Tagebuchaufzeichnungen
Aus dem Ungarischen von Gisella und Sandra Hemmer,
Hemmer Verlag, Frankenthal 1999
Ich habe keine richtigen Fußspuren! Heute konnte ich es auf dem Saatboden im Hof sehen. Ich bin total verbittert. Die Taube hat Vogel-Fußspuren, Berta hat Hunde-Fußspuren, nur ich habe keine Menschen-Fußspuren. Verglichen mit anderen gesunden Fußspuren ähneln meine den Spuren irgendeines außerirdischen Lebewesens. Obendrein auch noch unregelmäßig. Auf der linken Seite ein Streifen, auf der rechten eine Knödelform – und sie wiederholen sich hinter mir im Schnee: Streifenknödli, Streifenknödli, Streifenknödli. (29. 12. 1985) Zoltán, der diese Worte in seine Schreibmaschine hackt, – das Sprechen fällt ihm seit dem verhängnisvollen Unfall immer noch schwer –, ist gerade mal sechzehn Jahre alt. Seit jener Trabant ihn erfasst hat, seit er 5 Meter durch die Luft und in ein vierwöchiges Koma geschleudert wurde, kann er fast nichts mehr. Alles muss er neu lernen, muss ringen um jede Bewegung des Nackens, um jeden Laut in der Kehle, um jede Geste mit der linken Hand – die Rechte tut’s gar nicht mehr. Schlimmer noch als die körperlichen Schmerzen wiegt die beklemmende Erfahrung, nicht mehr als er selbst wahrgenommen zu werden, sondern als „das arme Kind“, „der Krüppel“ oder gar, „der Idiot“. Doch statt zu resignieren schwingt Zoltán sich in die Offensive. Zunächst mithilfe der „Tafel“, einem kleinen Alphabet, auf dem er seine Botschaften buchstabiert, dann auf der Schreibmaschine, die er geschenkt bekommt, zeigt, weist und klappert er sich in Kontakt. Und das nicht nur mit den Eltern und dem kleinen Bruder, nicht nur mit dem Pflegepersonal in der Reha, nicht nur mit engen Freunden; Zoltán Zemlényi, der Budapester Gymnasiast, klappert sich in das Herz der gesamten Nation. Die mit einem Finger getippte Blättersammlung „Hopparesimi DIARY“, in der er mit ungebrochener Lebensfreude, verblüffender Ehrlichkeit und einem erfrischenden Humor die Freuden und Widrigkeiten eines von 1000 Handikaps aufgemischten Teenageralltags beschreibt, wird entdeckt, in hoher Auflage gedruckt und ist innerhalb von wenigen Wochen vergriffen. Die folgenden Auflagen ebenso. Nach wenigen Monaten kommt seine Lebensgeschichte auf die Bühne – alle Vorstellungen sind ausverkauft. Bald kennt jeder den „ZZ““ (sprich SeSe), sein Tagebuch ist inzwischen Pflichtlektüre an den Schulen des Landes – aber das nur nebenbei, denn von der traumhaft steilen Karriere lässt das Buch noch nichts erkennen. Das Nonsenswort „Hopparesimi“ ist ein Kürzel des latinisierenden Zungenbrechers „Hopparesimiserare“, aus dem man unschwer den Begriff „Misere“ heraushört. Im Tagebuch wird diese verballhornte Misere zum sprachlichen Stolperstein in den Unwegsamkeiten, die ein körperlich schwerstbehinderter Heranwachsender täglich zu meistern hat. „ZZ“ möchte nicht nur wieder gehen und sprechen können – das natürlich auch, und mit eisernem Willen arbeitet er diesem Ziel entgegen. Nein, er denkt viel größer von seinen Möglichkeiten. Er sehnt sich nach dem Abenteuer, nach der wahren Freundschaft, nach der großen Liebe und vor allem danach, sich selber auf die Spur zu kommen – auf die einzigartige, unverwechselbare und EIGENE Spur. Nach wenigen Seiten ahnen wir es: sein Wunsch ist nicht zu hoch gegriffen. Mit schöpferischem Wortwitz formt der nahezu „Verstummte“ eine eigene Sprache und zieht so den Leser in einen lebhaften Dialog über seine Erlebnisse und Gedanken. Die sensible Übersetzung aus dem Ungarischen eröffnet auch dem deutschen Leser die Welt der Jugend im Budapest der 80er Jahre. Zemlényi, inzwischen selbst zweifacher Vater, ist in diesem ungewöhnlichen Jugendwerk nicht nur sich selbst auf die Spur gekommen, hat nicht nur unauslöschliche Spuren im Gedächtnis seiner Generation hinterlassen; er legt auch eine Spur der Hoffnung und der Zuversicht für alle, die sich – wie er – nicht von dem, was oft als „tragisches Schicksal“ bejammert wird, unterkriegen lassen wollen. Írisz Sipos
Jede Ausgabe dieser Zeitschrift können Sie kostenfrei bestellen. Bitte mailen Sie, falls vorhanden gerne mit Ihrer Freundesnummer, an versand@ojc.de oder rufen Sie an: 06164-9308-320.
Auch künftige Ausgaben von Brennpunkt Seelsorge (erscheint zweimal im Jahr) senden wir Ihnen gerne zu. Sie können unsere Zeitschriften gerne kostenfrei hier abonnieren.
Helfen Sie uns mit Ihrer Spende, christliche Werte und eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Strömungen der Zeit auf der Grundlage des Evangeliums an nachfolgende Generationen zu vermitteln.