten: "Auch dich lockt er aus dem Rachen der Angst, in weiten Raum, da keine Bedrängnis mehr ist." (Hiob) Diese Verheißung zeigte mir wieder neu: Gott hat einen größeren Plan, sein Horizont, die Reichweite seiner Liebe reicht weit über mein Denken hinaus.
Anfang Januar fand im Jugendzentrum das Go-Camp statt, ich war als Mitarbeiterin dabei. Die Zeit war gut, trotz langer Tage und kurzer Nächte fühlte ich mich seit langem das erste Mal wieder besser, wir hatten viel Spaß, gute Gemeinschaft und echten Tiefgang miteinander. In einer Andacht ging es um Grenzen und langsam fing ich an zu verstehen: Ich hatte meine Grenzen und Ansprüche immer hoch gesetzt, war von mir Leistung gewohnt und hatte diese Haltung mit in die OJC genommen, nicht ahnend, wie viel Kraft Gemeinschaft kostet und nicht akzeptierend, dass es anders sein könnte.
Das Neue in mir wachsen lassen
Jetzt fing ich an, meine Grenzen bewusst zu setzen, die Ansprüche an mich herunterzuschrauben, mir Schwäche zuzugestehen. Das war ein schmerzhafter Prozess, doch gleichzeitig setzte es mich frei und auf einmal konnte ich ein "Ja" zu meiner Situation finden.
Das Bild des verlorenen Sohnes, welches im Großformat im Jugendzentrum hängt, sowie Henri Nouwens Buch "Nimm sein Bild in dein Herz", das dieses Bild beschreibt, wurden mir kostbare Wegweiser, die mich langsam wieder nach Hause zum Vater führten. Und als ich während einer Thomasmesse fühlte, in den Armen meines Vaters angekommen zu sein, wurde ein Licht in mein Herz gepflanzt, das bis heute gerade in den dunklen Stunden scheint. In meinem Aufgeben, dem Eingestehen meiner leeren Hände, erbarmte sich Gott. In meiner dunkelsten Nacht, als ich alles aufgab, sprach er mir eine Würde zu, die ich niemals erwartet hatte. Seine Gnade war spürbarer als je zuvor in meinem Leben. Und so wurde sein Sieg auch mein Sieg.
Natürlich enthielt das Jahr noch viel mehr als die zwei Monate, die ich beschrieben habe. Die Menschen, die ich kennenlernen durfte, sind Schätze für mich geworden - auch wenn es zwischen uns manchmal schwierig war und ich heute einiges anders machen würde. FSJ-Seminare, Spaziergänge, Gottesdienste, Lachkrämpfe, Begegnungen... - vielleicht war nicht immer alles perfekt, aber meine Schatztruhe ist reich gefüllt.
Aus der eigenen Leere in Gottes Fülle zu treten, ist ein Wunder und ich durfte es erleben. Deshalb kann ich sagen: Es war kein leichtes, aber ein gutes Jahr.