Das Vernünftigste und Sinnvollste, was man in einer Zeit der allgemeinen Krise, Angst und Umwälzung tun kann, ist, für Menschen da sein, so wie Christus für die Menschen seiner Zeit da gewesen ist. Was dafür gebraucht wird, können wir von Jesus lernen, so wie es seine Jünger auch getan haben. Wir können auch von jenen Männern und Frauen lernen, die als Nachfolger Jesu Zeugen seiner Liebe zu den Menschen geworden sind. Dabei könnten wir für unseren Seelsorgeauftrag entdecken, dass er mit Menschen einen Weg gegangen ist, einen Raum durchschritten hat (nicht geografisch oder methodisch, sondern spirituell), in dem der Einzelne Veränderung erfährt. Es ist ein Raum, in dem Hören und Tun zum Schritt in die Freiheit wird. Das Bild vom Raum mit vier Wänden will helfen, das Geschehen der geistlichen Begegnung anschaulich und einsichtig zu machen.
Der Raum hat eine „Klagemauer“. Über ihr steht das Wort aus dem 62. Psalm geschrieben: „Schüttet euer Herz vor ihm aus, liebe Leute.“ Viele Psalmen geben lebendige Beispiele, wie Menschen in ihren persönlichen Bedrängnissen, Anfechtungen und der Not ihrer Schuld vor Gott klagten, trauerten und sich ausweinten.
Das aufrichtige Gespräch des Herzens mit Gott führt den Beter auf eine neue Ebene:
„Ich wartete auf Gott, und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien. Er zog mich aus der Grube des Grauens und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf einen Fels, dass ich sicher treten kann...“ (Psalm 40).
Menschen suchen Trost, Ermutigung und Hilfe zu einem neuen Anfang. Darum liegt an der Klagemauer ein wichtiger Auftrag für den Seelsorger: Da zu sein und zuhören, damit ein anderer sich aussprechen, klagen kann und Trost empfängt. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13), lässt Gott durch seine Propheten sagen. Und den Hirten seines Volkes gibt er die Weisung: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ (Jesaja 40,1).
Wer Menschen nicht nur oberflächlich begegnen will, wird dem nicht ausweichen können, woran sie leiden; und er wird lernen wollen zu trösten. Hier stehen wir vor einer ersten Schwierigkeit. Der Raum der geistlichen Begegnung fordert vom Seelsorger ein Element, von dem viele Mitarbeiter meinen, dass sie es nicht oder kaum mehr haben: Zeit.
Zeit zu haben und aufmerksam hinzuhören, das sind notwendige Voraussetzungen für echte seelsorgerliche Begegnung. Wer gleich ein „passendes“ Bibelwort parat hat, das die Klage des anderen abfangen soll, läuft Gefahr, sein Gegenüber mit billigem Trost abzuspeisen. Das vorschnelle Wort dessen, der nicht abwarten kann, bis der andere mit seiner Klage zu Ende gekommen ist, wird zum oberflächlichen Vertrösten und ist Zeitverschwendung.
Die zweite wichtige Aufgabe des Seelsorgers ist die hinter der Klage liegenden tieferen Ursachen der Not zu finden. Ratsuchende wissen in den meisten Fällen selbst nicht, worin ihre eigentliche Schwierigkeit besteht. So wird zunächst nur das berichtet, was umtreibt.
Durch Rückfragen lässt sich eine Schneise in den „Gefühlsdschungel“ schlagen, der die darunter verborgene Not überwuchert. Diejenigen, die sich ihr stellen, können Hilfe und Heilung finden.
Ein Mensch, der Hilfe sucht, spürt sehr schnell, ob sein Gegenüber sich ihm überlegen fühlt und mit Hilfe einer Technik das Problem „in den Griff“ bekommen will, oder ob er einen Menschen vor sich hat, der sich ihm und seiner Not persönlich zuwendet. Um von der Person her zu denken, ist es nötig, sich dessen bewusst zu bleiben, dass Seelsorge der Raum einer menschlichen Begegnung ist, in der beide Gott nötig haben. Beide werden in gleicher Weise von Gott geliebt und lassen sich nun in der Gegenwart Gottes aufeinander ein.
Sobald mein Gegenüber spürt, dass ich ihn für ein „bedauernswertes, armes Würstchen“ halte, dem ich eine Menge an Wissen und Glauben voraushabe, wird sich die Tür seines Herzens schließen, noch ehe sie sich recht geöffnet hatte.
Geistliche Begegnung hat auf der Seite des biblisch orientierten Seelsorgers zwei Voraussetzungen:
1. Die eigene Erfahrung von Grenzen; mit anderen Worten: Das Scheitern an mir selbst, an meinen Idealen, meinem Können und Wissen und das Zerbrechen meiner Illusionen.
2. Die Begegnung mit Jesus, der „das zerbrochene Rohr nicht zum Abfall schleudert“ (Jesaja 42,3), sondern zum „Instrument“ seiner Liebe macht.
In der inneren Verbindung mit Jesus wird das Gespräch für den Seelsorger zu einem Hören auf beiden Ohren: mit einem Ohr zum Nächsten und mit dem anderen zu Gott hin. Die Spannung, die dadurch entsteht, dass man Bruder und Hirte zugleich ist, gilt es auszuhalten. Es genügt nicht, sich neben das verlorene Schaf zu setzen und ihm seine „Mitschäflichkeit“ zu beteuern. So etwas löst weder aus Verstrickungen, noch bringt es auf den Weg in die Nachfolge Christi. Nun scheint es das einfachste zu sein, das „verirrte Schaf“ auf die eigenen starken Schultern zu nehmen und nach Hause zu tragen. Aber die Bindung an die starke Persönlichkeit eines Seelsorgers birgt erhebliche Gefahren, kann das Wachsen eines eigenständigen, belastungsfähigen Glaubens verhindern und ersetzt das Wachsen und Reifen einer persönlichen Beziehung zu Gott. Im ersten Augenblick ist diese Art der Seelsorge durchaus erfolgreich und in manchen Fällen anfangs nötig und unumgänglich. Die anstehenden Fragen finden eine Lösung, der Ratsuchende Hilfe und einen Menschen, dessen Ratschläge ihm vertrauenswürdig erscheinen. Schwierig wird es, wenn die Ablösung von der Person des Seelsorgers oder Beraters erfolgen soll; denn es ist eine Verbindung entstanden, die der andere in seiner Notlage brauchte und die er nun nicht mehr missen möchte. Seelsorgern, die zur christlichen Nachfolge ermutigen wollen, schlage ich einen anderen Weg vor.
Davon schreibt Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis an seinen Freund: „Ich glaube, ich bin ein schlechter Tröster. Zuhören kann ich, aber sagen kann ich fast nie etwas. Aber vielleicht ist schon die Art, in der man nach bestimmten Dingen fragt und nach anderen nicht, ein gewisser Hinweis auf das Wesentliche. Auch scheint es mir wichtiger, dass eine bestimmte Not wirklich erlebt wird, als dass man irgend etwas vertuscht oder retuschiert. … So lasse ich die Not uninterpretiert und glaube, dass das ein verantwortlicher Anfang ist, allerdings nur ein Anfang...“
Warum ihm wichtig ist, dass die Not zuerst einmal wirklich erlebt wird, schreibt Bonhoeffer im darauffolgenden Absatz: „Etwas, was bei mir selber und bei anderen immer wieder rätselhaft ist, ist die Vergesslichkeit im Bezug auf die Eindrücke während einer Bombennacht. Schon wenige Minuten danach ist fast alles von dem, was man vorher gedacht hat, wie weggeblasen. Bei Luther genügte ein Blitzschlag, um seinem ganzen Leben auf Jahre hinaus eine Wendung zu geben. Wo ist dieses ‚Gedächtnis‘ heute? Ist nicht der Verlust dieses ,moralischen Gedächtnisses‘ - scheußliches Wort! - der Grund für den Ruin aller Bindungen, der Liebe, der Ehe, der Freundschaft, der Treue? Nichts haftet, nichts sitzt fest. Alles ist kurzfristig, kurzatmig. Aber die Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Schönheit, alle großen Leistungen überhaupt brauchen Zeit, Beständigkeit, Gedächtnis, oder sie degenerieren. Wer nicht eine Vergangenheit zu verantworten und eine Zukunft zu gestalten gesonnen ist, der ist ,vergesslich‘, und ich weiß nicht, wo man einen solchen packen, stellen, zur Besinnung bringen kann“ (aus: D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung). Der Seelsorger Dietrich Bonhoeffer geht den Weg dessen, der zugibt, dass er die Not des anderen von sich aus nicht lösen, nicht beantworten kann. Aber sie können sich miteinander auf den Weg machen, der an die zweite Wand im Raum der Seelsorge führt.
An dieser Wand kann der Klage die Konfrontation mit dem tiefer liegenden Problem folgen, dem es sich zu stellen gilt. Warum nenne ich es nicht „Spiegelwand“? Es geht doch offensichtlich darum, sich der Wahrheit über sich selbst zu stellen, und was wäre wahrhaftiger als ein unbestechlicher Spiegel?
Bonhoeffer zeigt es menschlicher: „Wahrhaftigkeit heißt eben doch nicht, dass alles, was ist, aufgedeckt wird“ (aus: Widerstand und Ergebung). Kein Mensch würde das ertragen können, der ganzen Wahrheit über sich selbst ins Auge sehen zu müssen; und ein Spiegel wirft nun einmal das ganze Bild schonungslos zurück. Gott ist barmherziger. Er zeigt jedem von uns immer nur so viel über das eigene Wesen, wie er ertragen kann. Das genügt auch, um den nächsten Schritt zu erkennen, der aus der Not herausführt.
Es geht also bei der Stellwand nicht um ein Erkennen der umfassenden Wahrheit, sondern um Hilfe beim Erkennen dessen, was zu einem nächsten Schritt in die Freiheit führen kann.
Dabei wird der Seelsorger oft schon mehr für sein Gegenüber sehen, als er aussprechen darf. Denn das Wichtige beim Erkennen der Wahrheit ist, dass sie dem selbst aufgeht, den sie betrifft. Das erfordert mehr als nur therapeutisches Einfühlungsvermögen und seelsorgerliches Fingerspitzengefühl. Dazu bedarf es der zuchtvollen Gegenwart des Heiligen Geistes.
Die Wirklichkeit zu sehen, ist aber nur der erste und leichtere Teil vom Erkennen der Wahrheit. Dies erfordert darüber hinaus: Wahrheit in sich hereinzulassen, diese anzunehmen, sich ihr zu stellen und zu Konsequenzen bereit zu werden. Solch ein Sich-Öffnen ist allein im Raum der Liebe möglich.
Ein Weg führt über das dankbare Erkennen dessen, was mir anvertraut ist. Eines Tages hörte ich von einer norwegischen Hausfrau: „Ich arbeite in der wichtigsten Werkstatt des Atomzeitalters, wo die Zukunft gestaltet wird und die Gegenwart ihren Gehalt bekommt. Ich bin Hausfrau und Mutter von drei Kindern.“ Das war für mich eine ganz neue Sicht der bisher so eintönig erscheinenden Arbeit in Haushalt und Familie.
Ein anderer Weg führt über die Sündenerkenntnis. Wer Menschen auf dem Weg der Nachfolge ermutigen will, muss sich darüber klar sein, dass es nicht darum gehen kann, Sünde zu verharmlosen oder zu vertuschen. Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die, die um ihre Krankheit wissen. Wer befreiende Seelsorge empfangen will, wird Sünde beim Namen nennen und bekennen. Wer zu seiner Sünde steht, bekommt Vergebung und erfährt Heilung (1. Johannes 1,8-9). Wir sind schnell dabei, Sünde zu rechtfertigen, zu beschönigen oder zuzudecken. Das führt nicht zur ersehnten Befreiung, auch nicht zu einem neuen Anfang mit Gott und den Menschen. Gott kann Sünden vergeben, keine Erklärungen, Entschuldigungen oder Selbstrechtfertigungen.
Vielleicht fällt es uns leichter, Vergebung zu erbitten, wenn wir gestohlen, abgetrieben oder einen Menschen im Straßenverkehr getötet haben. Aber für Hochmut? Für Neid? Für Ehebruch? Haben wir auf dieses Menschlich-Allzumenschliche nicht ein gewisses Recht? Ist es nicht abwegig, verkrampft, an den Haaren herbeigezogen, dafür Vergebung zu erbitten?
Wer meint, auf die vergebende Barmherzigkeit Gottes verzichten zu können, wird die Gemeinschaft mit Jesus immer als einen anstrengenden Weg sittlicher Hochleistung missverstehen. Wer als Mühseliger und Beladener zu Jesus gekommen ist, dem wurde eine Lebenslast abgenommen, der wurde befreit.
Befreit wozu? Zum Lieben. Denn das ist der Wille Gottes mit uns, dass die, die mit uns auf dem Weg sind, lieben und mittragen. Und wem viel vergeben ist, der liebt viel! (Lk 7,47).
Wie redet man mit einem jungen Christen über Hochmut und Neid? Wir brauchen eine Brücke für das notwendige Gespräch über den Glaubenshintergrund des anderen.
Das führt uns an die dritte Wand im Raum der Seelsorge.
Sie macht das Zimmer hell, denn hier scheint die Sonne zu jeder Zeit herein. Hier wird Durchsicht möglich, weil die Sonne, die hereinleuchtet, das Evangelium von Jesus Christus ist. Die Glaswand ist der Ort, an dem die Botschaft von der Liebe Gottes an den Einzelnen ausgerichtet wird. Viele hören das zum ersten Mal in ihrem Leben, auch wenn sie schon lange Zeit Mitglieder ihrer Kirche sind: Du, du ganz persönlich bist von Gott gewollt, wirst von ihm geliebt, und er braucht dich hier in der Welt an einem Platz, den kein anderer so ausfüllen kann wie du. Darum ist es so wichtig, dass du deine Bestimmung von Gott her erkennst und dass der Weg, den er dich führen will (oder bisher geführt hat), sein Weg mit dir ist.
Die meisten Menschen sind heute geistlich unterernährt. Aber ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ist darum nicht geringer. Dazu kommt bei vielen die existenzielle Frage nach einem Sinn für ihr Leben, nach etwas, wofür es lohnt, sich einzusetzen. Liegt hier nicht eine einmalige Chance für uns, die wir von der Botschaft des Neuen Testaments gepackt und erfüllt sind, das weiterzugeben, was die Grundlage unseres eigenen Lebens und Denkens geworden ist? Wer eben erst selbst den Weg der Nachfolge beschritten hat, kann das weitervermitteln, was ihm selbst geholfen hat, seinen Weg zum Leben zu finden. Etwas anderes wird nicht gefordert. Und das gilt nicht nur für Seelsorgegespräche. Wir sollten jederzeit bereit sein zu antworten, „wenn uns jemand nach dem Grund unserer Hoffnung fragt“ (1. Petrus 3,15).
Dazu ist es notwendig, seinen bisherigen Lebens- und Glaubensweg zu durchdenken und sich zu fragen: Was bedeutet mein Glaube für mein Leben? Wie hat er mir in den Krisen meines Lebens geholfen? Womit bin ich gescheitert? Worin hat sich seine Tragkraft bewährt?
Der andere hat ein feines Gespür für das echte Lebenszeugnis im Unterschied zu christlichen Richtigkeiten. Eine Botschaft, die aus dem Herzen, aus der eigenen Überzeugung kommt, weckt Glauben und ermutigt zum Sprung über den Abgrund der Not oder des Leids in die bergende Hand Gottes.
Seelsorge als Ermutigung zur Nachfolge braucht Seelsorger, die das Wort Gottes lieb gewinnen, darin leben und sich damit auskennen. Wer im Gespräch aufs Geratewohl in der Bibel zu blättern beginnt, um ein hilfreiches Wort für den anderen zu finden, wird nicht unbedingt das Vertrauen seines Gegenübers gewinnen. Es kann jedoch jedem geschehen, dass er kein Wort bereit hat, das die Situation des anderen von Gott her erhellen könnte.
Manchmal hilft es, ein Gleichnis oder eine Begebenheit der Bibel so zu erzählen, dass dem Gegenüber die Gleichzeitigkeit seiner Erfahrung erkennbar wird.
Vor der Glaswand zu stehen bedeutet, dass die konkrete Lebenserfahrung durch das Evangelium in einen neuen Zusammenhang gestellt wird. Von da wird eine Durchsicht auf die Realität der Liebe Gottes möglich.
Erst dann, wenn es gelungen ist, uns Gottes suchende und befreiende Liebe so vor Augen zu malen, dass der andere sein Herz dafür zu öffnen wagt, wird ein Wort zum Nachdenken über den weiteren Weg sinnvoll, z. B.: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen“ (Sprüche 23,26).
Als Kind habe ich dieses Wort nicht gemocht, weil ich seinen Wortlaut immer so verstand: Lass meinen Augen deine Wege wohl gefallen. Ich hielt Gott für einen übergroßen, unsichtbaren Polizisten, der alles sieht und mit Argusaugen jeden meiner Schritte überwacht, bereit, mich bei der geringsten Abweichung vom richtigen Weg zu bestrafen.
Viele Christen haben ein ähnliches Gottesbild. Tatsächlich meint das Wort aus den Sprüchen das Gegenteil. Es beschreibt das Liebeswerben Gottes um das Herz seines Kindes. „Gib mir, mein Sohn...“ heißt es da. Nicht: Du unscheinbares, ungehorsames Geschöpf! Sondern „mein Sohn“, „mein Kind“! „Gib mir dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen“, die Wege, die ich dich bisher geführt habe, die Wege deiner Kindheit und Jugend. Gib mir nachträglich dein Einverständnis; nicht, weil sie leicht gewesen sind oder so, wie du sie gern gehabt hättest, sondern weil es meine Wege für dich sind und du mir so viel bedeutest wie ein Kind seinem Vater. Du kannst mir getrost vertrauen.
Es braucht Zeit und Geduld, bis die oft schweren oder schuldhaften Erfahrungen des eigenen Lebens ans Licht kommen. Das Aussprechen ist der Anfang des Verarbeitens, aber noch nicht die ganze Befreiung, es kann das Vergangene nicht bewältigen, beseitigen oder heilen. Ebenso wenig hilft hier eine schnelle, fast aufgedrängte Beichte weiter. Es lohnt sich zu warten, bis im anderen der Wunsch nach Vergebung gewachsen ist. Der Beichte muss die Sehnsucht nach Befreiung von der Last und Schuld vorausgehen; anders ist die Barmherzigkeit Gottes nicht zu erfahren und anzunehmen.
Viele junge Christen leben heute in ihrer Alltagspraxis in einer unvorstellbaren Gottesferne. Sie sind erfüllt von dem, was ihnen die christliche Gruppe an Heimatgefühl und Jesus-Enthusiasmus vermittelt, aber gleichzeitig kleben sie geradezu am Ehrgeiz, am Erfolg, an menschlichen Sicherheiten, an ihrer Bequemlichkeit oder an einem bestimmten Partner. Sie meinen es mit ihrem Glauben subjektiv ehrlich, doch die kleinste Bewährungsprobe im Alltag stürzt sie nicht nur in tiefe Zweifel, sondern oft auch vom Sockel ihrer selbstgebastelten Gottesbeziehung.
Wie leicht wird in einem solchen Fall der Kinderglaube, der in der Bewährungsprobe nicht standgehalten hat, einfach abqualifiziert! Was gebraucht wird, ist eine Seelsorge, die die natürliche Sehnsucht des Menschen nach Partnerschaft und Liebe einschließt, aber auch um die Macht des Eigenwillens weiß, der den „Willen Gottes“ für seine eigenen Zwecke einspannt, wo immer er unerkannt herrschen darf. Nimmt man dem Eigenwillen den Gegenstand seiner Liebe weg, so verwandelt sich das, was vorher wie Liebe aussah, in Abwehr, sogar in blanken Hass. Hass wirkt zerstörerisch bis zur Selbstzerstörung.
An der Glaswand kann die Hinwendung zu einem Leben auf einer neuen Ebene statt finden. Sie kann, aber sie muss nicht. Der Wille des Menschen hat von Gott die Freiheit verliehen bekommen, zu wählen. Diese Freiheit gilt es, in der Seelsorge zu respektieren. Der Seelsorger wird sich dem Werben Gottes mit ganzer Kraft anschließen; aber er wird dem anderen die Freiheit einer eigenständigen Entscheidung lassen müssen.
Wenn wir den anderen Gott überlassen, ist es tröstlich, sich klarzumachen, dass Gott ihn mehr liebt, als wir ihn je lieben können. Ebenso hilfreich ist es, den Dienst der Seelsorge in Zusammenhang mit dem ganzen Leib Christi zu sehen. Seelsorge ist kein Ein-Mann-Betrieb. Jesus sagt das so: „Wer die Ernte einbringt, erhält jetzt schon seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben. Er freut sich über seinen Lohn gleichzeitig mit dem, der gesät hat. Ich habe euch zum Ernten auf ein Feld geschickt, auf dem ihr nicht gearbeitet habt. Andere haben dort vor euch gearbeitet, und ihr habt den Vorteil davon“ (Johannes 4, 36-38).
Nur wer dieses Bild von der gemeinsamen Arbeit aller für das lebensnotwendige Brot vor Augen hat, kann ohne Leistungsdruck in der Seelsorge tätig sein.
Wer an der Glaswand sein Leben in bisher unbekannten Zusammenhängen sehen gelernt hat, wird zur vierten Wand im Raum der Seelsorge weitergehen.
Die Wand mit der Tür wird für ihn der Eingang zu einem neuen Lebensabschnitt. Ein solcher Schritt ist oft auch mit Angst verbunden. Denn der gleiche Mensch kehrt mit einer neuen Sicht in seine alte Umgebung zurück, die das, was er eben erfahren hat, oft nicht nachvollziehen kann. Da ist einerseits die Angst, sich doch wieder anzupassen und ins gewohnte, verhängnisvolle Schema zurückzufallen. Andererseits erscheint es ebenso schwer, zu dem zu stehen, was neu geworden ist und damit eventuell nicht mehr angenommen zu werden. Dazu kommt die Furcht, auf halbem Wege stecken zu bleiben, zu versagen, auf Dauer die neue Lebensart nicht durchhalten zu können.
Überwunden wird die Angst nur durch eine Zielsetzung, die darüber hinaussehen lässt. Es ist die Frage: Wie gewinnt mein Leben mit Gott Gestalt im Alltag? So bleibt der Glaube keine im luftleeren Raum schwebende abstrakte Überzeugung.
Es ist erstaunlich, wie viele Christen noch immer unter „Glauben“ vor allem das Fürwahrhalten von biblischen Berichten und Aussagen verstehen. Zinzendorf sagte: „Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft.“ Im Neuen Testament ist uns überliefert, wie die ersten Christen einander im Glauben ermutigten und stärkten: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und im Gebet“ (Apg. 2,42). Auf vier Säulen steht die Umsetzung ihres Lebens mit Gott: Sie suchten die Gemeinschaft mit denen, die mit ihnen auf dem gleichen Weg waren, und hielten sich (beständig) dazu. Hier wurden durch die Lehre der Apostel die Worte Jesu weitergegeben. Hier war es möglich, durch die Teilnahme am Liebesmahl zu schmecken und zu erfahren, dass Gott gegenwärtig ist und dass er jeden einzelnen und alle zusammen zu seinem Volk zählt. Ihn lobte man gemeinsam; durch die Anbetung wurde man Teil der Gemeinschaft der Heiligen in der Welt Gottes.
Auf diesen vier Säulen steht auch heute noch die Verwirklichung eines Lebens mit Gott.
Darum braucht jeder, der seinen Weg als Christ gehen will, eine Gemeinschaft, die seine „Heimatbasis“ ist. Nun sind wir in Gefahr, nach der idealen Gemeinde, in der wir auch das entsprechende Heimatgefühl vermittelt bekommen, zu suchen. Nach einiger Zeit erkennen wir dann, dass selbst in der kleinen, besonderen Gemeinschaft das, wonach wir uns gesehnt haben, nicht zu finden ist. Probleme bleiben in keiner Gruppe aus, auch nicht im selbst gegründeten Hauskreis. Deshalb ist es gut, die konkrete Gemeinde anzunehmen, zu der man gehört. Dietrich Bonhoeffer schreibt darüber ganz illusionslos in seinem Buch „Gemeinsames Leben“: „Christliche Bruderschaft ist nicht ein Ideal, das wir zu verwirklichen hätten, sondern es ist eine von Gott in Christus geschaffene Wirklichkeit, an der wir teilhaben dürfen. Je klarer wir den Grund und die Kraft und die Verheißung aller unserer Gemeinschaft allein an Jesus Christus erkennen lernen, desto ruhiger lernen wir auch über unsere Gemeinschaft denken und dafür zu beten und hoffen. ... Der Grund geistlicher Gemeinschaft ist die Wahrheit. ... Im Glauben sind wir verbunden, nicht in der Erfahrung.“
Warum ist besonders für den jungen Christen der Anschluss an eine Gemeinde so wichtig? Nur Kohlen, die gemeinsam mit den anderen im Feuer liegen, halten die Glut und können Wärme abgeben. Jede Kohle, und brenne sie noch so hell, erkaltet, sobald sie abgesondert wird. Damit Seelsorge nicht im isolierten Raum geschieht, braucht es die Gemeinde, die hinter dem Seelsorger steht.
Doch die Gemeinschaft allein genügt nicht, um das Leben mit Gott im Alltag durchzuhalten. Es braucht die persönliche Beziehung zu Gott. Sie muss von Jahr zu Jahr wachsen, sich vertiefen und wird eines Tages Früchte tragen.
Wichtig für das Wachstum des Glaubens ist, dass das Beten regelmäßig geschieht, dass es seinen festen Platz innerhalb der Stunden täglich bekommt. Ich halte feste Gebetszeiten für unerlässlich, wenn der Glaube im Leben eines Menschen zur Auswirkung kommen soll, wenn er in den Alltag, ins Denken und ins Handeln hineinwirken soll. Das Entscheidende für das neue geistliche Leben sollte keiner von sich, von der Gemeinschaft oder von guten Vorsätzen erwarten. Dass etwas neu wird im Leben eines Menschen und dass es wächst, kann man von Gott erbitten, und was wir im Glauben erwarten, das wird geschehen. Er kann eine Persönlichkeit verändern und Gewohnheiten umprägen.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Wachstum Zeit braucht. „Und bringen Frucht in Geduld“, sagt Jesus im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld. Er sagt es über den Samen, der aufs gute Land gefallen ist und dort ungestört wachsen kann. Gott jedenfalls erwartet nicht, dass das eben beginnende Leben aus dem Glauben sofort ein Erfolg wird. Er rechnet mit unserem Stolpern und Fallen. Und das ist zum Reifen notwendig, denn nicht ein makelloses, konfliktfreies Leben wird uns in die Nähe Gottes treiben und uns ermöglichen, „in Ihm zu bleiben“, sondern die Tatsache, täglich seine Vergebung und Hilfe in Anspruch nehmen zu können.
Immer dann, wenn ich den Eindruck habe, bei diesem Menschen hat etwas Neues begonnen, gebe ich ihm einen Zuspruch Gottes mit, ein Wort, an das der andere sich in schwierigen Situationen halten kann. Die Heilige Schrift ist voller Verheißungen, die dem gelten, der sich auf den Weg mit Gott einlässt.
Hier ist Seelsorge immer wieder neu die Ausrichtung der frohen Botschaft von der Liebe Gottes an den einzelnen, der beim Verlassen des Raums die Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt überschreitet und dabei der Gegenwart Gottes gewiss sein kann.
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