Den Stab weitergeben

Mentoring: Jüngere begleiten und anleiten

Alexandra Depuhl

Ausgerüstet mit einer Schaufel und einem ­großen Teller stand ich in einem Wasserlauf und versuchte mein Glück bei der Suche nach Gold. Ich musste erst den Boden aufwühlen, das trübe Wasser über ein Sieb laufen lassen und schließlich den Bodensatz im Teller sichten. Mit Hilfe eines Einheimischen lernte ich, die wertvollen von den wertlosen Steinchen zu unterscheiden. So und nur so gewöhnten sich meine Augen daran, die Goldkörner zu entdecken. Es waren kleine Nuggets, aber sie gehörten mir. Ich hatte sie gefunden und war stolz auf meine Schürferfolge.
So ähnlich geht es mir, seit ich jungen Menschen dabei helfe, ihre Kompetenzen, Gaben und ­Fähigkeiten „freizulegen“. Manchmal ganz zaghaft und fast ungewollt entdecken sie eine in ­ihnen angelegte Fähigkeit, ein noch verborgenes und brachliegendes Talent – und freuen sich über ihren Fund.

Eine neue Aufgabe

Bei der Vorbereitung einer Tagung sagte eine mehr als zehn Jahre jüngere Frau zu mir: „Eigentlich bist du zu alt, um hier mitzuarbeiten.“ Ich war 55 und hatte nach der Erziehung unserer vier Kinder gerade angefangen, mich freizumachen, um hier und da noch mitzuwirken. Und dann das! Was fiel ihr ein, mich so auszubooten? Sollte schon alles zu Ende sein?
Ich fuhr nach Hause und hatte Zeit, mich aufzuregen, zu weinen, mit Gott zu hadern, ihn für meine Misere verantwortlich zu machen und mich selbst infragezustellen. Vieles ging mir durch den Kopf. Immer wieder habe ich die verschiedenen Möglichkeiten durchgespielt. Schließlich habe ich Gott ganz direkt gefragt, was er mir damit sagen wollte. Je länger ich nachdachte, desto mehr spürte ich seine Ruhe und Frieden. Auf dem trüben, undurchsichtigen Grund entdeckte ich goldene Nuggets, klein, aber schön anzuschauen und nur für mich. Gott wollte mich die Goldkörner im Staub erkennen lassen. Er wollte mein Auge für jüngere Menschen und das Potential, das er in sie hinein­gelegt hatte, schulen. So kam ich zu dieser besonderen Entdeckung in meinem Leben und zu einer neuen Berufung.
Bald nachdem ich mich Gott bewusst zur Ver­fügung gestellt hatte, kamen jüngere Menschen auf mich zu. Sie baten darum, dass ich ihnen helfen sollte, ihr Leben zu organisieren und ihre Gaben zu entfalten. Sie wollten sich an neue Aufgaben wagen, wenn ich sie dabei begleiten könnte, z. B. Beziehungen richtig einzuschätzen oder auch Prioritäten für diesen ­Lebensabschnitt neu zu ordnen.
Und sie wollten von mir erfahren, wie ich mit ähnlichen Situationen in meinem Leben klargekommen war, wie ich mit Misserfolgen umgegangen bin, wie ich Klarheit gewonnen hatte über meine eigenen unterschwelligen Motive. So wuchs ich allmählich in die Aufgabe einer Mentorin hinein.

... als ältere Freundin

Der Begriff des Mentors ist schon alt und er hat sich durch die Jahrhunderte verändert. In der griechischen Sage war der Mentor der Freund des Odysseus und der Lehrer seines Sohnes Telemach. Durch Fénelons Roman „Die Abenteuer des Telemach“ (1688) wurde „Mentor“ in literarischen Kreisen eine Bezeichnung für einen erziehenden, leitenden und beschützenden älteren Freund. Daraus wurde im 18. Jahrhundert der Ratgeber am Hofe und im 19. Jahrhundert der Hauslehrer. Später bezeichnete man den Betreuer von Studenten als Mentor. Und in jüngster Zeit hat der Begriff Eingang gefunden in Konzepte zur Mit­arbeiterführung und Personalentwicklung. Mentoring bezeichnet die Tätigkeit einer erfahrenen ­Person (Mentorin/Mentor), die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten an eine noch unerfahrene Person (Mentee) weitergibt. Ziel ist, den Mentee in seiner persönlichen Entwicklung und/oder seiner fachlichen Kompetenz zu fördern.
In der christlichen Gemeinde geht es bei der ­Begleitung von Menschen um mehr als um die ­Förderung von Fähigkeiten. Die Entwicklung der Persönlichkeit schließt hier das Wachstum im Glauben, im Vertrauen auf Gott, ein und ein Hineinwachsen in seine persönliche Berufung. Für ­Christen ist der Geist Gottes der eigentliche Berater, der anleitet, ermutigt und stärkt. Parakletos wird der Heilige Geist auch genannt, das bedeutet Beistand, Berater oder Mentor. Er hilft einem (jungen) Menschen, im Glauben mündig zu werden und seine Berufung zu leben.
Mentoring ist aber auch ein wichtiger Dienst, den Christen füreinander tun können. Es ist eine Auf­gabe für reife Christen. In der Bibel finden wir etliche solcher Mentoren-Beziehungen, in denen ein Älterer einen Jüngeren ermutigt und angeleitet hat. So war Mose Mentor für Josua, Elia für Elisa, Naomi für Ruth, Paulus für Timotheus und Priscilla und Aquilla für den jungen Apollos.
Persönliches Wachstum geschieht nicht von selbst. Es braucht vertrauensvolle Beziehungen. Eine Mentorin setzt ihre persönlichen Kräfte, Erfahrungen und Verbindungen ein, um einer anderen Person zur Entfaltung ihres Potentials zu verhelfen.
Das Verhältnis von Mentor/Mentorin zum Mentee ist keine Autoritätsbeziehung, sondern der Erfahrene hat eine begleitende Funktion. Mentoring ähnelt einem olympischen Staffellauf. Wir als die älteren, erfahreneren Christen laufen in der geistlichen Kampfbahn und sind gerade dabei, den Stab an die nach uns Kommenden weiterzugeben. Für eine Weile laufen wir noch neben ihnen her, wie in der Arena, und geben Zuspruch und Anleitung. Mentoring ist ein beziehungsorientiertes Geschehen. ­Da wir Frauen meist ausgesprochen beziehungsorientiert sind, liegt es uns, den uns anvertrauten Menschen zu helfen, sich weiterzuentwickeln und zur Entfaltung zu kommen. Viele von uns sind schon durch die Erziehung der eigenen Kinder darin eingeübt, vielleicht auch vorgebildet durch einen ­pädagogischen Beruf oder eine Beratungstätigkeit.

Jüngere achtsam begleiten

Wir selbst sollten auf unserer Glaubensreise durch verschiedene Phasen gegangen sein, um an Jüngere weiterzugeben, was wir erkannt haben und was sich in verschiedenen Situationen bewährt hat. Voraussetzung ist, ein Leben als Jüngerin zu leben und selbst in der Mitarbeit im Reich Gottes schon etwas bewirkt zu haben. Wir sollten es uns zu einer guten Gewohnheit machen, unsere Beziehungen zu Gott, unseren Umgang mit Menschen und unser Handeln zu reflektieren. Wir selbst müssen bereit sein, uns von Gott und von Menschen etwas sagen zu lassen. Nur dann haben wir die Möglichkeit, anderen etwas ­weiterzugeben.
Es ist auch wichtig, dass wir einigermaßen unabhängig geworden sind von der Meinung anderer, dass wir die eigenen Stärken und Schwächen kennen und bereit sind, darüber zu reden. Das gehört mit zu dem Prozess, Menschen in ihren verschiedenen Lebenslagen zu beraten und mit ihnen ein Stück des Weges zu gehen. Aber im Grunde braucht man vor allem eines: ein Herz für junge Menschen! Wenn Gott uns in diese Aufgabe beruft, dann schenkt er uns in unserem Herzen einen Platz für junge Menschen.
Mir haben viele Seminare, Bücher, persönliche ­Beziehungen und Nachfragen bei anderen geholfen, mich selbst zurückzunehmen und mich an den jungen Leuten zu freuen, die Neues erkennen möchten und Neues wagen. Manchmal ist es schwer, nicht dazwischenzufunken, weil man sehr klar sieht, wohin es geht und was jetzt dran ist.
Dabei ist es keineswegs so, dass nur die Jüngeren von den Älteren profitieren. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Mit ihren neuen Ideen, ihrer Kreativität und ihrem noch nicht von Traditionen kanalisierten Blick erweitern junge Menschen unseren Horizont und fordern uns heraus. Ihr Tatendrang kann auch uns neu in Bewegung setzen.

... und gemeinsam träumen

Wir können und müssen ein Gespür dafür ent­wickeln, wie wir heute Gemeinschaft leben und geistliche Verantwortung übernehmen können.
Junge Menschen haben ein Recht auf Vorbilder und Ratgeber. Sie brauchen reife Christen, die bereit sind, lebenslange Gebetsunterstützer und Ermutiger zu werden. Sie möchten mit den Mentoren ihre Lebens­träume teilen und nicht ausgelacht werden, wenn sie neue – vielleicht zunächst noch unaus­gegorene – Ideen haben.
Ich habe den Traum, dass in unseren Gemeinden und Gemeinschaften die Generationen miteinander wachsen und zusammenwachsen und gemeinsam Jesus verherrlichen, durch die Liebe, die in ihren Mentoring-Beziehungen erkennbar wird. Stellen Sie sich einmal vor, welche Veränderungen es in unseren Gemeinden geben könnte, wenn es dort mehr Mentorinnen und Mentoren gäbe! Wir könnten noch so manche Schätze heben!

Von

  • Alexandra C. E. Depuhl

    geb. 1943 in Berlin, ist seit 1967 mit Michael verheiratet, Mutter von vier Kindern. Gemeinsam gründeten sie das erste deutsche Jugendcamp Christ Camp in Krefeld. Sie engagiert sich im Hauptvorstand der Deutschen Evange­lischen Allianz, im Vorstand des Gemeinde­ferienfestivals Spring und des Christlichen Frauenforums ­Filia. (Stand 2005)

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