Marianisch leben

Reinhard Körner OCD

Das älteste erhaltene Marienbild stammt aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Es kann noch heute in Rom, in der Priscilla-Katakombe ­betrachtet werden:
Auf einem Stuhl sitzend, hält Maria in mütterlicher Zärtlichkeit ihr Kind auf den Armen – ein tausendfach im Laufe der folgenden Jahrhunderte wiederholtes Motiv, das Marias innige Beziehung zu Jesus veranschaulichen will. Bemerkenswert ist hier die dritte Person im Bild, links neben Maria und dem Kind steht ein Prophet. Die Kunsthistoriker rätseln: Ist es Bileam, ist es Jesaja? Mit einer Hand zeigt der alttestamentliche Gottesmann auf Jesus, mit der anderen auf einen Stern, der links oberhalb von Marias Haupt zu erkennen ist. Ist es Bileam, so ­legen sich der theologischen Deutung dieser Geste dessen Worte aus dem Buch Numeri (4. Mose 24,17) nahe: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht in der Nähe: Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel... Ist es Jesaja, so mag der Maler wohl an dessen Freudenruf gedacht haben: Auf, werde Licht, Jerusalem, denn es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir! (Jes 60,1) Wer von beiden es auch sei: Die römischen Christen lassen den Propheten sagen, wer auf diesem Bild die Hauptperson darstellt. Das älteste uns erhal­tene Marienbild ist ein Christusbild.
Spätere Generationen werden bei Muttergottes-Darstellungen versucht sein, zuerst oder gar ausschließlich auf Maria zu schauen. Das Kind in ihren Armen wird durch Jahrhunderte hin zur Beigabe, zum „Attribut“, das diese Frau von anderen heiligen Frauen unterscheidet und eben als die Mutter Jesu kenntlich macht.

Durch Maria zu Christus

Die Gründe, die dazu führten, sind vielschichtig. Sie sind unter anderem in einem einseitigen, zum Teil geradezu verfälschten Gottesbild zu suchen, das sich im Laufe des ersten Jahrtausends in die kirchliche Verkündigung und in die praktizierte Frömmigkeit eingeschlichen hatte. Wenn den Gläubigen Gottvater als der erzürnte oder gar beleidigte Herrscher und Jesus Christus als der gestrenge Weltenrichter vor Augen gestellt wird, wenden sie sich, gewissermaßen in einer Art innerer Notwehr, an die verständnisvollere Gottesmutter. Auf dem Weg über sie erflehen sie von ihrem Sohn Barmherzigkeit. Und wenn die männlichen Eigenschaften Gottes zu einseitig betont werden – erst Papst Johannes Paul I. hatte den Mut, spontan über den Petersplatz zu ­rufen: „Gott ist auch meine Mutter!“ –, sucht man die weiblich-mütterlichen Züge, die man bei Gott nicht zu finden meint, in der „göttlichen Mutter“.
 
Um eine solche Frömmigkeit zu korrigieren, haben tiefer schauende Beter und Theologen bereits im Mittelalter dazu angeleitet, „durch Maria zu Chri­stus“ zu gehen. Doch diese wertvolle Leitformel ­authentischer christlicher Spiritualität diente schnell wieder zur Bestätigung jener Haltung, die man mit ihr überwinden wollte. Statt der letzten beiden Worte wurden die beiden ersten betont: „durch Maria zu Christus“.
 
Wolfgang Beinert, ein Fachmann der katholischen Mariologie, schreibt dazu: „Die soteriologischen* (Soteriologie: Lehre über die Erlösung der Menschen durch ­Jesus Christus, von Soter, griech: Retter, Erlöser) Probleme der Kirche seit dem 12. Jahrhundert bis über die Reformation hinaus ... hatten eine eher unmittelbare Zuwendung zu ihrer (Marias) Persönlichkeit als der großen Fürbitterin und Mittlerin zur Folge. Damit verbunden waren dann die heute zunehmend als problematisch empfundenen Formen und Weisen der Marienfrömmigkeit, die ihrerseits auch seitens der reformatorischen Kräfte eine dezidierte Abwendung von Maria überhaupt einleiteten“ (Unsere Liebe Frau und die Frauen, Herder 1989, 139).

Und heute?

Wann immer wir darauf zu sprechen kommen, beim Einkehrtag eines Pfarrgemeinderates, im ­Gesprächskreis eines Bibelseminars oder am Schluß eines Besinnungswochenendes: das Thema Ma­rien­frömmigkeit sorgt für Diskussionsstoff. Nicht selten kristallisieren sich schnell die Positionen heraus: die Verehrer der Muttergottes von Fatima auf der einen Seite, die Kritiker im Namen der Frauenrechte auf der anderen, dazwischen die Liebhaber der „schönen alten Marienlieder“, die stillen und die streit­baren Vertreter marianisch geprägter Bewegungen und Gemeinschaften; dazu all diejenigen, (sie kommen in einer so zusammengesetzten Runde meist am wenigsten zum Zuge), die nach einer ausgewogenen, für sie vollziehbaren Marienfrömmigkeit noch suchen. Erwartungsvoll richten sich dann die Blicke auf den Pater, der doch einem „Marien­orden“ angehört und wohl die klärenden Worte ­finden wird. Nun, die von manchen erhoffte Be­stätigung ihrer Position von der geistlichen Tradition des Karmel her kann ich nicht immer geben, aber ein paar Orientierungshilfen anbieten, das schon.
Es sind vor allem zwei Grundzüge, die sich dies­bezüglich durch die Geschichte des Karmel ziehen. Der erste läßt sich auf die Formel bringen:

Mit Maria und wie Maria in der Gegenwart Gottes leben

Schon sehr früh erzählt man sich im Karmeliten­orden die Legende, nach dem Pfingstereignis sei Maria ins Karmelgebirge geeilt und bei den Karmeliten eingetreten. Später stellt man sie – vor allem in Spanien – gern im Ordensgewand des Karmel dar. Maria ist eine von uns, will man damit sagen; wir leben mit ihr und sie lebt mit uns.
Die ersten Eremiten im Karmelgebirge errichten ­eine kleine Marienkirche inmitten ihrer Einsiede­leien, sie nennen Maria ihre „Patronin“, bald aber auch – wie schon einige Theologen der Kirchen­väterzeit – ihre „Schwester“. An Maria wollen sie ablesen, wie man sich der Wirklichkeit Gottes öffnen und in der bleibenden Verbundenheit mit ihm leben kann. Mit Maria und wie Maria stehen sie vor Gott. Das Skapulier (Überwurf über das Ordensgewand) ihrer Ordenstracht, das bald auch Gläubige unterschiedlicher Berufe und Stände tragen möchten, wird zum Zeichen dieses Lebens in der Glaubenshaltung Marias.
Teresa von Ávila sah in Maria, wie die Evangelien sie zeichnen, vor allem ein Vorbild in der Demut (Weg der Vollkommenheit 19,3); das heißt nach ­ihrem Verständnis dieser Tugend: ein Vorbild in der Einfachheit, Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit. Und hätte sie ihre Absicht verwirklicht, „etwas dazu zu sagen, wie ihr das Ave Maria beten sollt“ (ebd. 73,2), dann hätte sie, ähnlich wie anhand des ­Vaterunsers, über den Weg des Inneren Betens gesprochen. Johannes vom Kreuz fand in Maria verwirklicht, was ihm als die christliche Art, das Leben zu leben, für alle Menschen vor Augen stand: Sie ist die mit dem verborgen-gegenwärtigen Gott ­„Vereinte“, die im Vertrauen auf ihn und in innerer Beziehung zu ihm durchs Leben geht (Aufstieg III 2,10).

Die wirkliche Maria

In einer Zeit, da die Marienfrömmigkeit unter dem Einfluß des Jansenismus*** gar sonderbare Blüten treibt, schreibt Thérèse von Lisieux: „Wie gern wäre ich Priester geworden, um über die Jungfrau Maria zu predigen ... Zunächst hätte ich gezeigt, wie ­wenig das Leben der hl. Jungfrau bekannt ist. Man sollte von ihr keine unwahrscheinlichen Dinge ­sagen, Dinge, über die man nicht genau Bescheid weiß.“ Die wirkliche Maria interessiert sie: „Damit eine Predigt über die hl. Jungfrau fruchtet, muß sie ihr wirkliches Leben darstellen, so wie das Evangelium es durchblicken läßt, und nicht, wie man es sich ausdenkt. Man errät leicht, daß ihr wirkliches Leben in Nazaret und später nur ganz einfach verlaufen konnte.“
 
Auch Thérèse will sagen: Maria ist eine von uns. Kritisch sagt sie Predigern und Marienverehrern von damals und heute: „Man stellt die hl. Jungfrau oft als unnahbar dar. Man sollte jedoch zeigen, daß sie nachahmbar ist und die verborgenen Tugenden ­übte; man sollte sagen, daß sie – wie wir – aus dem Glauben lebte; man sollte dafür Beweise aus dem Evangelium bringen, wo wir lesen: ,Sie verstanden nicht, was er ihnen sagte‘ (Lk 2,50), oder auch: ,Sein Vater und seine Mutter waren verwundert über das, was man über ihn sagte‘ (Lk 2,33). Diese Verwunderung läßt doch auf ein gewisses Erstaunen schließen.“
 
Und Thérèse mahnt: „Es ist schon richtig, von ihren Vorrechten zu sprechen; aber man darf sich nicht darauf beschränken. Man muß dafür Sorge tragen, daß sie geliebt wird. Wenn man durch eine Predigt über die hl. Jungfrau gezwungen wird, von Anfang bis Ende innerlich ,Oh! Oh!‘ zu rufen, dann fühlt man sich gelangweilt, und das fördert die Liebe und Nachahmung keineswegs.“
 
Mit Maria wie Maria vor Gott, in herzlicher Liebe und Zugeneigtheit und doch nüchtern, ohne Übertreibungen und sich fromm gebende Ungereimt­heiten: das ist die Art, wie die Väter des Karmel und die geistlichen Vorbilder dieses „Marienordens“ ­ihre Marienfrömmigkeit praktizieren wollten.
 
Einen zweiten Grundzug der marianischen Spiri­tualität des Karmel möchte ich, im bewußten ­Kontrast zu der doch zumindest sehr mißverständ­lichen Formel „durch Maria zu Christus“, so zusammenfassen:

Durch Christus zu Maria

Bei den Heiligen des Karmel läßt sich eine interessante Feststellung machen: In ihren Schriften, selbst in den Briefen und persönlichen Aufzeichnungen, kommt Maria kaum vor! Im Gesamtwerk Teresas von Ávila ist von ihr nur an zehn Stellen ausdrücklich die Rede. Bei Johannes vom Kreuz zähle ich dreizehn, wobei elfmal lediglich ihr Name erwähnt ist. Zu den bei Thérèse von Lisieux schon zitierten Sätzen kommen nur noch wenige hinzu.
Bei Elisabeth von Dijon findet sich ebenfalls nicht viel und bei Edith Stein sucht man, von kurzen ­Erwähnungen abgesehen, erst recht vergebens. Nachdenklich mag auch stimmen, daß ein Bezug auf Maria in der ersten Ordensregel, dem ältesten geistlichen Dokument des Karmel, das der Bischof von Jerusalem für die Eremitengemeinschaft niederschrieb, gänzlich fehlt.
 
Nach meiner Kenntnis der Ordensheiligen kann dies nur so gedeutet werden: Unsere Väter und die großen geistlichen Lehrer der Kirche, die aus dem Karmel hervorgegangen sind, leben christozentrisch und theozentrisch. Das heißt: Christus und der dreifaltige Gott stehen im Mittelpunkt ihrer Spiritualität. Jesus Christus, der Vater und der Heilige Geist sind die inneren „Ansprechpartner“ ihres Betens. Ob ­Teresa, Johannes vom Kreuz, Thérèse oder Edith Stein – Maria gehört zu ihrem Leben; das zeigen sehr konkret ihre Biografien. Doch sie müssen nicht erst „durch Maria zu Christus“ gehen. Sie haben im Mensch gewordenen Jesus Christus einen Gott ­kennengelernt, dem sie sich direkt anvertrauen können, ohne den Umweg über Maria nehmen und ohne um die Vermittlung der „verständnisvolleren Mutter“ bitten zu müssen. Dies schlägt sich dann entsprechend in ihren geistlichen Aufzeichnungen nieder. Da sie andere Menschen ebenfalls zu dieser christozentrischen Lebensweise hinführen wollen, finden Maria und die Marienfrömmigkeit in ihren Briefen und Lehrschriften relativ selten, und dann nur knapp, Erwähnung.
 
Durch ihr christozentrisches und theozentrisches Leben aber finden die Karmelheiligen auch zu ­Maria. Wer sich um den wirklichen, den biblischen Jesus Christus bemüht, der kann an dessen Mutter nicht vorbei! Mein Mitbruder Ulrich Dobhan, ein guter Kenner der Spiritualität Teresas, faßt deren Marienfrömmigkeit in dem Satz zusammen: „Maria ist die Mutter meines Freundes“. Teresas „erster“ Partner des Herzens bleibt Christus, aber gerade deshalb bleibt ihr auch Maria wichtig. Doch Maria darf so die Glaubende bleiben, die – wie wir! – ­fragen mußte, erschrecken konnte und manchmal nicht verstand ...; sie darf dann, wie das Zweite ­Vatikanische Konzil uns lehrt, „den Pilgerweg des Glaubens“ gehen und das „Urbild der Kirche“ sein (Über die Kirche, Nr. 8).
 
Maria, die Mutter meines Freundes, ist dann meine Schwester – und die Schwester aller Glaubenden. Unter den beiden Texten, in denen Johannes vom Kreuz ausdrücklich von Maria spricht, ist dieses kleine, vierzeilige Gedicht (Poesien 21):
 
Von göttlichem Wort
schwanger die Magd
kommt des Wegs:
Gebt ihr doch Herberge!
 
Die zweite Textstelle verweist auf Marias Vorbild im Glaubensleben. Juan erklärt hier an einer Begebenheit aus ihrem Leben, was er unter der rechten Art des Bittgebetes versteht: „Der geistliche Mensch ­beschränkt sich darauf, dem Geliebten seine Not und Qual vorzustellen; denn wer besonnen liebt, wird nur auf seine Bedürftigkeit hinweisen, anstatt das Gewünschte zu erbitten. So bleibt die Art und Weise der Abhilfe dem Geliebten überlassen. So sagte die gesegnete Jungfrau auf der Hochzeit (zu Kana) nur dies zu ihrem geliebten Sohn: ,Sie haben keinen Wein mehr.’“ (Geistl. Gesang 2,8).
Diese Erklärung spricht für sich. Wieder einmal ­versucht Pater Johannes vom Kreuz – er hatte wohl allen Grund dazu – einem zu oberflächlichen, letztlich noch zu egoistischen Umgang mit Gott den Spiegel vor die Augen zu halten. Am Beispiel Marias zeigt er, was Jesus wirklich gemeint hatte, als er den Jüngern sagte: „Bittet, und ihr werdet empfangen!“ (Joh 16,24): Sag mir deine Not und die Not deiner Mitmenschen – aber schreib mir nicht vor, was ich dann tun soll; vertrau mir, daß ich besser weiß, was die Not wendet, bleib offen für meine Art, deiner Not zu entsprechen.
 
Der Karmel ist nicht der Orden einer „besonderen“ oder besonders stark ausgeprägten Marienverehrung. Er ist ein Orden des marianischen Lebens. Die Lehrmeister und -meisterinnen der karmelita­nischen Spiritualität haben an Maria gezeigt, was Glauben ist: mehr als das bloße Überzeugtsein von der christlichen Weltanschauung, mehr als Kirchenmitgliedschaft, mehr als einen Arbeitsvertrag im kirchlichen Dienst haben oder zu einem geistlichen Amt geweiht sein, mehr als ein Einhalten kirch­licher Vorschriften und religiöser Gebräuche, ­sondern vertrauendes und vertrautes Miteinander zwischen Gott und Mensch – wie und mit Maria, der „Mutter meines Freundes“.

Aus: Karmel Impuls 2005/4

P. Dr. Reinhard Körner, OCD lebt und arbeitet im Karmel/Kloster St. Teresa in Birkenwerder bei Berlin (www.karmel-birkenwerder.de).

Von

  • Reinhard Körner

    Dr., ist Priester, Prior und Exerzitienleiter im Karmelitenkloster Birkenwerder. Er war sieben Jahre geistlicher Begleiter der OJC-Kommunität.

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