Einfachheit und Vergebung

Alt werden als geistlicher Weg

Piet van Breemen

Ignatius nennt als erstes Ziel seiner Geistlichen Übungen: „sein Leben ordnen“. Im Alter liegt es ­besonders nahe, das ganze lange Leben noch einmal ordnend anzuschauen. Die Pflicht, die Fähigkeit und hoffentlich auch der Ehrgeiz, Leistungen nach außen hin zu erbringen, lassen nach. Damit öffnet sich, mehr als vorher, der Weg nach innen. Viel Überflüssiges verschwindet, wobei der Umzug in eine kleinere Wohnung oft schon eine ganz natürliche äußere Hilfe darstellt. Wer bis dahin kein Testament gemacht hat, muss sich jetzt dieser heiklen Aufgabe stellen; sie ist immer eine diffizile Beziehungssache und bedeutet eine bewusste Konfrontation mit dem Sterben. Aber auch im Innenleben will man reinen Tisch machen. So ­erwächst eine Einfachheit, die sehr schön und stimmig werden kann – ähnlich dem Vorgang, von dem Hemingway erzählt: wie er die erste Fassung eines Manuskripts viele Male durchging, nur um zu streichen und wegzulassen und so ein kräftiger und dichter Text entstand wie „Der alte Mann und das Meer“.
Selbstverständlich wird ein jeder dem Verlangen, sein Leben zu überblicken und Bilanz zu ziehen, auf ganz persönliche Weise nachkommen; aber es ist wohl für alle befreiend und lebensfördernd, diesem Bedürfnis Raum zu geben und die Synthese des Lebens sich entfalten zu lassen. Die Sinnfrage wird neu und wahrscheinlich auch eindringlicher gestellt. Man versucht, den roten Faden seines Lebens zu entdecken und die Vergangenheit zu integrieren. Ich erinnere an das Wort von C.G. Jung: „Man wandelt nur, was man annimmt.“ Enttäuschungen und Traumata kommen hoch und wollen ihren richtigen Platz bekommen, damit auch sie Frucht bringen. Bei Gott geht nichts verloren, sondern alles kann zum Guten geführt werden (vgl. Römer 8,28). Beim ruhigen Hinschauen entpuppt sich manches, das als negativ erfahren wurde, nun doch als ein getarnter Segen, wie die Engländer es nennen: a blessing in disguise. Ein Text Jesajas kann den Leitfaden zu dieser Betrachtung des eigenen Lebens bieten: „Jetzt aber – so spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und der dich geformt hat, ­Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du ­gehörst mir“ (Jes 43,1). In dieser Perspektive kann man sein Leben anschauen und vielleicht sogar seine Lebensgeschichte aufschreiben. Meistens gibt es ein großes Bedürfnis, vertrauten Menschen aus seinem Leben zu erzählen, und es ist ein Segen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.
Auf zwei Punkte möchte ich etwas näher eingehen, nämlich auf die Vergebung, die wir anderen ­schulden, und auf die Vergebung, die wir selbst brauchen.

Vergebung schenken

Jesus hat in seiner Lehre oft betont, dass wir einander die Schuld vergeben sollen. Er hat es sogar zu einer Bitte im Vaterunser gemacht: „Vergib uns ­unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Er hat selbst Menschen ihre Schuld und Sünde vergeben. Kurz vor seinem Tod am Kreuz hat er nicht selbst vergeben, sondern den ­Vater gebeten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Mit diesem heroischen Beispiel hat er seine Lehre bekräftigt.
Vergeben kann sehr schwer sein. Wir sollten uns dessen respektvoll bewusst sein, wie viel Mühe es uns und andere kostet, Vergebung zu schenken. Der Versuch, jemanden zum Vergeben zu nötigen, ist ein innerer Widerspruch und alles andere als hilfreich. Wir sollten auch Geduld haben, wenn wir selbst oder wenn andere viel Zeit brauchen, um zur Vergebung heranzureifen. Hier darf man nichts überspringen. Wer einen Schritt zu früh macht, wird später merken, dass der Boden nicht trägt. Das soll jetzt kein Plädoyer dafür sein, nicht zu ver­geben, sondern dafür, die Vergebung ernst zu ­nehmen.
Die Not mit der Vergebung ist sehr groß. Die Aggressivität und die Gewalt nehmen in unserer Welt zu. Man erlebt es im Fernsehen, im Straßenverkehr, in den Schulen. Der Strom der Gewalt muss durch Vergebung umgeleitet werden. Papst Johannes
Paul II. wurde nicht müde zu betonen, dass es keinen Frieden gibt ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne Vergebung. Zu Ostern 1960 schrieb Dag Hammarskjöld in sein Tagebuch: „Die Vergebung durchbricht die Ursachenkette.“ Ohne Verzeihung bleiben wir in einem Teufelskreis von Gewalt und ­Unrecht gefangen.
Es scheint mir nützlich, einige häufige Miss­verständnisse zu beseitigen:
Vergebung ist nicht blauäugige Naivität, die alles beschönigt und das Böse weginterpretiert. Dann wäre im Grunde nichts mehr zu vergeben, ­und man ist vor einer schweren Aufgabe davongelaufen.
Vergebung ist nicht Verdrängung, die ihre Ruhe sucht und der Auseinandersetzung mit dem ­Unrecht ausweicht. Verdrängung ist nie eine dauerhafte Lösung eines Problems. Seine Wut auszu­drücken kann Konflikt und Feindschaft zur Folge haben. Seine Wut hinunterzuschlucken und zu verdrängen hat aber ebenfalls seinen Preis; es kann zu Müdigkeit und Depressionen führen und der Gesundheit schaden. Wut ist ein Gift: giftig in seinem unkontrollierten Ausdruck, aber auch sehr giftig in seiner Verdrängung. Vergebung stellt sich dem ­Bösen und geht mutig und weise mit ihm um.
Vergeben ist nicht vergessen. Tiefes Unrecht, das wir erlitten haben, bleibt gespeichert in unserem Gedächtnis, in unserer Psyche und manchmal in unserem Körper. Die Verletzung hinterlässt Narben, die an das erinnern, was uns angetan wurde. Im Vergeben vergessen wir nicht, sondern wir erinnern uns anders. Wir erinnern uns jetzt in einer Weise, die keinen Groll und keine Verbitterung hortet und die uns nicht länger an den fesselt, der uns Böses getan hat. Die Vergebung öffnet einen Weg in die Zukunft, während der Groll uns in der schlechten Vergangenheit gefangen hält.
Vergeben ist keine Schwäche, die sich der Realität nicht zu stellen wagt, ohne Überzeugung und ohne echte Bindung. Ganz im Gegenteil: Vergebung ist mutig und erfordert viel Kraft.
Vergebung ist nicht identisch mit Straffreiheit. Auch wenn der Täter schon vor Gericht oder anderswo auf gerechte Weise bestraft wurde, bleibt dem Opfer die Aufgabe der Vergebung. Juridische Bestrafung geschieht „draußen“, im anderen; Vergebung geschieht im eigenen Herzen. Umgekehrt bedeutet, einem Menschen seine Bosheit zu verzeihen nicht ohne weiteres, auf gerechte Bestrafung zu verzichten.
Vergebung ist nicht gleich Versöhnung. Letztere braucht wenigstens zwei Personen, während erstere unabhängig vom Kontakt mit dem Täter möglich ist. Es kann Fälle geben, in denen es besser ist, es bei der Vergebung zu belassen und keine Versöhnung anzustreben, zum Beispiel im Falle einer Vergewaltigung.
Vergebung ist schwierig, denn in unserer Natur will sich etwas an unserer Verletzung und an unserem – berechtigten – Groll festklammern. Sie sind für uns wie ein kostbarer, dunkler Schatz. Wir können uns in unsere Verletztheit zurückziehen, und darin einnisten und einkapseln und so unseren Groll und Schmerz pflegen. Dies kann zu einer Art Sucht ­werden. In der Haltung des Grolls stirbt aber auf Dauer etwas in uns ab, wie etwa der Humor, die Spontaneität, die Energie, die Träume und das Selbstwertgefühl; ganz gewiss schadet er auch der Gesundheit. Wahrhafte Vergebung raubt uns diesen zerstörerischen Schatz; entsprechend lautet eine Definition von Vergebung: „den Groll, zu dem man berechtigt ist, aufgeben“ und damit auch das ­Verlangen nach Vergeltung.
Vergebung bedeutet zu reifen: vom Zustand des passiven Opfers ohne Kontrolle über die Gefühle hin zur Einsicht, dass wir selbst die Quelle unserer Gefühle sind. Vergebung ist die langsam gewachsene Einsicht, dass wir den anderen Menschen nicht unter Kontrolle haben können. Wahrhafte Ver­gebung ist eine große Herausforderung, wie ein Springen über den eigenen Schatten. Wenn das nicht gelingt, bleiben wir in der Entfaltung der Persönlichkeit, in unserem Leben nach dem Evangelium und im Gebetsleben auf halber Strecke stecken. Wir drehen uns in einem Kreis von endlosen Wiederholungen, die manchmal neurotisch werden. Wir tragen Misserfolge, Scheitern, durchkreuzte Pläne, Verletzungen unserer Ehre und unserer Sensibilität als eine drückende Last mit uns. Nur in der Vergebung bricht etwas wirklich Neues in unsere Welt hinein. Dann entsteht ein Freiraum, in dem sich das Leben weiterentwickeln kann. Vergebung kostet Kraft; aber nicht zu vergeben heißt, viel ­Lebensenergie zu verschwenden. Es ist eine Wohltat, vergeben zu können. Normalerweise ist die Vergebung ein langer Prozess. Zuerst muss man die bewusste Entscheidung treffen, sich auf diesen ­Prozess einlassen zu wollen. Danach braucht man die Geduld, den Weg der Vergebung wirklich zu gehen. Ich vergleiche ihn gerne mit einer Spirale. In einer Spirale kommt man voran, aber nur in einer kreisförmigen Bewegung, in der man in jeder ­Runde wieder am kritischen Punkt vorbeikommt. Dort wird man mit dem Täter konfrontiert und muss ihm immer wieder aus neue verzeihen.
Vergessen wir nie, dass dieser ganze Prozess ­Gnade ist. Darum ist der vielleicht beste Ort, um zu ­lernen, wie man Vergebung schenkt, sich unter ein Kruzifix zu setzen, Jesus am Kreuz anzuschauen, seine ­Worte „Vater, vergib ihnen…“ zu hören und sie immer wieder nachzusprechen.

Vergebung empfangen

Wenn wir uns schwer tun zu vergeben, dann ist Gott eindeutig der ganz Andere, denn er liebt es über die Maßen zu verzeihen. Der Prophet Micha staunt über die Freude, die Gott am Verzeihen findet (Mi 7, 18-20): „Wer ist ein Gott wie du, der du Freude daran findest, barmherzig zu sein!“ Der Prophet Zefanja versichert uns: „Gott hat das Urteil gegen dich aufgehoben. … Er schafft dich neu in seiner Liebe. … Er entzückt sich an dir in der Freude“ (Zef 3, 15-17, übersetzt von Martin Buber). Jesus sagt es noch viel klarer und überzeugender. Als die Pharisäer und die Schriftgelehrten sich empören, dass er sich mit Zöllnern und Sündern abgibt, erzählt Jesus drei Gleichnisse: vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn (Lk 15). Alle drei haben die gleiche Sinnspitze, nämlich die Freude des Finders. Damit gibt Jesus ein Bild seines Vaters. Vorher hat er behauptet, dass
 „niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Lk 10,22). Genau das will er jetzt tun: uns den Vater offenbaren. Mit dieser Absicht beschreibt er lebendig und eindringlich die Freude, die der Vater im Vergeben findet. So ist unser Gott!
Ein Satz von Werner Bergengruen in der Novelle „Der spanische Rosenstock“ hat mir geholfen, die Bedeutung der drei Gleichnisse in Lukas 15 besser zu verstehen. Der Satz lautet: „Zwar erprobt sich die Liebe in der Treue, sie vollendet sich aber in der Vergebung.“ Gott ist Liebe. Weil die Liebe sich in der Vergebung vollendet, können wir sagen, dass Gott dann am göttlichsten ist, wenn er vergibt. So leuchtet mir die Freude auf, die Gott im Vergeben findet, eben weil es seinem tiefsten Wesen entspricht. Gott hat viele Namen. Ein ganz besonderer Name ist „der Getreue“. Ein reichhaltiger Name ist auch „der Barmherzige“, das heißt, der uns auch in unserer Schuld treu bleibt; der es liebt, gnädig zu sein.
Es gibt wohl keinen Menschen, in dessen Lebensgeschichte nicht einige Episoden vorkommen, für die er sich schämt und an die er nicht gerne denkt oder erinnert wird. Die Schuld drückt oft schwer auf Menschen. Die Gestalt der Schuld ist heute oft anders als in früheren Zeiten. Es hat sich ein neues Unrechts- und Schuldbewusstsein entwickelt, das sich weniger auf Gesetze und Gebote ausrichtet, sondern mehr auf Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und sorgfältigen Umgang mit der Natur. In diesem Schuldbewusstsein verurteilen viele sich selbst hart, weil sie nicht der Gerechtigkeit entsprechend ­leben. Was der Psalmist damals betete, gilt noch immer: „Alle Menschen kommen zu dir unter der Last ihrer Sünden. Unsere Schuld ist zu groß für uns, du wirst sie vergeben“ (Ps 65, 3f). Jeder Mensch braucht Vergebung. Und die gute Nachricht ist, dass Jesus uns den Weg zum barmherzigen Vater öffnet.
Jesus sagt uns ausdrücklich, dass er gekommen ist, „um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9, 13). Pech für die Gerechten! Als Johannes der Täufer Jesus einführt, nennt er ihn: „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1, 29). Auf vielfältige Weise wird uns so zugesagt, dass Menschen mit dem Bewusstsein von Schuld vor Jesus keine Angst zu haben brauchen; im Gegenteil, gerade für sie ist er gekommen. Er vergibt die Sünde auf mitfühlende Weise, ohne zu demütigen. Zu der Ehebrecherin sagt er: „Hat keiner dich verurteilt? … Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (Joh 8, 10f). Es ist nie zu spät. Dem guten Schächer sagt er in der letzten Stunde: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23, 43). Bei ihm ist Erlösung die Fülle.
Vergebung ist etwas, das man nicht selbst machen kann. Man muss sie sich schenken lassen. Da ist der Mensch nur empfangend. Für manche ist das keine leichte Rolle. Viele wollen alles selbst machen. Hier aber ist nichts zu machen, sondern unendlich viel zu empfangen. Gott vergibt auf viele Weisen. Sie findet ihren Höhepunkt im Sakrament der Versöhnung, dem Ostergeschenk des auferstandenen Herrn an seine Kirche (Joh 20, 22f). Oben wurde betont, dass es ein langer Prozess ist, Vergebung zu schenken. Ebenso gilt jetzt, dass es viel Zeit erfordert, Vergebung zu empfangen. Es dauert lange, bis sich dieses Wunder ganz verinnerlicht und die Spitze der Seele erreicht hat.
Im Empfangen der Vergebung Gottes liegt eine doppelte Freude. Zuerst die Freude der Erleichterung. Diese ist ganz natürlich und gesund. Hinzu kommt jedoch eine übernatürliche Freude, nämlich ein Teilhaben an der Freude, mit der Gott vergibt. Etwas von dieser göttlichen Freude strömt in uns über, so wie der verlorene Sohn die Freude seines Vaters spürte, als er von ihm so herzlich umarmt wurde. Diese Freude ist wie Balsam auf der Seele eines jeden, der unter seiner Schuld gelitten hat. Gott schenkt sie uns gerne, sehr gerne.
 
Im Schenken und Empfangen der Vergebung liegen wichtige Aufgaben des Alters. Wahrscheinlich liegt in ihnen unser wichtigster Beitrag zu der Klarheit, die wir brauchen, um in Frieden und Zuversicht die letzte Wegstrecke unseres Lebens zu gehen. Es gibt wohl keinen besseren Weg, sich auf die große Reise vorzubereiten, die uns am Ende bevorsteht. Der Herr wird uns einen Frieden geben, den die Welt uns weder geben noch nehmen kann.

Von

  • Piet van Breemen

    geboren 1927 in Bussum (Niederlanden), Autor zahlreicher Bücher, ist seit 1945 Jesuit und seit 1958 Leiter ignatianischer Exerzitien.

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