Susanne Sandherr
Paul Gerhardts Adventslied (EG 11) „Wie soll ich dich empfangen?“ ist vielen Menschen aus dem Bachschen Weihnachtsoratorium vertraut. Johann Sebastian Bach hat die erste Liedstrophe, allerdings mit der für „O Haupt voll Blut und Wunden“ verwendeten Melodie Hans Leo Hasslers, in die erste Kantate des Weihnachtsoratoriums aufgenommen.
Wie soll ich dich empfangen…? Mit dem großen und beliebten Oratorienwerk reiste diese Frage durch die Welt und erreichte so eine noch weitaus größere als die kirchliche Öffentlichkeit. Im Evangelischen Gesangbuch wird der Text von der Melodie Johann Crügers, des Gerhardt-Freundes und langjährigen Kantors der Berliner St.-Nikolai-Kirche, an der Paul Gerhardt seit 1657 Pfarrer war, begleitet.
Wie soll ich dich empfangen? So fragt, wer liebt. Dem Menschen, den ich liebe, der mir viel bedeutet, möchte ich einen schönen, einen ihm angemessenen Empfang bereiten. Vielleicht habe ich diesen anderen schon häufig gesehen und mir nie viel dabei gedacht, vielleicht sind wir schon länger bekannt, aber jetzt ist es Liebe. Jetzt ist es anders. Jetzt werden wir uns nicht nur über den Weg laufen, wir werden uns begegnen. Eine bisher unbekannte Spannung erfüllt mich; es ist wahr, die alte Unbefangenheit ist fort. Eine Unsicherheit, ein Bangen kommen ins Spiel, aber sind sie nicht besser als meine Gleichgültigkeit und sogar als mein Gleichmut?
Wie soll ich dich empfangen? Du sollst dich ja willkommen fühlen, zu Hause sein bei mir. Das wünsche ich mir sehr. Und ich selber möchte auch im rechten Licht gesehen werden. Ich liebe, darum möchte ich geliebt werden. Ob das gelingt? Ob ich dir gerecht werde, ob ich dir recht sein werde? Ob es dir hier, bei mir, gefallen wird? Ob ich dir gefallen werde? Wirst du mich im rechten Licht sehen? Wie soll ich dich empfangen? Du bist so besonders, bis einzig, ich liebe dich ja. Wie soll ich dich empfangen? Das bedeutet eigentlich: Ist meine Liebe dir recht? Wird sie dir gerecht?
Paul Gerhardts Lied stellt und beantwortet diese Fragen. Der Dichter baut sein Lied sorgfältig auf. Oder ist es einfach der Gang der Dinge, die bewegende, affektive Erfahrung, die er gemacht hat, die er machen durfte, als er sich einmal selbst in Furcht und Hoffnung die Frage stellte: Wie soll ich dich empfangen? Vielleicht trifft beides zu: Das Lied ist kluge und geglückte Kunst, und gerade so lebendiges Zeugnis.
Es besteht inhaltlich aus zwei gleich langen Einheiten, die wichtige Entsprechungen aufweisen, sich aber durch Sprecher bzw. Adressaten unterscheiden. In den Strophen eins bis fünf spricht ein liebendes Ich dankbar und rühmend zu und von seinem Geliebten, der Jesus selbst ist. In den Strophen sechs bis zehn singt ein offenbar von Jesus selbst erleuchtetes Ich (vgl. die erste Strophe: „O Jesu, Jesu setz / mir selbst die Fackel bei, / damit, was dich ergötze, / mir kund und wissend sei“) einer noch verzagten, betrübten und leidgeprüften Gemeinde (sechste Strophe: „du hochbetrübtes Heer“), die nun zumeist in der zweiten Person Plural angesprochen wird („ihr“, „euch“), Trost und Mut zu.
Wie soll ich dich empfangen? Für Liebende eine immer mit Zittern gestellte Frage. Darüber kann auch die heute gesellschaftlich gebotene „Coolness“ in Beziehungen nicht hinwegtragen, hinwegtrügen. Der geliebte Andere ist immer der Beste, Schönste, Bedeutendste; ich liebe ja.
Wie soll ich dich empfangen? Wird meine Liebe dir gerecht? Das ist eine Frage des Ichs an sich, aber zugleich ist diese Frage, zuerst und zuletzt, an den geliebten Anderen gerichtet. Denn nur der andere hat die Antwort, ist die Antwort, nur er kann es sagen, das lösende, erlösende Wort.
Wie soll ich dich empfangen? Der, dem diese Frage in Paul Gerhardts Lied gilt, ist niemand anderes als Jesus selbst, „aller Welt Verlangen“ und „meiner Seele Zier“ (erste Strophe). Der Geliebte, dem ich begegnen will, ist nicht nur mein Geliebter, sondern der eine, nach dem die ganze Welt sich sehnt und sich ausstreckt, wie auch der einhellige dreifache, hoch emotionale Ausruf „o“ (erste Strophe) unterstreicht.
Wie soll ich dich empfangen? Die ersten fünf Strophen entfalten in reichen Variationen die überraschende, aber wohl einzig mögliche Antwort. Es ist eine Antwort, die sich das Ich nicht selbst geben kann, höchstens ein Ich, dem der andere, Jesus selbst, ein Licht, sein Licht, aufgesteckt hat. Das nüchterne Licht unserer Alltagsvernunft reicht wohl nicht aus, eine solche Antwort zu finden, so hoch Nüchternheit zu schätzen ist. Schon gar nicht genügte hier das trübe Licht einer verkümmerten Rationalität, die nur noch in Tausch- und Marktwerten denkt, die also nicht denkt, sondern rechnet, selbstsüchtig und ignorant.
Wie soll ich dich empfangen? Das von Jesus, dem Mensch gewordenen Wort, erleuchtete Ich findet die Antwort, nähert sich ihr an oder wird von ihr ergriffen, denn es erinnert sich in vielgestaltigen biblischen Bildern an all das Liebe und Gute, das ihm von Jesus her wiederfahren ist. Es ist Rettung, es ist Befreiung, es ist Geschenk, es ist Erhebung, es ist Freude. Es ist überwältigend.
Die fünfte Strophe verdeutlicht, was hinter diesen existenziellen Wohltaten steht – und was gewiss nicht: kein noch so subtiles und sublimes Kalkül, in dem der Mensch am Ende doch funktionalisiert und verzweckt würde. Nein, „nichts , nichts hat dich getrieben / zu mir vom Himmelszelt / als das geliebte Lieben“.
Aus lauter Liebe, aus lauterer Liebe, aus Lieb‘ allein, aus der Liebe des einen, der sich der Liebe Gottes ganz geöffnet hat, ist das ewige Wort zur Welt gekommen, dem Ich und zugleich „aller Welt“ (vgl. erste und fünfte Strophe) zu Hilfe, zur Freude, zum Heil.
Fragen können beflügeln, aber auch belasten und bedrängen. Die bange Frage: Wie soll ich dich empfangen? verliert nun ihre bedrängende, beschwerende Macht. Ein Knoten hat sich gelöst, dem Liebenden wird es leichter ums Herz. Er kann Jesus „empfangen“ – weil Jesus ihn immer schon „so fest umfangen“ hat (fünfte Strophe). So fest umfangen, darf und kann ich dich empfangen. So soll ich dich empfangen.
Ein Ich, das dies erfahren durfte, hört vielleicht nie auf zu fragen, aber es hört auf zu zweifeln, und ganz sicher beginnt es, ganz neu zu lieben, nicht in einer Allerweltsliebe, aber in einer Liebe zu aller Welt (fünfte Strophe). Eben diesen Weg zeichnet das Lied nach, dessen zweiter Teil (sechste bis zehnte Strophe) von der Zuwendung des Ichs zu einer verzagten Gemeinde, zu den Brüdern und Schwestern, singt.
Die befreiende Erfahrung der Liebe Gottes in Jesus, die allem menschlichen Lieben zuvorkommt und dieses immer schon „so fest umfangen“ und so zum Lieben und liebenden Empfangen beflügelt und befähigt hat, gibt das Ich nun weiter an das hochbetrübte Heer (vgl. die sechste Strophe) der Mitchristen, bei denen noch Bangigkeit, Angst und Enge des Herzens die Oberhand haben.
Wie soll ich dich empfangen? Eine Frage, die wohl unausweichlich ist, wenn man liebt. Und doch eine Frage, die zu guter Letzt, wie das liebende Ich selbst, in Jesu geliebtem Lieben gut aufgehoben ist.
1. Wie soll ich dich empfangen
und wie begegn‘ ich dir,
o aller Welt Verlangen,
o meiner Seele Zier?
O Jesu, Jesu, setze
mir selbst die Fackel bei,
damit, was dich ergötze,
mir kund und wissend sei.
2. Dein Zion streut dir Palmen
und grüne Zweige hin,
und ich will dir in Psalmen
ermuntern meinen Sinn.
Mein Herze soll dir grünen
in stetem Lob und Preis
und deinem Namen dienen,
so gut es kann und weiß.
3. Was hast du unterlassen
zu meinem Trost und Freud?
Als Leib und Seele saßen
in ihrem größten Leid,
als mir das Reich genommen,
da Fried und Freude lacht,
da bist du, mein Heil, kommen
und hast mich froh gemacht.
4. Ich lag in schweren Banden,
du kommst und machst mich los;
ich stand in Spott und Schanden,
du kommst und machst mich groß
und hebst mich hoch zu Ehren
und schenkst mir großes Gut,
das sich nicht lässt verzehren,
wie irdisch Reichtum tut.
5. Nichts, nichts hat dich getrieben
zu mir vom Himmelszelt,
als das geliebte Lieben,
damit du alle Welt
in ihren tausend Plagen
und großen Jammerlast,
die kein Mund kann aussagen,
so fest umfangen hast.
6. Das schreib dir in dein Herze,
du hochbetrübtes Heer,
bei denen Gram und Schmerze
sich häuft je mehr und mehr.
Seid unverzagt, ihr habet
die Hilfe vor der Tür;
der eure Herzen labet
und tröstet, steht allhier.
7. Ihr dürft euch nicht bemühen,
noch sorgen Tag und Nacht,
wie ihr ihn wollet ziehen
mit eures Armes Macht.
Er kommt, er kommt mit Willen,
ist voller Lieb und Lust,
all Angst und Not zu stillen,
die ihm an euch bewusst.
8. Auch dürft ihr nicht erschrecken
vor eurer Sündenschuld;
nein, Jesus will sie decken
mit seiner Lieb und Huld.
Er kommt, er kommt den Sündern
zum Trost und wahren Heil,
schafft, dass bei Gottes Kindern
verbleib ihr Erb und Teil.
9. Was fragt ihr nach dem Schreien
der Feind und ihrer Tück?
Der Herr wird sie zerstreuen
in einem Augenblick.
Er kommt, er kommt, ein König,
dem alle Macht und List
der Feinde viel zu wenig
zum Widerstande ist.
10. Er kommt zum Weltgerichte,
zum Fluch dem, der ihm flucht,
mit Gnad und süßem Lichte
dem, der ihn liebt und sucht.
Ach komm, ach komm, o Sonne,
und hol uns allzumal
zum ewgen Licht und Wonne
in deinen Freudensaal.
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