Mein einmaliges Leben

82 Jahre - bald ein Jahrhundert - leben an Gottes Hand

Rudi Böhm im Gespräch mit Eva-Maria Biesslich

Rudi: Eva-Maria, du bist jetzt in deinem 82. ­Lebensjahr und blickst auf ein langes, reiches ­Leben zurück. Du hast kein leichtes Leben gehabt, es hat dich gerüttelt und geschüttelt. Aber du hast standgehalten. Vor kurzem hast du ein kleines Buch veröffentlicht über die letzte Wegstrecke mit deinem Mann, der an Alzheimer erkrankt war. Du hast ihm ein Motto vorangestellt: „Habe dein Schicksal lieb; denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele“,  ein Satz von Dostojewskij. Gilt das auch für dein ganzes Leben?
 
Eva-Maria: Ja, das würde ich unbedingt sagen. ­Eigentlich bin ich immer wieder glücklich über dieses Wort, weil es ausdrückt, wie ich das Leben und mein Leben sehe.

Rudi: Alles Erlebte als uns von Gott geschickt vertrauensvoll aus seiner Hand anzunehmen – nicht nur das Gute, sondern auch das Schwere – fällt keinem Menschen leicht. Wir können daran ­reifen. Manche Pflanzen bilden Wachstums­knoten. Die Halme sind durch Krisen gegangen und haben an diesen Stellen Knoten gebildet, die dann ihr weiteres Wachsen stabilisieren. Ist das ein Bild mit dem du etwas anfangen kannst?
 
Eva-Maria: Diese „Wachstumsknoten“ in der Natur drücken genau das aus, was ich erlebt habe. Sie lassen uns „belastungserprobt“ und tragfähig werden, sie markieren aber auch die Stelle, an der der Halm am leichtesten gebrochen werden kann. Wachstum und Zerbrechen liegen – beim Halm wie beim Menschen – dicht beieinander!
Die schweren Dinge in meinem Leben hätte ich mir nicht gewünscht. Glücklicherweise hat mich Gott an diesen Punkten geführt, denn er kennt mich besser als ich mich selbst. Er weiß über meine Kräfte Bescheid und darüber, was er mir ­zutrauen kann und was für mich der beste Weg ist, um in seinem Sinn zu leben und zu wachsen.
Im Rückblick kann ich sehen, dass gerade diese Punkte die wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben waren. Sie haben zu einer Veränderung und damit zu Wachstum geführt. Diese schweren Schicksalsmomente sind besondere ­Lektionen Gottes gewesen. Es gibt nach meiner Überzeugung keinen strafenden, sondern nur ­einen liebenden Gott. Und damit ist für mich ­eigentlich schon immer alles Geschehen Gottesgeschenk gewesen. Mir ist deutlich bewusst, dass es auf unsere Sichtweise ankommt. Das wird vor allem im Alter ganz besonders wichtig!

Rudi: Lektionen?
 
Eva-Maria: Ich habe das Leben nie nur einfach ­erlebt, sondern als Lebensschule verstanden. Es gibt immer zwei Möglichkeiten: entweder man verweigert eine Prüfung bzw. Lektion, wird z. B. krank oder man kann daran wachsen und reifen in der Liebe. Ich sehe es dankbar als Geschenk Gottes, dass ich besonders an den schweren Lektionen habe wachsen dürfen. So gibt es in meinem Leben fünf wesentliche Wachstumsknoten, die ­jeweils aus einer besonderen Lebenssituation entstanden. Es sind die Kreuzwege in meinem Leben.
Mein erster Wachstumsknoten hat mich bereits für mein gesamtes Leben geprägt. Meine Eltern verstanden sich nicht mehr und trennten sich, das war 1930. Darunter habe ich schmerzlich gelitten. Durch dieses Erlebnis weiß ich, wieviel ein fünfjähriges Kind schon versteht und begreift. Man kann nicht behutsam genug mit einer Kinderseele umgehen! Ich wusste genau, dass meine Eltern selbst sehr darunter gelitten haben. Dieses Mit­gefühl war schon damals in mir stärker als mein eigener Schmerz. Deshalb habe ich meinen Kummer für mich behalten, auch gegenüber meinen ­Eltern. Aber einer wusste darum, und das war Gott! Er hat sich mir als unmittelbares, unsichtbares ­Gegenüber angeboten. Seitdem habe ich alles mit Ihm besprochen. Er war immer für mich da, hatte immer für mich Zeit. Er beschenkte mich – als ­Gegengewicht für die so schwer zu tragende Last meiner Seele – mit einem Übermaß seiner Liebe, dass sie alles überstrahlen konnte. Ich war ein ganz strahlendes Kind. Keiner hätte für möglich gehalten, dass meine Seele innerlich so wund war. Meine Seele lebt unsichtbar mit Gott und mein Leib lebt sichtbar in der Welt. Die mir geschenkte Liebe hat das Dunkle in mir überstrahlt. Das ist mir als nichts Besonderes erschienen. Im Rückblick sehe ich, dass ich damit lebenslang bis heute den besten Begleiter an meiner Seite hatte. Also kann ich zu diesem ­ersten Wachstumsknoten nicht nur Ja, sondern aus übervollem Herzen Gott sei Dank! sagen.
 
Die zweite Erschütterung war nicht weniger schmerzlich. Der 8. Mai 1945, das Ende des 2. Weltkriegs, wurde für mich persönlich zum Katastrophentag. Mein Vater und seine Lebensgefährtin nahmen sich das Leben. Wir hatten das vorher ausführlich miteinander besprochen. Ich hatte vor­gehabt, mich da dranzuhängen, um ebenfalls aus dem mir so schwerfallenden Leben zu entfliehen. Ich hatte meinem Vater zugeredet und ihn gebeten, mich mitzunehmen. Er sagte es mir zu. Doch das entscheidende Wort sprach dann – wie froh bin ich heute darüber! – Gott. Er veranlasste meinen Vater, mich in letzter Minute wieder wegzuschicken, mich nicht in den Tod mitzunehmen.
Das war eine große Enttäuschung für mich. Ich fragte mich brennend: Wen hatte Vater lieber, den Menschen, den er mitgenommen hat, oder den, den er wegschickte? Niemand hat damals diese schmerzliche Frage erfahren, aber Gott kannte sie und schenkte mir sofort einen Gedanken zum ­Weiterleben: Wenn ich schon weiterleben muss, dann lass mich selbst bitte Freude und Licht bringen und vergrößere durch mich nicht den Kummer und die Dunkelheit in der Welt! Damals fiel mir ein Zettel in die Hand, den ich seitdem in meinem Portemonnaie trage, damit ich ihn täglich vor ­Augen habe: „Das will ich mir schreiben in Herz und Sinn, dass ich nicht für mich allein auf der Erde bin; dass ich die Liebe – von der ich lebe – liebend an andere weitergebe.“
Dieser Spruch brachte Sinn in mein Weiterleben. Ich musste ja von einem Moment zum andern das Leben neu in die Hand nehmen. Aber Gott führte mich und ich nahm diesen Spruch wie aus seinem Mund. Also kann ich auch für diesen zweiten Wachstumsknoten Gott aus tiefstem Herzen ­danken.
 
Das dritte Ereignis war 1967 die Krebsdiagnose meines Schwiegervaters, ich war damals 42. Von da an begannen mein Mann Gerhard und ich gemeinsam zu beten. Erst beteten wir nur im Stillen. Doch zuvor haben wir immer unsere Anliegen be­sprochen und dann unsere gemeinsame Fürbitte zu Gott gebracht. Außerdem begann ich jetzt mit ­anderen über den Glauben und über Jesus zu ­sprechen. Bis dahin hatte ich mich unmittelbar an den unsichtbaren Gott gewandt. Also ist in meinem 42. Lebensjahr Jesus – das sichtbare Bild Gottes – in mein Leben getreten und seither immer wichtiger für mich geworden. Deshalb kann ich auch für diesen dritten Wachstumsknoten Gott von Herzen dankbar sein; denn diese menschlich schlimme Diagnose hat viele gute Kräfte in uns geweckt.
 
Der vierte Wachstumsknoten ließ mein inneres ­Bewusstsein reifen. Seit 1981 nahm ich jährlich an drei Exerzitien teil. Dabei  wurden mein inneres Wissen und Erkennen durch einen geistlichen ­Begleiter geschult und weitergeführt. Aus meinem bisherigen geistigen Wildwuchs wurde „Edelobst“; ich begann, die Dinge bewusst zu sehen, die bis dahin unbewusst gelaufen sind. Dieser vierte Wachstumsknoten wurde also einmal nicht durch schmerzliche Ur­sachen ausgelöst, sondern durch die Gelegenheit, mich begleiten zu lassen. Auch da wusste Gott, was mir nötig war.
 
Die fünfte Lektion war die härteste. Es war die Zeit der Begleitung meines Mannes in der Endphase ­seiner schweren Krankheit 1998. Auf dieser rund zweijährigen Lebensstrecke bin ich von Gott mit ­einer Glaubensstärke beschenkt worden, die mir immer neu zum Durchhalten geholfen hat. Die fünfte Lektion konnte nur mit Gottes Hilfe bewältigt werden; ohne ihn wäre ich in diesen harten Monaten zerbrochen. Deshalb kann ich Gott nicht genug dafür danken, dass er mir diese Lektion zugetraut und mich hat bestehen lassen!

Rudi: Du hast die Liebe Gottes erlebt und weiter­gegeben an deinen Mann und an viele andere. Bist du jemand, dem sich Menschen anvertrauen?
 
Eva-Maria: Ich habe oft gespürt, dass sich die Dinge, die ich mit Gott besprochen hatte, oder mit­unter nur zu ihm hin gedacht hatte, in seiner Weise verwirklichten. Allein der Gedanke, wie schön es sein könnte, Menschen zu begleiten, war bei Gott schon angekommen! Denn seit damals, seit 1967, hatte ich jedes Jahr zumindest einen Menschen ganz intensiv zu begleiten. Diese Kette ist nie ab­gerissen. Heute sind es so viele Menschen, dass ich diese Aufgabe ohne Gott unmöglich bewältigen könnte. Doch ich habe sie nie als Last empfunden, sondern immer als Gottesgeschenk.
Eigentlich ist es für mich bis heute ein Geheimnis, woran die Menschen erkennen, dass sie mit mir ­eden können. Mitunter warte ich an der Bushaltestelle oder sitze in der Straßenbahn neben jemandem oder unterhalte mich mit dem Taxifahrer. Oft werden das sofort ganz tiefe Gespräche, manchmal not-wendend. Menschen bieten mir ihr Ver­trautestes an, selbst wenn sie gar nicht gewöhnt sind, über diese Dinge zu sprechen. Wichtig ist, dass ich mit dem mitunter ganz schweren Erleben richtig umgehen kann, indem ich alles an Gott ­weitergebe. Das mir geschenkte Vertrauen ist für mich das kostbare Gegengewicht, das das Ganze tragbar macht, ja zur Freude werden lässt.

Rudi: In deiner ersten Lebenshälfte hast du alles Persönliche unmittelbar mit Gott ausgemacht und dich Menschen wenig mitgeteilt?
 
Eva-Maria: Von mir selbst zu sprechen lernte ich erst im Alter, als ich Menschen begleitete, die mir ihr Innerstes anvertrauten. Einmal wurde mir vorwurfsvoll gesagt: „Du weißt das letzte von mir – und ich weiß von dir so gut wie nichts.“ Danach empfand ich, dass sich das ändern muss und habe angefangen, auch über meine inneren Empfin­dungen zu sprechen. Dabei merkte ich, dass es manchen Menschen hilft, wenn sie erfahren, dass sie mein Vertrauen besitzen und dass ich auch ­Sorgen habe.
Allerdings hatte ich gerade in der schweren Zeit der Krankheit meines Mannes das Empfinden, dass Gott mir das geschenkt hat, dass ich nur wenig auf den Rat anderer angewiesen bin. Selbst die engsten Freunde haben manches erst aus meinem Buch ­erfahren; aber da musste es dann stehen, weil es wahrheitsgemäß sein sollte.
Nun sind alle meine schweren Erlebnisse preis­gegeben. Natürlich hatten meine Freunde auch vieles mitbekommen und mitgetragen: als Gerhard zum Beispiel dann doch in ein Pflegeheim musste. Ich war am Ende mit meinen Kräften, das hat fast niemand gewusst, aber Gott hat es gewusst. Ich ­habe die Hilfe Gottes immer bewusst als Geschenk empfangen. Als ich die Pflege ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffen konnte, ihn hergeben musste, war es gut, dass ich das Loslassen längst gelernt hatte. Auch das ist für mich viel Grund zum Danken – die viele menschliche Hilfe, die ich erfahren durfte und das Leben neu bewältigen konnte.

Rudi: Wir kennen uns schon viele Jahre, und ich kenne deine Art, Anteil zu nehmen und Menschen das Gefühl zu geben, dass sie einmalig und unverwechselbar sind. Das ist etwas sehr Kostbares. Gibt es in deinem Leben eine Geschichte, die das ein bisschen anschaulich macht?
 
Eva-Maria: Vielleicht ist es meine Grundeinstellung zum Leben, auf die es – gerade bei alten Menschen – ankommt. Denn jedes Ereignis hat zwei Seiten. Meine Überzeugung ist, dass alles, was gut an mir ist, Gottesgeschenk ist. Und mir ist eben gegeben, dass ich in allem irgendetwas Gutes finden kann; dass ich in allem mir begegnenden Schweren nicht frage „Warum“, sondern „Wozu“? Vordergründig gibt es das „Ich“ für mich nicht, sondern das „Du“ ist das Wichtigere. Das hilft mir sehr. Vielen ­Menschen steht das Ich als zu große Wichtigkeit im Wege. Ich möchte nur für Gott groß sein, um viel für ihn und mit ihm tun zu können.

Rudi: Auf der anderen Seite weiß ich, dass du ­deinen Körper und seine Signale sehr ernst nimmst und auch in der Lage bist, Menschen, die zuviel von dir wollen, Grenzen zu setzen. Du gehst nicht in den Nöten der anderen auf, sondern nimmst dich ernst, so wie du sie auch ernst nimmst.
 
Eva-Maria: Ja, das ist richtig. Deshalb habe ich mich sicher nicht richtig ausgedrückt, sondern ich meinte nur, dass meine Wünsche mir nicht die Hauptsache sind. Aber mein Körper – da hast du recht – ist immer mein nächster und engster Freund, den ich auch gut versorgen muss. Und das sehe ich nicht als Egoismus an, sondern das hängt damit zusammen, mich so gesund wie möglich zu halten. Der Körper leistet soviel, vor allem jetzt im Alter. Da ist es doppelt nötig, dass er an manchen Stellen Unterstützung erhält.

Rudi: Was heißt, behutsamer mit seinem Körper umzugehen?
 
Eva-Maria: Ich mute ihm nur das zu, was unbedingt sein muss. Ich halte mich nicht aus der Welt heraus, aber ich dosiere. Ich sehe die Nachrichten, das ist Zumutung genug. Ich spare mit meinen Kräften, meiner Zeit und führe meinem Körper zu, was ihn aufbaut. Ich darf seine enger gewordenen Grenzen nicht übersehen. Da muss ich darauf achten, wo Rücksichtnahme und ein anderer Rhythmus notwendig sind. Das hat sich mein tapferer Körper verdient. Jede Lebensphase verlangt immer mal eine Umstellung. Da muss man beweglich bleiben. Aber das muss man mit sich selber ausmachen. Man bleibt anziehender für die anderen, wenn man nicht nur über seine Wehwehchen redet oder alles mies macht. Ich muss interessiert bleiben für die Anliegen meines Gegenübers.

Rudi: Reifen kommt nicht zwangsläufig mit dem ­Altern, sondern ist ein Weg, der bewusst gegangen werden will.
 
Eva-Maria: Entscheidend ist immer die Sichtweise, die innere Einstellung, gerade im Alter. Man kann von früh bis abends klagen, was alles wehtut und was nicht mehr geht. Das hat es bei mir nie ge­geben. Ich freue mich an dem, was ich noch kann. Und das ist immer noch sehr viel. Auch Gerhard hat das so gesehen. Wir wären uns Gott gegenüber undankbar vorgekommen.
Durch die Begleitung der Krankheit von Gerhard bin ich da besonders sensibel geworden. Als sein Verstehenkönnen nachließ, bin ich noch achtsamer mit ihm umgegangen. Ich versuchte zu erspüren, was er noch konnte, was ihm gut tat und was nicht. Diese Behutsamkeit besonders mit Worten habe ich auch den Gesunden gegenüber beibehalten. Das habe ich bei Gerhard noch viel intensiver gelernt. Während seiner Krankheit wusste ich nicht, wie ein Wort bei ihm ankommt, wie er damit umgehen kann, wird er das Wort los, bleibt es bei ihm ­stecken? Diese Behutsamkeit wurde auch für mich ein großer Gewinn. Ich habe mir schon immer ­Mühe gegeben, mit Worten nicht zu verletzen, aber nun bin ich noch vorsichtiger geworden. Worte haben eine Riesenkraft. Gute Worte können aufbauend sein; mit Dank und Worten der Anerkennung spare ich nicht. Böse Worte sind Giftworte und ­haben meist eine besonders große Langzeit­wirkung. Es ist schlimm, was sich Menschen durch das ­falsche, gedankenlos ausgesprochene Wort antun.

Rudi: Was würdest du Menschen raten, um zu ­weisen Menschen zu werden?
 
Eva-Maria: Erst einmal, dass man immer zu der ­Altersstufe steht, auf der man sich befindet. Menschen wollen jünger oder älter sein oder sehnen sich nach einem anderen Zeitmoment in der ­Zukunft oder der Vergangenheit. Wir haben nur die Gegenwart zum Leben. Uns steht nur der Augenblick zum Gestalten zur Verfügung, und da muss man ganz da sein.
Gerhards Gesundheit war nach der Kriegs­gefangen­schaft angeschlagen, wir dachten, wir hätten uns nicht lange. Das hat uns keine Angst gemacht, sondern hellhörig. Wieviel Zukunft jemand hat, weiß keiner. Aber die Zeit, die wir zur Verfügung hatten, wollten wir auskaufen. Wir haben möglichst keine Gemeinsamkeit verschenkt! Deshalb kann ich nun in Ruhe und Frieden leben. Wir hätten nicht mehr machen können. Das schenkt eine große ­Zu­friedenheit. Ich kann voller Dankbarkeit auf unsere fast fünfzig gemeinsamen Jahre zurückblicken!
Menschen leben oft in der Vorstellung, sie hätten alle Zeit der Welt. Mich macht immer sehr glücklich, wenn ich Menschen auf der Straße begegne, die Hand in Hand gehen. Da ist Gemeinschaft. Wie schmerzlich dagegen, wenn sich Menschen nicht verstehen und einem Streit tagelang Raum geben. Das ist alles verschenkte Lebenszeit. Alles Ver­säumte kann dann – wenn einmal von einem ­Moment zum andern alles vorbei ist – eine große Last werden.

Rudi: Das Gute sehen, dankbar sein für das, was noch bleibt?
 
Eva-Maria: Danken steht bei mir an erster Stelle; ich habe immer neu Grund dazu.

Rudi: Gottvertrauen spielt in deinem Leben eine ganz große Rolle.
 
Eva-Maria: Ob ich wirklich voll in diesem Gottvertrauen lebe? Aber es nahm im Laufe der Jahre immer mehr zu. Im Großen und Ganzen lebe ich jetzt in der Gelassenheit, dass Gott es macht! Gott weiß, wie es werden wird, und so soll es werden! Aber dieses Vertrauen bekommt man nicht auf Vorrat, sondern muss es immer von neuem im Glauben praktizieren!

Rudi: Was hat dein Vertrauen genährt?
 
Eva-Maria: Meine tägliche Bitte an Gott ist, dass ich wach bleibe, dass ich ihn erkenne, dass ich die ­innere Stimme nicht übertöne, die gleichzeitig auch die Stimme des Gewissens und des Herzens ist. Die Emmaus-Jünger, am Tag nach der Auferstehung, ­waren noch nicht gewöhnt, auf ihr Herz zu hören. Der Verstand mitsamt seiner Trauer hat zu diesem Zeitpunkt bei ihnen noch überwogen. Sie haben ­Jesus erst durch seine Geste erkannt. Bei den Erzählungen über den Auferstandenen ist mir wichtig, dass er immer in anderer Gestalt erschienen sein muss und jedem so begegnet ist, dass er ihn be­greifen konnte; z. B. über den Glauben, die Liebe oder die äußere Geste.
Das ist für mich ein Beispiel dafür, wie wir die Menschen zu verstehen versuchen sollen. Jeden trifft man an einer anderen Stelle. Das hilft mir sehr beim Zugehen auf Menschen.

Rudi: Nun scheint diese Wachheit für das Leben ein Schlüssel für ein reifes Altern zu sein. Du ­betonst immer, dass alles von Gott kommt und alles durch Gott so geworden ist und dass viel Gnade da mit hineinfließt. Warum sehen andere ihr Leben nicht genauso?
 
Eva-Maria: Ja, das ist sicher das Geheimnis des ­freien Willens. Der ist unser größtes Gottes­geschenk, aber gleichzeitig unsere größte Gefahr. Gott hat mir durch eine Stelle bei Jesaja in besonderer Weise die Augen geöffnet. Dort heißt es: „Von nun an lasse ich dich Neues hören und Verborgenes, das du nicht wusstest“ (Jes 48,6 ). Er hat mir damit über meine körperliche und seelische Un­fähigkeit beigebracht, dass ich von mir aus gar nichts kann. Bis dahin war meine Vorstellung ­immer: Wenn ich mir sage: „Ich will!“, dann schaffe ich das auch. Und wenn ich sage: „Ich kann nicht!“, dann brauche ich es gar nicht erst zu ver­suchen. Gott lehrte mich durch diese Stelle etwas anderes. Es hat aber zwei lange Jahre gedauert, bis ich begriffen hatte, was Gott mir damit beibringen wollte. In dieser Zeit kam ich durch eine eigene schwere Operation und den Tod meiner Mutter in eine physische und psychische Unfähigkeit, hielt mich für völlig wertlos und unfähig. In diese Dunkelheit hinein schenkte mir Gott dann die Deutung dieses Wortes: „Ich will dir sagen, dass du ohne mich nichts bist oder kannst, aber mit mir zusammen bist du stark!“ Ich stelle mich seitdem täglich neu Gott zur Verfügung, damit er durch mich und mit mir handeln kann.
Mir hilft da ein Bild von meinem Computer: Ich weiß, dass in meinem PC ein wunderschönes Christusbild gespeichert ist. Aber ohne meine Aktivität bleibt es unsichtbar. Erst wenn ich gewisse Voraussetzungen erfülle – z. B. den Apparat anschalte usw. – kann ich das Bild abrufen und sichtbar machen. Ob Gottes Wille für mich geschehen kann, ob ich ihn „einschalte“ oder draußen lasse, überlässt er meiner freien Willensentscheidung.

Rudi: Ja, und trotzdem ist dein Leben dadurch nicht leichter geworden.
 
Eva-Maria: So ist es. Der Glaube nimmt uns die Prüfungen nicht ab, aber er hilft uns hindurch. ­Prüfungen gehören in der Schule nun mal dazu. Und das Leben, das ist nicht nur eine Spielschule, sondern wir sind hier, um uns weiterzuentwickeln. Ich habe ja die Hoffnung, dass es weitergeht und dass das noch viel Bessere erst kommt.

Von

  • Rudolf M. J. Böhm

    Sozialpädagoge, gehört mit seiner Frau Renate zur OJC-Auspflanzung in Greifswald, wo er u.a. als Seelsorger aktiv ist.

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