Freundschaft - Ort des lebendigen Hauches

Gemeinschaft mit Behinderten als christlicher Auftrag

Ein Interview mit Jean Vanier, dem Gründer Der Arche, im Briery-Centre (UK) im Oktober 2005

„Jesus begegnen in den Armen und Benachteiligten“– so lautet der Titel Ihres Vortrags in Leed. Was wird die Stoßrichtung Ihrer Rede sein?
 
Ich glaube, wir kommen dem Geheimnis von echtem Mitgefühl und Anteilnahme an den Nöten der Zerbrochenen und Armen erst auf die Spur, wenn wir bereit sind, uns selbst zu verändern.
Unsere Kultur ist auf Erfolg und Aufstieg ausgerichtet. Wir müssen uns behaupten, wir müssen Erfolg haben, um Anerkennung zu ernten. Eine Begegnung mit den Armen hingegen ist nur auf Augen­höhe möglich: von Mensch zu Mensch. Mit Großzügigkeit allein ist es nicht getan. Von oben herab einem Bedürftigen geben – das erzeugt eine tiefe Kluft. Wir müssen unsere Vormachtstellung auf­geben und die Leiter, an der wir uns sonst immer hinaufarbeiten, auch mal hinabsteigen.
Das ist nicht leicht. Es ist sicher viel leichter, sich für Gerechtigkeit in der Welt stark zu machen, Menschen zum Spenden zu animieren. Sie geben gerne ihr Geld – aber geben sie auch ihr Herz? Und was ist mit dem Lebensstil? Wer ist schon bereit, zu verzichten, sich zu verändern? Aber wie soll sich dann überhaupt etwas ändern?
Ich fürchte fast, dass mein Vortrag viele entmutigen wird.

Wozu möchten Sie denn ermutigen?
 
Wissen Sie, ich wünschte mir, jeder würde erkennen, dass uns Jesus Christus dazu einlädt, unseren Panzer abzulegen und uns vor den Armen verletzbar zu zeigen.

Wo wird diese Verletzlichkeit sichtbar?
 
In der Freundschaft. Da ist zum Beispiel die junge Frau, die im Altersheim arbeitet. Unter den Patien­ten ist eine ziemlich unausstehliche, aggressive Frau. Die anderen Pflegerinnen weigern sich, sie zu füttern, weil sie nur schimpft und zetert. Die junge Frau beschließt, ihre Freundin zu werden und sie zu ‚zähmen’. Das tut sie auch. Der Haken an der Sache ist: Wenn du jemanden zähmst, stellst du ­eine Bindung her. Und ist einmal eine Bindung entstanden, kannst du sie nicht einfach so auflösen, ohne dem anderen wehzutun!
Ich bin gewiss, wenn jeder auch nur einem behinderten Menschen seine Freundschaft anböte, würde sich enorm viel ändern. Das ist nicht nur was für Spezialisten wie Priester oder besonders Fromme, sondern die Essenz der Frohen Botschaft: vor dem Kirchgang einen Behinderten besuchen! Das macht uns verletzbar, das liefert uns aus: Sie rufen uns vielleicht an, sie fordern unsere Aufmerksamkeit, auch wenn wir lieber fernsehen würden...

Sie meinen, diese Botschaft würde Ängste wecken?
 
Angst wäre zu viel gesagt, „Beunruhigung“ trifft es eher. Wir alle wollen doch Sicherheit. Wir wollen Freunde, die uns das Gefühl von Sicherheit vermitteln, wir wollen eine Religion, die uns Sicherheit gibt, wir wollen eine politische Regierung, die uns Sicherheit garantiert, die zwar Veränderung verspricht, aber immer die Veränderung zum Besseren: mehr Geld, mehr Schutz. Alles andere ist bedrohlich. Deshalb hat man Jesus umgebracht – er war bedrohlich. Auch wir wollen unser Bild von Jesus immer so umgestalten, dass es erträglich wird und uns in unserem Tun bestärkt und beschenkt. Und ­irgendwie wollen wir dasselbe auch mit der Kirche.

Welchen praktischen Vorteil hätten die Armen und Benachteiligten, wenn die Reichen und Gesunden sich dieses Anliegen zueigen machen würden?
 
Nun, wenn wir nach der Effizienz fragen, dann ­habe ich keine Antwort, denn die lässt sich nicht kalkulieren. Genau in dieser Berechnung liegt ein Grundproblem unserer westlichen Zivilisation: „Wenn ich das tue – was habe ich davon?“ Es lässt sich eben nicht abschätzen.
Wir können doch gar nichts voraussagen. Alles Mögliche kann passieren, vom sprichwörtlichen Ausrutschen auf der Bananenschale, über den plötzlichen Unfall bis hin zur explodierenden Bombe. Handeln müssen wir nicht nach den Gesetzen der Effizienz, sondern nach dem Gesetz der Wahrheit. Wir können die Folgen der Wahrheit auch nicht abschätzen, außer, dass sie immer irritiert. Was Jesus auch tat, es rief Irritation hervor, obwohl er eine so wunderbare Vision hatte. Die Hauptvi­sion seiner Jünger war es, die Römer loszuwerden.
 Jesus ging es um anderes, er dachte umfassend, er dachte mit Liebe an die Römer und an die Griechen, an die Sklaven und an alle.
Es dauerte ziemlich lange, bis seine Nachfolger das verstanden haben. Viele haben es nie kapiert, das beweist der Zwist zwischen Judenchristen und Griechen. Sie war schon damals schwer zu erringen, die Ökumene!

Kann es sein, dass die Reichen und Mächtigen sich mit Ihrer Idee schwerer tun als der Durchschnittsmensch?
 
Das weiß ich nicht... wirklich nicht. Könnte so sein, muss aber nicht. Jean Lanier, zum Beispiel, der Vorsitzende unserer Stiftung, ist ein wohlhabender Mann mit einem schönen Wohnsitz. Er nimmt ­jedes Wochenende einen Schwerbehinderten mit zu sich nach Hause. Wenn er zum Dinner eingeladen wird, fragt er: „Darf ich einen Freund mitbringen?“, und wenn man einverstanden ist, kommt er mit einem behinderten Freund, der auch mal ein bisschen schwierig ist, sich nicht benehmen kann. Das kann er sich leisten. Leute im Mittelfeld wollen meist ­höher hinaus; wer oben ist, will das gar nicht mehr.

Ist es nicht gerade dann schwierig, weil man das, was man erreicht hat, nicht gefährden möchte?
 
Die Frage aller Fragen ist, „Was werden meine Freunde sagen?“ Man könnte kritisiert werden, im Club, am Stammtisch. Da werden sie fragen: „Was soll das Getue?“ „Was denkst du, wer du bist?“ ­Jedes menschliche Wesen ist eingebunden in ein Netz von Beziehungen, Freundschaften. Dieses Netz gibt ihm Sicherheit und setzt ihm seine Grenzen. Wir definieren uns über unseren Freundeskreis: wir haben die gleichen Ziele, Werte. Wir sind verschwistert. Geschwisterschaft ist sehr schön, ­zuweilen aber auch ziemlich furchterregend. Jede Abweichung von der Gruppe ruft Angst hervor.

In den letzten vierzig Jahren hat sich viel in der Einstellung zu geistig behinderten Menschen verändert. Sie werden nicht mehr in großen Anstalten untergebracht. Meinen Sie, dass Ihre Arbeit zu diesem Wandel in der Einstellung beigetragen hat?
 
Die Gründe für diese Veränderung sind zwiespältig. Früher fand ich, wenn ich eine Anstalt besuchte, 100 bis 200 Betreute dort. Heute nicht mehr.
Nur: Wo sind sie heute? Lassen Sie mich etwas Schockierendes sagen: Sie sind auf den Müllhalden, denn ein großer Teil von ihnen wird abgetrieben. Eltern wollen keine behinderten Kinder, daher steigt die Zahl der Abtreibungs- und Euthanasie­fälle. In Frankreich und soviel ich weiß in England ist es bis zum letzten Augenblick vor der Geburt ­erlaubt, sich der behinderten Kinder zu entledigen. Der Angriff auf die Behinderten ist also brutaler ­geworden.
Anderseits ist eine neue Offenheit ihnen gegenüber zu vermerken. Es gibt zahlreiche Integrationsschulen, Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Allerdings ­erzeugt diese neue Offenheit und die Präsenz der Behinderten wiederum neue Angst. Wenn man junge Mädchen fragt, 15-16jährige – gut katholisch, gute Christen – werden viele sagen: „Wenn ich merke, dass ich ein Monster in mir trage, sehe ich zu, dass ich es los werde.“
Um ein behindertes Kind zu akzeptieren und zu ­integrieren, muss eine Familie gewisse Bedingungen erfüllen. Ein absolutes Minimum wäre, dass Mann und Frau zusammenleben. Wenn nicht, wie soll’s dann gehen? Wie soll in einer Ehe, die nur wenige Jahre hält, ein Kind mit Behinderung willkommen sein?
Toleranz allein genügt nicht. Wir brauchen Freundschaften, gemeinsam erlebte Freude. Das ist nicht einfach, aber unabdingbar. Die Arche oder auch Faith&Light (Glaube und Licht) sind aus der Idee der Freundschaft entstanden. Sie ist die Voraussetzung für Zugehörigkeit und für das Gefühl: Hier könnte ich bleiben. Das ist ein hochgestecktes Ziel, das wir nicht immer erreichen, denn wir sind auch nur Menschen.

Was hat sich in den vierzig Jahren Arche verändert und was wünschen Sie Der Arche im neuen Jahrtausend?
 
Es geht um das Verhältnis von Charisma und Kultur, von Charisma und Struktur.
Die Freundschaft mit Behinderten ist ein Charisma. Es muss nicht unbedingt ein enges Zusammenleben sein, aber es muss Gemeinschaft entstehen. Jedem Charisma geht ein Verzicht voraus. Wir bekommen es, wenn wir auf etwas anderes verzichten. Liebe zu Behinderten wird nur dort geschenkt, wo wir ­einen Verlust in Kauf nehmen – was immer es sei.
Zu Beginn waren Idee und Verwirklichung in Der Arche eins. Inzwischen ist die Idee über diese Orte hinausgewachsen. Sie wird in Der Arche, in Faith&Light oder anderswo verwirklicht. Von daher ist es unerheblich, wie es mit Der Arche weitergeht. Wichtig ist, dass die Botschaft weitergeht: dass wir gerade durch jene Heilung erfahren, die wir abweisen. Wenn es bis zur Gesellschaft durchdringt, dass uns die Freundschaft mit den Ausgestoßenen heilt, dann steht es gut mit uns und mit Der Arche.
Wenn wir das Charisma jedoch auf eine 35-Stundenwoche reduzieren, sind wir in Gefahr. Damit wäre die Organisation korrumpiert.
Die entscheidende Frage für die Zukunft Der Arche lautet: Wie können wir das Charisma der Freundschaft bewahren? Ich glaube, durch Spiritualität. Im Französischen verwende ich den Begriff souffle, Atem – der Hauch, der uns vorwärts weht, uns am Leben erhält. Wenn wir diesen Atem wahrnehmen, entdecken wir, dass er auch in anderen weht. Das ist das Mysterium von Kirche: sie ist der Ort des ­lebendigen Hauches.
Wenn wir das Geheimnis entdecken, sehen wir, dass sich viele andere an anderen Orten für das gleiche einsetzen: vielleicht in Gefängnissen, vielleicht auf der Straße – aber es ist immer der gleiche Hauch. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Strukturen nicht zu Mauern werden, die den Hauch nicht durchlassen.

Für welche Botschaft stehen Die Arche und Faith&Light in der Kirche von heute ein?
 
Ist es nicht gewissermaßen pervers, dass Menschen zur Eucharistiefeier gehen, ohne Freundschaft zu schließen mit denen, die ganz unten sind? Wir müssen auf diese Perversion hinweisen und sie ­benennen.
Eucharistie handelt von Gegenwart, nicht von Aktivität. Es macht uns das Heilige zugänglich. Ebenso müssen wir zugänglich werden für die Bedürftigen. Wie können wir die „wahre Gegenwart“ für Behinderte begreifbar machen, wenn wir selbst nicht greifbar sind? Wir bekommen doch Anteil an der wahren Gegenwart Jesu, um selbst wahrhaftig ­gegenwärtig sein zu können für die Schwachen! Wenn das nicht geschieht, dann feiern wir nicht die Gegenwart Christi, sondern irgendein religiöses ­Ereignis.
Unsere Kultur krankt daran, dass sie Menschen ­immer gleich gesund machen und verändern will. Dabei geht es doch vor allem darum, mit ihnen zu gehen. Das will Die Arche. Wir heilen niemanden; wir trösten, wir gehen mit – und mit Menschen mitzugehen, kann auch sehr schmerzhaft sein. Das nehmen wir in kauf. 

Von

  • Jean Vanier

    Dr. phil., Philosoph und Theologe, ist Gründer der „Arche“, einer internationalen ökumenischen Organisation, in der Menschen mit und ohne geistige Behinderung zusammenleben. In der von ihm mitgegründeten Bewegung „Glaube und Licht“ treffen sich Behinderte mit Freunden und Verwandten zu regelmäßigen Austausch, Gebet und Feiern. Von den 135 Archen weltweit sind drei in Deutschland (Tecklenburg, Ravensburg und Landsberg am Lech).

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