Der wahre Gott ist anders

von Andrea Stein

„Die Entwurzelung ist bei weitem
die gefährlichste Krankheit
der menschlichen Gesellschaft.
Wer entwurzelt ist, entwurzelt.
Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.
Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste
und meistverkannte Bedürfnis
der menschlichen Seele.“
 
Dieser Satz stammt von der jüdisch-französischen Philosophin Simone Weil.  
Die Entwurzelung unserer Gesellschaft ist auf dem Vormarsch, schon allein dadurch, dass Kinder ihre Herkunft nicht mehr kennen. Wie viele Kinder müssen heutzutage mit der schmerzhaften Erfahrung umgehen, keinen Vater oder gar zwei oder einen „neuen“ zu haben!
 
Im Glaubensbekenntnis sprechen wir den Satz: „Ich glaube an Gott, den Vater.“ Doch was verbinden wir mit dem Begriff „Vater“? Welches Bild vom Vater lebt in unseren Herzen?
Ich habe in verschiedenen Gruppen Kinder und Jugendliche nach ihrem Vater befragt. Die Ergebnisse zeigen deutlich eine gesamtgesellschaftliche Tendenz. Die Hälfte der Kinder antwortete mit „weiß nicht“ oder „mir fällt nichts ein“. Ein Junge, dessen Vater Fernfahrer ist, erlebt ihn als nicht mehr in der Familie lebend. Ein Mädchen bezeichnet ihren Vater als „Halbvater“, mal ist er da und mal weg. Vier Kinder sind sich spontan einig, dass ihre Väter viel arbeiten müssen.
Von elf Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren sagen vier: „Vater? Keine Ahnung, meine Eltern sind geschieden. Ich würde gern mal einen richtigen ­haben! Ich bin seit meinem 6. Lebensjahr ohne ­Vater aufgewachsen und kann mit dem Bild so gut wie nichts anfangen. – Normalerweise sollte ein Vater ein Vorbild und Wegweiser sein. Da mein ­Vater jedoch genau das Gegenteil war, hab‘ ich jeglichen Bezug dazu verdrängt.“
Mindestens ein Viertel der beteiligten Kinder und Jugendlichen kann mit dem Begriff Vater kaum noch etwas anfangen. Eine mir bekannte Kinderärztin äußerte einmal: „Wir sprechen sehr selbst­verständlich von Scheidungskindern. Die auffälligsten von ihnen befinden sich in medizinischer oder therapeutischer Behandlung. Doch ein Trauma ­haben sie alle.“
Dieses Trauma ist die Entwurzelung mit ihren Facetten des Schmerzes, der Enttäuschung, des Verlassenseins und Ungeliebtseins. Wir leben in einer Zeit, in der der Vater in seinem Sein und Dasein immer mehr aus der Familie verschwindet. Die Zahl der zumeist weiblichen Alleinerziehenden nimmt zu. Die Familie verliert immer mehr ihre ­ursprüngliche Struktur. Kinder sind physisch und emotional auch von den Vätern verlassen, die ­beruflich so eingespannt sind, dass sie keine Zeit haben, oder von den Vätern, die sie ablehnen oder gar misshandeln, von den Müttern, die ihren Kindern den Vater vorenthalten, weil Beziehungs­konflikte auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden. Die Kinder können keine Vorstellung von wahrer Vaterschaft entwickeln. Mit dem Verschwinden des Vaters aus der Familie verlieren die ­Menschen auch das Bild vom Vater.
 
Menschen, die ohne Vater aufgewachsen sind, schweigen zunächst, wenn ihnen die Frage nach dem Vater gestellt wird.
Eine Frau (65 Jahre) erzählte mir: „Es ist für mich schwer, ich bin ohne Vater groß geworden.” In ­ihren ersten zwei Lebensjahren, soviel weiß sie aus Erzählungen und zwei kleinen Erinnerungen, muss sie mit dem Vater, der aus dem Krieg nicht wiederkam, positive Begegnungen gehabt haben. Ihr Bild war: „Ein Vater ist ruhig und beharrlich, jemand der die Fäden in der Hand hat, ein Fels in der Brandung.” Daraus sprach die Sehnsucht nach so ­jemandem, den sie einst verloren und bis heute auch in Gott noch nicht gefunden hat.
Ich selber habe mir oft gesagt, wie froh ich bin, dass meine Kindheit vorbei ist, ich wollte nie wieder Kind sein. Dieser Satz hat eine Tiefe, die mir lange Zeit gar nicht bewusst war. Nie wieder Kind sein zu wollen, bedeutet auch, nie wieder bedürftig sein, nie wieder angewiesen, nie wieder klein und schutzlos. Das heißt, niemanden zu brauchen, niemanden zu wollen, der größer ist als ich, mich nicht schützen zu lassen. „Für meine Sicherheit ­sorge ich selbst.“
Ebenso verquer ist der umgekehrte Wunsch, noch einmal Kind sein zu dürfen. Er steht für die Sehnsucht nach Geborgenheit, die verlorengegangen ist und unerreichbar scheint.
Beide Sehnsüchte haben etwas gemeinsam: Es gibt niemanden, der meine Bedürftigkeit stillt. Wenn wir so empfinden, haben wir vielleicht noch nicht das „Mehr“ unseres Vaters im Himmel erfahren. In­zwischen kann ich mich gern wieder in die Rolle des Kindes begeben, ohne meinen „verlorenen ­Kinderjahren” nachzutrauern. Denn ich habe etwas sehr Schönes entdeckt: Wenn ich mir die Zeit nehme, bei Gott Kind zu sein, dann darf ich es auch. Gott setzt seiner Zuneigung keine Grenzen. Immer, wenn Gott mir wieder etwas zurückgibt von dem, wonach ich mich damals sehnte, merke ich, wie schön Kindsein wirklich ist. Und ich merke auch, wie furchtbar anstrengend diese Zeit war, in der ich nicht Kind sein wollte.
 
So wie Menschen als Kinder ihren leiblichen Vater erlebt haben, stellen sie sich auch den himmlischen Vater vor. In der Seelsorge bekommen jahrelange Verletzungen oft ein Gesicht, weil die Erfahrungen mit dem leiblichen Vater auf das Bild vom himmlischen Vater übertragen wurden.
Vor zwei Jahren begegnete ich auf einer Ferienfreizeit Kindern, die durch Tod oder Scheidung ihre Väter ver­loren hatten. In Gesprächen erzählten ein acht- und ein zehnjähriges Kind beiläufig, dass ihr Vater „eine andere” hat. Ihre tiefe Enttäuschung über das Verlassensein wurde spürbar, bei einem Kind die Trauer, beim anderen Kind die Wut. Werden diese Kinder an einen Gott glauben können, der sie nicht einfach verlässt? Oder ­bleiben Zweifel und Misstrauen?
Mein eigener Vater war für mich immer unberechenbar. Wenn ich ihm begegnete, wusste ich niemals, was auf mich zukam. Ich erlebte ihn freundlich und zugänglich, doch ohne für mich erkennbaren Grund wurde er dann plötzlich sehr verletzend. Ich konnte Gottes Güte mir gegenüber lange nicht annehmen, ohne die Angst zu haben, dass er mir gleich weh tun würde. Immer, nachdem Gott mich besonders beschenkt hatte, erwartete ich, dass ­etwas Schlimmes folgen würde. Je schöner die ­Begegnung mit Gott war, desto mehr erwartete ich in der Folge Schmerzen. Und kam ich dann in schwierige Lebenssituationen, war mir das wie eine Bestätigung. Ich konnte nicht spüren, dass Gott mir beistand und mich hindurchtrug. Stattdessen sah ich immer ein höhnisch grinsendes Gesicht vor mir, dass ich unweigerlich Gott zuordnete.
Von einer Frau Mitte 40, hörte ich einmal den Satz: „Mein Vater war wichtig, aber nicht da.“ In einem Prozess der Heilung bekam sie geschenkt, Gott als allgegenwärtig erleben und annehmen zu können.
Eine andere Frau beschrieb Gott als Statue. Als wir in verschiedenen Gesprächen ihren Vater in den Blick bekamen, musste sie erkennen, dass sie das Unnahbare ihres Vaters auf ihr Bild von Gott übertragen hatte.
Diese Beispiele zeigen, wie das Bild, das wir von unserem Vater haben, maßgeblichen Einfluss darauf hat, wie wir Gott sehen. So wichtig wie die Mutter für das Kind auch ist, für unser Bild von Gott hat der Vater offensichtlich eine besondere, unmittelbare Bedeutung.
 
Wie charakterisierten nun die befragten Kinder und Jugendlichen, denen zum Begriff Vater etwas einfiel, ihn konkret? Die Sieben- bis Neunjährigen brachten Merkmale wie: lieb, streng und nett. Die Acht- bis Elfjährigen nannten: groß, lieb, Beschützer, geborgen sein, großzügig, nett, spaßig, fleißig, freundlich, faul. Die 14- bis 21-Jährigen äußerten: jemand, der für mich sorgt und da ist, wenn ich Hilfe brauche, verständnisvoll, der mir vertraut und dem ich vertraue, Schutz, Kraft, er versteht mich, ist meistens sehr weit weg von mir, Vorbild, Beistand, Liebe, Geborgenheit, Strenge, aufschauen oder sich klein fühlen.
Ed Piorek, ein Pastor aus Kalifornien, beschreibt in seinem Buch „Nahe am Vaterherz” (Gerth Medien, Asslar 2001) vier Zerrbilder von Väterlichkeit: Er nennt den leistungsorientierten Vater, den passiven Vater, den strafenden Vater und den „eigentlich ganz guten” Vater.
 
Ich werde im folgenden auf einige seiner Ausführungen eingehen und sie mit Beispielen und ergänzenden Angaben erweitern:

Der leistungsorientierte Vater

Der leistungsorientierte Vater macht seine Liebe von der Leistung seines Kindes abhängig. Annahme, ­Bestätigung und Zuneigung sind an gutes Verhalten und erfolgreiche Leistungen geknüpft. Die geforderte Leistung kann sich auf alle Lebensbereiche erstrecken wie Schule und Lernen, Freizeit, Ernährung, Kleidung, Aussehen, Berufswahl, Frömmigkeit usw. Es ist für das Kind wichtig, eine bestimmte Leistung zu erbringen, um die Anerkennung des ­Vaters zu gewinnen. Es bleibt aber nicht dabei, dass gute Leistungen belohnt werden, was durchaus angemessen ist. Für das Empfangen von Liebe und Annahme werden Bedingungen gestellt. Gordon Dalbey schreibt in seinem Buch „Fathers and Sons” über diese leistungsorientierte Beziehung:
„Traurigerweise hat der Durchschnittsmensch von heute Gesetzlichkeit statt Barmherzigkeit gelernt. ‚Tu, was ich dir sage, dann werde ich dich lieben‘, hat er im Wesentlichen gehört, als er aufwuchs. Er hat nicht erlebt, wie sein Vater Barmherzigkeit vorlebt, indem er seinem Sohn dessen Fehler vergibt oder indem er seinen Sohn um Vergebung für seine eigenen Fehler bittet. Auf diese Weise wächst der Sohn in der Angst vor Versagen auf, das er mit dem Verlust der Beziehung zu seinem Vater gleichsetzt.“
 
Ein Christ, der so einen Vater hatte, nimmt Gott ­zunächst als jemanden wahr, der hervorragende Leistungen verlangt, um dann zur Belohnung Liebe zu geben. Die tiefe Angst zu versagen, treibt ihn oft in den religiösen Leistungszwang.
Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einer Frau, die sich von Gott verlassen und bestraft fühlte. Sie meinte, sie würde viel beten, aber es würde wohl nicht reichen. Außerdem glaubte sie, im Leben ­sowieso alles verkehrt zu machen und schilderte eine große Angst vor neuen Dingen, weil sie ständig befürchtete, zu scheitern. Als ich sie fragte, wer sie in ihrem Leben verlassen hatte, kamen wir relativ schnell auf ihren Vater zu sprechen. Dieser stellte an sich und seine Kinder hohe Anforderungen. Die Messlatte war für sie unerreichbar hoch. Liebe und körperliche Nähe gab es nicht, sie fühlte sich nie angenommen. Heute betrachtet sie sich als wertlos, sie fühlt sich von Gott nicht geliebt und hat auch kein Ja zu sich selbst.
Solche Menschen stehen in der Gefahr, der ­Leistung ihr Leben lang oberste Priorität zu geben. Sie in­vestieren unendlich viel Kraft, um sich endlich ­geliebt zu fühlen. Was sie brauchen ist ein Ja zu ­ihrem Sein. Gott liebt sie nicht wegen ihrer ­Leistung. Er verlässt sie auch nicht, wenn eine ­bestimmte Leistung nicht erfüllt wird. Wir sind viel mehr wert als unsere Leistung, viel kostbarer und dieses Mehr gilt es zu entdecken und zu erleben.

Der passive Vater

Der passive Vater zeigt seine Liebe nie so, dass das Kind sie spüren kann. Er drückt seine Zuneigung weder durch Berührungen noch durch Worte aus. Infolgedessen fehlt dem Kind in seiner Entwicklung die emotionale Nahrung, die eine grundlegende Erfahrung sein sollte. Ed Piorek ­sammelt in dieser Kategorie Väter, die beruflich viel unterwegs sind, auch Suchtkranke, die nicht in der Lage sind, andere Menschen emotional zu stützen, extrem phlegmatische Persönlichkeitstypen, sowie Väter, die durch Krankheit, Scheidung oder Tod von ihren Kindern getrennt wurden. Menschen mit ­passiven Vätern haben oft Schwierigkeiten, in Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen zu kommen. Eines der Hauptprobleme, das die Passivität eines Vaters bei einem Kind verursacht, ist das Gefühl des ­Verlassenseins.
Das wiederum kann bei Kindern ein falsches Schuldgefühl hervorrufen. Sie geben sich die Schuld für die Abwesenheit des Vaters und glauben, dass sie etwas getan haben müssen, was ihren Vater dazu gebracht hat, sich von ihnen fernzuhalten. Das kann sich durch ein ganzes Leben hindurchziehen. Immer, wenn etwas schief läuft, fühlen sie sich schuldig. Menschen mit einem passiven Vater nehmen Gott als distanziert, unbeteiligt und reserviert wahr. Sie glauben, dass Gott ihr Leben von vornherein abwertet.
Ein Mann berichtet von seinem Vater, der wegen der Dominanz der Mutter überhaupt nicht in Erscheinung trat. Im Alltag mit seiner Familie heute fühlte dieser Mann sich ganz wahllos für alles verantwortlich. Gelangen bestimmte Abläufe nicht, fühlte er sich auch schuldig für Dinge, die er gar nicht zu verantworten hatte. In Gesprächen wurde zudem deutlich, dass er kaum Zugang zu seinen Gefühlen hatte. Mehrfach kam er in Situationen, in denen er sagte: Ich ­sehe, dass das so ist, aber ich kann es einfach nicht fühlen. Weder Wut noch Schmerz, Trauer oder andere Gefühle kamen an ihn heran. Das einzige Gefühl, das er kannte, war eine tiefe Verzweiflung. Lange erlebte dieser Mann auch Gott als weit von sich entfernt und klagte ihn deswegen an. Dann war es ihm punktuell möglich, Gott zu begegnen, aber immer, nachdem er etwas Schönes mit Gott erlebte, war es, als würde Gott sich wieder von ihm entfernen und das Schöne zwischen seinen Fingern zerrinnen. Es war ein ­mühevoller Prozess, die Gegenwart Gottes zu ­erfahren und wahrnehmen zu lernen und dadurch einen Zugang zum eigenen Fühlen zu bekommen.

Der strafende Vater

Eine 88-jährige Frau erzählt von ihrem Vater und sagt, er sei herzlos gewesen. Genauso herzlos erlebte sie auch Gott, denn sie fühlte sich von ihm – sie war erblindet – im Stich gelassen und vergessen.
Der strafende Vater fügt seinem Kind Schmerz zu, statt ihm Liebe zu geben. Das kann verbaler und körperlicher Schmerz sein. Worte können genauso schlagen wie Hände. Sexueller Missbrauch gehört auch in diese ­Kategorie. Ein solches Vorgehen zerbricht das heranwachsende Kind und zerstört jedes auch nur ansatzweise ­vorhandene gesunde Vaterbild. Menschen, die so etwas erleben, nehmen den himmlischen Vater oft als sehr streng, hart, strafend und unversöhnlich wahr. Furcht, Scham und Wut bilden starke emotionale Hindernisse in ihren Beziehungen.
Menschen, die durch das gewaltsame Vorgehen ­ihres Vaters zerbrochen wurden, brauchen dringend die zarte und behutsame Liebe des himmlischen Vaters, die ihr Leben schützend einhüllt und diese Menschen wieder aufrichtet.

Der "eigentlich ganz gute" Vater

„Ich habe so einen lieben Vater gehabt“, sagte mir kürzlich eine Frau. „Wenn nicht der Krieg da­zwischen gekommen wäre und alles zerstört hätte, ich habe gehabt, was ich brauchte.“ Als der Krieg begann, war sie 15 Jahre alt, sie schaut also wirklich auf eine gute Beziehung zu ihren Eltern. Es gibt viele Menschen wie sie, die ihren Vater liebten und so sein wollten wie er.
 
Die meisten Väter haben positive Eigenschaften ­gemischt mit weniger erstrebenswerten. Positive ­Eigenschaften haben einen positiven Effekt auf die Entwicklung von Kindern und deren Gottesbilder.
Es gibt jedoch seit dem Sündenfall keine perfekten Väter mehr. Jeder hat mit einer Unvollkommenheit zu kämpfen. Menschen, die in einer gesunden ­Beziehung zu ihrem Vater lebten, fällt es leichter, der Liebe des himmlischen Vaters zu vertrauen und sie für sich in Anspruch zu nehmen. Doch auch sie stehen vor einer Herausforderung. Sie müssen über die gute Beziehung zu ihrem irdischen Vater hinausgehen, sich im geistlichen Sinn i­hrem Vater im Himmel hingeben und sich ihm als tiefste Quelle der Liebe anvertrauen. Das Beste, was ein Vater tun kann, ist, seine Kinder zu lieben und sie dann mit ­ihrem Vater im Himmel bekannt zu machen, der ihnen eine Liebe geben kann, die seine eigene übersteigt.

Gott, der Vater

Der Vater hat die Aufgabe, beim Kind die Sehnsucht nach einem Mehr zu wecken, nach einem Mehr an Liebe, das Eltern nicht zu geben ver­mögen. Dies geschieht nicht durch Frustration, damit ein Mensch aus der Not heraus Gott kennenlernen will, sondern durch Güte. So wie die Erde ein Schatten der himmlischen Herrlichkeit ist, sind Eltern ein Schatten der göttlichen Liebe.
Aus dem Wesen seines ­irdischen Vaters heraus sollte jeder Mensch nach und nach das Wesen Gottes für sich und sein Leben erkennen können. Ein heranwachsendes Kind hat verschiedene Entwicklungsaufgaben zu bewältigen; es muss Vertrauen entwickeln, sein Leben bejahen, sich selbst entdecken, beziehungsfähig und eigenständig werden usw. Es gibt viele Fähigkeiten, die ein Kind im Laufe seiner Entwicklung von seinen Eltern „abliest“ und sich aneignet, die für die Beziehung des ­Erwachsenen zu Gott von tragender Bedeutung sind. Einige seien hier aufgeführt:
 
Gott ist ein Gott des Lebens
Johannes 14,19:
„Ich lebe und ihr sollt auch leben.“
Wir leben in einer Zeit, in der die Ehrfurcht vor dem Leben in erschreckendem Maße abnimmt. Am Leben bleiben zu dürfen unterliegt in immer größerem Maße festgeschriebenen Auswahlkriterien. Wenn wir allein die immer weitere Spezialisierung vorgeburtlicher Diagnostik und die Zahl der Abtreibungen sehen. „Du darfst leben, wenn mit dir alles in Ordnung ist” könnte die Parole unserer Zeit sein. Wie soll jemand an einen väterlich-großzügigen Gott glauben können, der Leben schenkt und wünscht und in Achtung jedem Leben begegnet, wenn er erlebt hat, dass das Geschwisterkind vor und nach ihm selbstverständlich abgetrieben ­wurde? Oder seine Eltern auch ihn selbst am ­liebsten nicht bekommen hätten?
 
Gott nimmt uns an und liebt uns, wie wir sind
Lukas 15,2:
„Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.”
Gottes bedingungsloses „Ja” gilt uns allen. Gott schenkt uns Gedeihen und Veränderung aus diesem Ja heraus. Wachsen Kinder mit keinem grund­legenden Ja zu sich auf, werden sie sich abgelehnt, verlassen oder vergessen fühlen. Menschen, die ihrer Person gegenüber ein Nein erfahren haben, weil sie unerwünscht oder unbequem sind, erfahren auch ein Nein zu sich und glauben, sich das Ja verdienen zu müssen.
Daraus erwächst der Anspruch, anders zu werden, damit sie Gottes Liebe erhalten können. Doch Gott selbst ist es, der uns verändert. Nicht wir müssen anders werden, um ihm zu genügen. Gott spricht uns erst einmal sein Ja zu und öffnet uns das Herz. Veränderung geschieht im Vertrauen zu ihm. Sie ist keine Leistung, sondern ein Geschenk.
 
Gott ist gegenwärtig
1. Mose 28,15: „Ich bin mit dir.”
3. Mose 26,12: „Ich will unter euch wandeln.”
Gott ist für mich da, wann immer ich ihn brauche. Sich darauf einlassen kann mühelos der, dessen ­Eltern auch gegenwärtig waren. Es ist damit nicht die ständige Anwesenheit gemeint, sondern die ­Bereitschaft, das Kind ernstzunehmen, Zeit mit ihm zu verbringen, mit dem Herzen da zu sein. Viele haben Familie anders erlebt, ihnen fehlte die ­Gegenwart ihrer Eltern. Sie verbrachten lange Zeiten in Kindereinrichtungen oder waren zu ­Hause sich selbst überlassen. Diese Menschen müssen die Beständigkeit Gottes neu erfahren.
 
Gott berührt und trägt uns
Jesaja 40,11:
„Er wird die Lämmer in seinem Busen tragen.”
Gott möchte uns berühren und zwar zärtlich und liebevoll. Berührung ist für Kinder etwas sehr angenehmes und absolut lebensnotwendig. Hat ein Kind Berührung als wohltuend erlebt, kann es auch in Bezug auf Gott auf positive Erfahrungen zurückblicken. Hat ein Kind Berührung als schmerzhaft erlebt oder ist sie ihm oft versagt geblieben, baut es einen Schutzwall gegen Berührung auf. Menschen, die derartige Verletzungen erlitten haben, mögen sich auch von Gott nicht berühren lassen, denn ­Berührung ist für sie unangenehm und tut weh. Sie müssen erst das Wohltuende, das Zärtliche er­fahren, um auch wieder eine Sehnsucht nach dem Berührtwerden zu entwickeln.
Gott möchte uns tragen. Das setzt voraus, dass wir uns tragen lassen. Kleine Kinder möchten und ­müssen viel getragen werden. Sie lernen dabei, dass sie sich in die Arme ihrer Eltern vertrauensvoll hineinbergen dürfen. Ein Kind, das nicht oder nur wenig getragen oder schlimmstenfalls auch mal ­fallengelassen wurde, kann es sehr schwer haben, sich in Gottes Vaterarme fallenzulassen. Ebenso ist es bei Kindern, die für ihre Eltern eine Überforderung darstellen und oft vermittelt bekommen haben, dass sie zu schwierig sind. Auch diese Menschen können Mühe haben, sich tragen zu lassen, weil sie empfinden, dass sie „untragbar“ sind.
 
Gott hält uns, er ist unser Halt
Jesaja 41,13: „Ich halte dich an deiner Hand.”
Hat ein Kind seine Eltern als groß und stark erlebt, wie es sich jedes Kind wünscht? Oder waren die ­Eltern eher schwach und hilfsbedürftig? Wenn das Kind sich bei seinen Eltern sicher und gehalten fühlte, kann es auch Gott als jemanden erleben, an den man sich an­lehnen kann. Andere Kinder konnten sich nicht ­anlehnen, weil ihre Eltern nicht da oder zu schwach waren. Sie mussten den Halt in sich selbst ent­wickeln und womöglich für ihre Eltern ein Halt sein. Solche Menschen wirken sehr stark und ­haben gern alles in der Hand, „fest im Griff“. Sie sind ­jedoch zutiefst verletzt. Sie müssen erst wieder ­lernen, dass sie sich bei Gott anlehnen dürfen, dass Jesus, der in ihnen wohnen will, ihr Halt ist.
 
Gott möchte unseren Gehorsam
Sirach 24,30:
„Wer mir gehorcht, der wird nicht zuschanden.”
Sirach 46,12:
„Wie gut ist es, dem Herrn zu gehorchen.”
 Gehorsam ist ein sehr negativ besetztes Wort und verbindet sich für viele mit dem Brechen des eigenen Willens, Verboten, Strafen und Gewalt. Doch Gehorsam steht dem Wort gehören nahe, dazu­gehören. Gehorsam meint, aus dem Gefühl des Dazugehörens heraus den Eltern und später Gott zu vertrauen. Gott möchte, dass wir zu ihm gehören. In dem Wort Gehorsam steckt auch das Wort ­hören. Viele Kinder bekommen heute keine Angebote zum Hören, zum Hinhören mehr. Mit ihnen wird nicht gesprochen, nicht erzählt, sie erhalten nur noch Befehle oder „hören Geschichten“ via Fernsehen.
 
Gott vergibt gern
Hesekiel 36,25:
„Ich will reines Wasser unter Euch sprengen.“  
Römer 8,1: „Ich verurteile dich nicht.”
Das ist ein unwahrscheinlich schwieriger Punkt. Nur wenige Menschen können Vergebung glauben und dankbar annehmen. Viele Menschen sind verkrampft bemüht, aus eigenem Willen und mit immenser Anstrengung immer besser zu werden und ihren Stand als Sünder zu minimieren oder ganz aufzu­heben. Dieses selbstgerechte Verhalten erwächst aus der Angst vor Strafe. Es bleibt die ­Frage: Hat ein Kind Vergebung und Hilfe ­erfahren, dieses „es ist wieder gut” oder wurde das Kind verächtlich gemacht und sollte sich aus eigener Kraft bessern?
In der Vergebung wird uns geschenkt, frei zu ­werden von vielfältigen Ängsten und uns zu ver­ändern. Wir dürfen mit unseren Schwierigkeiten und auch den dicksten Sünden immer wieder zu Gott kommen. Er freut sich, uns zu sehen und uns zu vergeben.

Wie kann das praktisch aussehen?

Es geht zunächst darum, die Auswirkungen unserer frühen Erfahrungen auf unser Gottesbild im Licht der Wahrheit zu erkennen und um Heilung der ­Erinnerung zu bitten. Von Jesus und seinem Leben mit dem Vater im Himmel dürfen wir uns ein neues Vaterbild schenken lassen und Stück für Stück in ­eine neue Beziehung zu ihm hineinwachsen.
Mir selbst, die ich auch ein sehr zerstörtes Vaterbild hatte, hat der Satz des Jesuiten Piet van Breemen immer geholfen: „Bei Gott ist es anders.” An ­diesem Satz musste ich erkennen, dass ich Gott oftmals ein Handeln zugetraut hatte, wie ich selbst nicht handeln wollen würde. Ich musste mich fragen: Will ich das sein? Würde ich anderen antun, was ich Gott zutraue?
Wie wollen wir selbst für unsere Kinder und Mitmenschen sein: unnahbar oder vermittelnd, hart oder einfühlsam, verurteilend, strafend oder ver­gebend? Wenn wir das für uns herausgefunden ­haben, dürfen wir uns an Matthäus 7, 9+11 orientieren. „Ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet? Oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet? Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten.“
Es geht um dieses Andere und dieses Mehr: Wir können es ersehnen und empfangen. Dazu helfen uns die Bilder der Liebe, die uns Jesus in seinem Reden von Gott vor Augen malt. Wenn wir sie verinnerlichen, können wir selbst Liebende ­werden.
Der Benediktinerpater Anselm Grün bezeichnet die biblischen Geschichten als Bilder der Seelsorge: „Biblische Bilder sind nicht in ­erster Linie Vorbilder, die wir nachahmen müssen, sondern Urbilder, die sich in uns bilden und die das in uns hervorlocken, was Gott uns an Möglichkeiten geschenkt hat. Wenn wir uns auf die biblischen Bilder einlassen, dann bewirken sie etwas in uns und verändern ­unser Sein und Verhalten, ohne dass wir uns konkrete Vorsätze machen müssen. Sie wirken über das Unbewusste. Sie verändern die Voraussetzungen für unser Handeln. Ohne dass wir es merken, prägen sie unser Denken, Reden und Tun. Sie geben uns eine neue Ausstrahlung, denn sie lassen das ­Geheimnis Gottes selbst durchschimmern. Auf den seelsorgerlichen Dienst bezogen heißt das dann, dass die Wirkung unseres seelsorgerlichen Tuns in erster Linie von dieser Ausstrahlung bestimmt wird, nicht von richtigen und falschen Methoden.“
Wenn wir die Bilder der Bibel betrachten und meditieren, gelangen sie in unser Herz und führen uns in etwas Neues. Es geht darum, die Texte mit mir und meinem Leben in Verbindung zu bringen, damit die Botschaft Jesu mich und mein Herz erreicht.
 
Am Ende möchte ich aus der Geschichte vom ­verlorenen Sohn (Lukas 15) einige Wesenszüge des Vaters hervorheben:
Der Wunsch, sein Erbteil vor dem Tod des Vaters ausgezahlt zu bekommen, ist in der damaligen ­Gesellschaft absolut verwerflich. Doch der Vater ließ es zu, er ließ seinem Sohn den freien Willen. Als der Sohn nach langer Abwesenheit auf dem Weg nach Hause war, sah der Vater ihn, als er noch weit entfernt war. Jemanden schon von ­weitem zu sehen, und in diesem heruntergekommenen Zustand auch von weitem zu erkennen, heißt ihn zu erwarten. Dieser Vater hatte sein inneres Auge niemals von seinem Sohn abgewandt. Als er den Sohn sah, jammerte es ihn und er lief ihm ent­gegen. Der Vater saß nicht auf einem hohen Ross und wartete auf die reumütige Entschuldigung, nein, er machte sich selbst auf den Weg, seinem Sohn ent­gegen. Er schenkte eine neue innige Beziehung, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Und er betonte, wie viel er ihm bedeutet, wie sehr er ihm gefehlt hatte, ­indem er ihn ein Festkleid anziehen ließ, er erneuerte ihre Verbundenheit, indem er ihm einen Ring ­ansteckte. Er ließ ein Festmahl bereiten. Der Vater hob ihn durch seine Zuwendung wieder in den Status seines Sohnes. Er freute sich über seinen Sohn und war fröhlich mit ihm.
 
Wenn ich mich jetzt einmal an die Stelle des ver­lorenen Sohnes setze, könnte die Botschaft vielleicht so heißen: Ich (Name), bin ein Kind meines Vaters, ein Kind Gottes. Mein Vater lässt mir meinen freien Willen, er lässt es auch zu, dass ich mich durch eigene oder fremde Schuld von ihm entferne und dadurch in Not und Elend gerate. Doch es ist ihm nicht gleichgültig. Er lässt mich nicht aus dem Blick. Er erkennt mich in meinen verschiedenen Lebenslagen immer wieder als sein Kind an, er erwartet mich. Er kommt mir entgegen. Er vermittelt mir meine Würde als sein Kind in neuer und besonderer Form. Er ist fröhlich mit mir und freut sich, mit mir zusammensein zu können.
Allerdings muss ich mich auch manchmal fragen: Wo bin ich eigenwillig? Wo lasse ich mich von Illusionen und Versprechen verlocken und täuschen? Womit traue ich mich nicht, zu meinem Vater zu gehen? ...
Diese Situationen darf ich Jesus bringen und um Veränderung, um Vergebung und um Heilung bitten und darin zugleich Gott als Vater neu erfahren.
 
Ich möchte Sie dazu ermutigen, solche heilenden Bilder aufzunehmen, ihnen nachzuspüren und sie zu verinnerlichen.
Durch das Erleben des Vaters in den Geschichten der Bibel geschieht die Heilung des Vaterbildes und wir lernen unseren Vater im Himmel, wie er wirklich ist, immer besser kennen.
 
Verwendete  Literatur :
Anselm Grün: „Biblische Bilder einer heilenden Seelsorge,
Grünewald-Verlag, Mainz 2002”
Ed Piorek: „Nahe am Vaterherz”, Gerth Medien, Asslar 2001

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