Das Wagnis, das sich lohnte

Eine ungewöhnliche Konfirmation in der DDR der 80er

Andrea Stein

Kürzlich besuchte ich die schwerkranke Frau S. im Heim. Sie ist 75 Jahre alt. Im Gespräch stellten wir fest, dass wir uns genau 25 Jahre kennen. Eine lange Zeit. Wir lernten uns kennen über meine Arbeit und ihren Sohn. Ich begann vor 26 Jahren in unserem Kirchenkreis mit einem Angebot der ambulanten Arbeit mit Familien, in deren Mitte ein Mensch mit geistiger Behinderung lebt. Diese Stelle wurde auf Anregung des Diakonischen Werkes geschaffen, klare Vorstellungen vom Aufgabenfeld gab es aber nicht.
Ich wollte den betroffenen Familien etwas anbieten, was aber genau, das sollten mir die Familien bei den Besuchen deutlich machen. Mit dem Kirchenkreis Stralsund startete ich zudem ein Expe­riment und übernahm den Schwerhörigenkreis und den Blindenkreis von der vormaligen Gemeindeschwester, die diese Gruppen so ­geführt hatte, deren Stelle aber nicht mehr ­besetzt werden konnte.
 
Ja, das war ein Wagnis, das sich nicht nur aus meiner Sicht gelohnt hatte. Frau S. schwärmt noch immer von dieser Zeit, in der wir gemeinsam in Stralsund versuchten, etwas zu gestalten – trotz der Hürden und Unsicherheiten.
Ich war ausgebildet für die Arbeit mit Menschen, die eine geistige Behinderung haben. Diese Arbeit war mir sehr wichtig geworden. Und ich hatte eine kirchliche Ausbildung erhalten, die mir sehr viel für mein Leben mitgab. Im stationären Bereich wollte ich nicht mehr arbeiten, weil ich wusste, dass es viele Familien gab, die ihre Kinder – manche waren schon erwachsen – zu Hause betreuten. Hier wollte ich für die Eltern und deren Kinder Unterstützung anbieten und ihnen vielleicht auch beim Prozess der Ablösung behilflich sein.

Feste darf man feiern

So wuchs sie, die kleine Gruppe der (meist) Mütter mit ihren oft schon größeren Kindern. Wir trafen uns im Gemeindehaus und durften da alles nutzen und auch laut sein. Der Superintendent, der im Haus lebte und arbeitete, sah es anfangs mit ­gemischten Gefühlen, fand es aber immer schöner, wenn etwas los war und konnte immer besser ­damit umgehen, wenn Alex auf ihn zuging und fragte, ob er denn auch schon den Garten umgegraben hätte… Sicher, wir feierten gemeinsam die Feste des Kirchenjahres und ich bot immer auch für die Eltern Andachten o. ä. an, aber wir blieben doch mehr oder weniger unter uns. Welche Gemeinde kann schon einen ganzen Trupp lebhafter oder manchmal überraschend reagierender Menschen ertragen?
Bei den Gesprächen mit Eltern wurde eine Idee ­geboren. Eine Mutter sagte, sie sei froh, dass ihre Tochter getauft wurde. Wenigstens das eine Fest hätten sie mit der Gemeinde feiern können. Die ­anderen, wie Konfirmation und Hochzeit, die Gleichaltrige erleben würden, kämen für geistig behinderte Kinder ja nicht in Frage. Das machte mich nachdenklich. Warum, fragte ich mich, sollte ein Jugendlicher nicht auch dann konfirmiert werden, wenn er geistig behindert ist? Das kann doch nicht daran liegen, dass er nicht in der Lage ist, etwas auswendig zu lernen? Ich sprach auch andere ­Eltern darauf an und fand zwei weitere Elternpaare, die sich auch eine Konfirmation ihres Kindes wünschten. Andere konnten sich das nicht so recht vorstellen, waren aber nicht abgeneigt und wollten – zunächst – lieber abwarten.
 
So begann ich also, die Frage der Konfirmation für die drei Jugendlichen zu klären. Materialien gab es über das Diakonische Werk. Bereitschaft fand ich bei einem Pfarrer des Kirchenkreises, dem ich zu­sicherte, ich würde die Vorbereitung in Form eines Konfirmandenunterrichts schwerpunktmäßig übernehmen. In den Behindertengruppen wuchs das ­Interesse an dem Projekt.

Glauben kann man be-greifen

Ort und Ablauf der Konfirmation mussten wohlüberlegt sein, denn wir waren ja nicht in einer Gemeinde zu Hause, sondern kamen aus verschiedenen Gemeinden der Stadt und der Umgebung. Viele gehörten keiner Kirche an, waren aber offen und erkundigten sich immer wieder. Sie fühlten sich wohl in unserer Gruppe, aber fremd und un­sicher in den Ortsgemeinden. Schließlich boten wir die Konfirmation in einer der großen Backsteinkirchen der Innenstadt an. Das gab Anlass, über das Thema Kirche zu diskutieren. Viele Fragen tauchten auf: Wozu gibt es eigentlich Kirchen? Warum treffen sich dort sonntags und auch an anderen Tagen Menschen? Was passiert in einem Gottesdienst? Viele Themen, die ich behindertengerecht aufgearbeitet habe, konnte ich mit Bildern und Liedern veranschaulichen. Vor Ort haben wir den Kirchraume erkundet, angesehen, angefasst und bestaunt. Pfarrer Lange war von den Fragen und Bemerkungen der Konfirmanden überrascht. Diese ­ihrerseits  genossen es, im Mittelpunkt zu stehen und zu spüren, das hier etwas ganz Besonderes passiert – und das hat mit ihnen zu tun, und mit Kirche. Die Kirche war nun etwas Sichtbares, was sie be-greifen konnten. Gott war ihnen so schwer verständlich gewesen, weil er nicht zu begreifen war. Auf diese neue Weise konnten wir ihnen etwas über den Glauben vermitteln, wenn scheinbar auch nicht viel. Aber was heißt schon „viel“? Wie viel ist zu vermitteln? Wer kann das festlegen? Können wir überhaupt wissen, was Menschen mit geistiger Behinderung aufnehmen und wahrnehmen können?
 
Alex* war 20 und noch nicht getauft – seine ­Geschwister wohl. Wir gingen mit ihm auf die ­Bedeutung der Taufe ein und er verstand, dass er nun die Taufe empfangen würde wie seine Schwe­ster und sein Bruder, deren Konfirmation bevorstand. Janine war 16 Jahre alt. Sie war begeistert und ihre Mutter sehr froh über diese Entscheidung. Helmut war mit 27 der Älteste in der Runde, aber das machte ja nichts. Für ihn, der meist gehemmt und zurückhaltend war, war es ein sehr bedeutendes Ereignis. Dass es diesmal um ihn ging, dass er im Mittelpunkt stand, hat sein Selbstbewusstsein sehr gestärkt.

Zugehörigkeit wird uns tragen

Die Eltern von Helmut und auch von Alex leben nicht mehr. Die beiden Männer wohnen heute Tür an Tür in einer Einrichtung und gehen, wann immer ich sie besuche, freundlich miteinander um. Wenn ich sie fragen würde, was sie noch von ihrer Konfirmation wissen, würden sie mir bestimmt eine Jahres­zahl nennen, die nicht so ganz stimmt – aber da rechnen wir ja auch nach, oder? Ort und Pfarrer würden sie aber richtig nennen, und dass es ein ganz besonderer und schöner Tag für sie war, das würden sie mit Sicherheit sagen. Sie wissen auch, dass sie zur Kirche gehören – „zu Gott“, würden sie vielleicht sagen, aber das weiß ich nicht bestimmt. Kein anderes Fest außer den jährlich wiederkehrenden Geburtstagen haben sie so gut in Erinnerung behalten. Denn die Konfirmation hatte mit ihnen zu tun und mit der Kirche.
 
Ich denke, es war eine gute Entscheidung vor 20 Jahren, in Rahmen der Möglichkeiten der DDR–Zeit ein solches Zeichen zu setzen: was die Eltern betrifft, die ihre Kinder unter so widrigen Umständen begleiten und vor allem, was die Kinder betrifft, die immer am Rande der Gesellschaft – und manchmal auch der Kirche – standen.
 
Nach diesen guten Erfahrungen kamen weitere Jugend­liche und Erwachsene mit schweren und schwersten geistigen Behinderungen zur Konfirmation. Vieles lief anders als üblich, wir haben manches an ihre ganz speziellen Bedürfnisse anpassen müssen – was nicht immer einfach war. Aber wer gibt uns das Recht zu bestimmen: „Ihr Sohn wird konfirmiert!“ und „Ihr Sohn nicht!“
Heute gibt es da viel mehr Offenheit, auch mehr Integration für Menschen mit geistigen Behinderungen; aber ob es auch mehr junge Menschen darunter gibt, die konfirmiert werden und dann wissen, dass sie dazugehören, das weiß ich nicht. Das kann ich nur hoffen.
 
* Alle Namen von lebenden Personen wurden verändert.

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