Selbstannahme als geistliche Haltung

Leanne Payne

Selbstannahme wurde einst als erstrebenswerte Tugend gelehrt. Neben den Kardinaltugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe, Weisheit, Gerechtigkeit, Maß und Mut) lehrten unsere Väter im Glauben weitere Tugenden, wie etwa die Geduld im Umgang mit dem Selbst. Über diese große ­Tugend schreibt Romano Guardini: „So muss der, der weiterkommen will, immer wieder von Neuem beginnen ... Geduld mit sich selbst ... ist die Grundlage allen Fortschritts.“ Andere Tugenden, die neben der so wichtigen Selbstannahme gelehrt wurden, waren zum Beispiel Wahrhaftigkeit, Loyalität, Ordentlichkeit, Unparteilichkeit, Dankbarkeit, Schweigen.1

Warum wurde die Tugend der Selbstannahme gelehrt? Einfach deshalb, weil niemand mit der ­Fähigkeit dazu geboren wird: Selbstannahme wird heute (wenn überhaupt) als psychosozialer Entwicklungsschritt in der Erziehungspsychologie gelehrt. Die Psychologen weisen auf mehrere Übergangsphasen zwischen der frühen Kindheit und dem Erwachsenenalter hin, die viele Schritte psychosozialer Entwicklung beinhalten. Verpassen wir einen Schritt, geraten wir in Schwierigkeiten.

Im Idealfall kommt der Schritt der Selbstan­nahme kurz nach der Pubertät. Er kann aber kaum vollzogen werden, wenn wir frühere wichtige Schritte im Identifikationsprozess ausgelassen haben oder wenn in der Pubertät die bejahende männliche Vaterfigur fehlt. (Mehr dazu in meinen Büchern Krise der Männlichkeit und Du kannst heil werden, bzw. unter dem früheren Titel Das zerbrochene Bild. Alle im Asaph-Verlag erschienen.) In diesen Fällen kommt es zu einem grundlegenden ungestillten Liebesbedürfnis.2 Es braucht Einsicht und Heilung, um den Weg für die Selbstannahme freizumachen. Wo sie fehlt, liegen aller Wahrscheinlichkeit nach schwere ­ungeheilte Erinnerungen an Ablehnung in der Vergangenheit vor.

Narzisstische Selbstbespiegelung

Pubertät und Adoleszenz ist für uns alle die narzisstische Phase. Wir beschäftigen uns vor allem mit unserem Körper. Wir betrachten uns im Spiegel, prüfen jede kleine Erhebung in unserem ­Gesicht, betrachten jeden Zentimeter unseres Körpers. Wir möchten wissen, ob wir zum Mann- oder Frausein die richtige Ausstattung haben, und haben Angst, dass etwas nicht stimmen könnte. Mädchen mögen die Größe ihrer Brüste nicht (sie sind entweder zu klein oder zu groß), die Form ihrer Beine, die Farbe und Struktur ihrer Haare, und so weiter, ad infinitum. Jungen konzentrieren sich oft auf die Größe (ihres Körpers und ihrer Genitalien), ihre körperliche Kraft und ihre ­Fähigkeiten im Sport. Oft leiden sie an schweren sexuellen Minderwertigkeitsgefühlen, wenn sie sich mit anderen vergleichen.

In dem Maß, indem wir es nicht schaffen, diese Phase narzisstischer Adoleszenz hinter uns zu lassen, werden wir in einer Form falscher Selbstliebe steckenbleiben. Schaffen wir es nicht, uns in rechter Weise zu lieben, dann werden wir es in falscher Weise tun. Die weit verbreitete morbide Praxis von Introspektion (Selbstbespiegelung)3 ist eine der häufigsten Manifestationen von Narzissmus. Um zu einer gesunden Persönlichkeit zu werden, müssen wir von dieser selbstzentrierten Phase zu einer vollen und sicheren Selbstan­nahme gelangen. Jeder, der sich nicht annimmt, ist in sich selbst gefangen.

Der Mythos von Narzissus ist die Geschichte der Adoleszenz. Der Jüngling Narzissus sieht sein ­eigenes Spiegelbild im Wasser und verliebt sich in sich selbst. Seine Aufmerksamkeit ist so sehr auf sein eigenes Bild gerichtet, dass er ins Stolpern gerät, ins Wasser fällt und ertrinkt. Die allermeisten Menschen haben diese Phase narzisstischer ­Adoleszenz, die C. S. Lewis das „finstere Mittel­alter in jedem Leben“ nennt, nicht wirklich hinter sich gelassen; es ist die Zeit, in der die „höchst unidealistischen Sinne und Bestrebungen ruhelos, ja manisch wach sind“. Er beklagt das Verschwinden der „Dimension der wahren Phantasie“, wenn die Seele in der Adoleszenz in die auto-erotische Phase kommt.4

Aber die Tatsache, dass sich ein Christ nicht an­genommen hat und diesen unreifen Narzissmus tatsächlich nicht ganz hinter sich gelassen hat, ist nicht immer offensichtlich. Als Mann kann er, auch wenn er in seinem Mannsein unbestätigt ist, sehr wohl auf das Bild des erfolgreichen Geschäftsmanns, Finanzmagiers, Priesters oder was auch immer fixiert sein. Wie Narzissus ist er „in sein eigenes Bild gestürzt“ und das authentische Selbst (mit allem seinem authentischen Verlangen) ist ertrunken. Dieser Mann kennt seine Identität als Person in Christus nicht; er erkennt sich noch nicht einmal als eine authentische Person. Er ist ein Mann mit einer Maske, dessen Wert und Identität in seinen Rollen liegen. Wie er gesellschaftlich wahrgenommen wird, ist für ihn wichtiger, als das, was er im Privaten ist. Mit seinen Rollen verdeckt er seine fehlende Selbstannahme. Seine Kinder aber wissen schmerzhaft um die Wahrheit. Solch ein Vater kann seine Kinder nicht bestätigen, kann sie nicht aus der Pubertät und Adoleszenz heraus zur Reife rufen. Er ist selbst ohne ­Bestätigung.

Karl Stern beschreibt, was mit einem Kind ­geschieht, das sich mit einem der Eltern nur über eine Rolle identifizieren kann. Das ist dann der Fall, wenn  „eine markante Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Rolle einer Person und der wahren Person vorliegt... Solch eine Kluft zwischen der äußeren Erscheinung und dem inneren Charakter existiert bei vielen von uns. Viele Psycho­logen treffen eine Unterscheidung zwischen dem ‚sozialen Ego‘ und dem eigentlichen Ego, zwischen ‚Rolle‘ und Person. Jung nannte das soziale Ego ,persona‘ im Unterschied zur eigentlichen Persönlichkeit. Das Wort persona hat mit der Vorstellung einer Maske zu tun. Die Schauspieler im antiken Rom trugen Masken mit Mundstücken, durch die die Worte hindurch-klangen (= personare). Die ­Person in ihrer gesellschaftlichen Rolle unter­scheidet sich oftmals beträchtlich von der Person in ihrem Privatleben. Viele Menschen werden von ­ihrer eigenen persona immer abhängiger. Ihr gesellschaftliches Ego, ihre Rolle als Bankpräsident oder Zugschaffner hat die gleiche Funktion wie das ­außenliegende Skelett der Schalentiere.

Sie sind so sehr mit ihrem gesellschaftlichen Ideal eins, dass sie zusammenbrechen, wenn man ihnen ihre Stellung in der Gesellschaft nehmen würde; nur wenig bliebe dann überhaupt übrig. Das heranwachsende kindliche Selbst ist für diese Dis­krepanz sehr empfänglich. Durch eine Reihe von Faktoren identifiziert es sich mit ihren gesellschaftlichen Idealen, statt mit Menschen aus Fleisch und Blut.“5

„Während des Prozesses der Identifikation absorbieren die Kinder unser Wertempfinden wie in ­einer Art Osmose. Wenn unsere Wertskala von ­einer äußeren Hierarchie geprägt ist, können un­sere Kinder nicht wachsen. Niemand kann von ­Unechtem leben.“6

Mangelnde Bestätigung

Man muss es eigentlich nicht extra erwähnen, dass lange Zeit auch Frauen in der Kirche gelehrt wurde (und zwar nicht durch die Schrift, sondern von denjenigen, die die Lehre über die Unter­ordnung der Frau missverstehen), ihre Identität nicht in Christus, sondern in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter zu finden.7 Wir begegnen ständig den Kindern solcher Mütter wie auch den ­Müttern selbst. Wurde die Mutter nicht genügend bestätigt, so dass die Kluft zwischen der wirk­lichen Frau und der Rollenmaske zu groß wurde, dann identifiziert sich das Kind nicht mit der Frau, sondern mit ihrem gesellschaftlichen Idealbild einer Frau. Das folgende Beispiel wird dies hoffentlich deutlich machen.

Eine Frau konnte keine Beziehung zu ihrer Mutter als einem Wesen aus Fleisch und Blut haben. Das gleiche Problem hatten die anderen Kinder in der Familie. Sie hatten aber das Glück, einen warmen, liebevollen Vater zu haben, der sich um seine Söhne und Töchter kümmerte. Gleichzeitig aber litten sie darunter, dass er seine Frau idealisierte und als „gesellschaftlich“ höher stehend behandelte. Und er hat diese Einstellung an seine Kinder weiter­gegeben, denn sie alle respektierten sie aus den gleichen Gründen, wenn auch nur aus Distanz.

Später hatte diese Tochter dann selbst ein idealisiertes und oberflächliches Selbstbild. Sie hatte sich nicht mit ihrer Mutter, sondern ihrem gesellschaftlichen Ideal von Frausein identifiziert. Das lebte sie ihr ganzes Leben lang aus. So konnte sie auch einen Mann nicht als eine reale Person ­sehen, sondern nur als jemanden, der das zu leben hatte, was sie als angemessene gesellschaftliche Rolle in Bezug auf ihr falsches Selbstbild als Frau ansah. Weil ihre Beziehungen zu anderen so verdreht blieben, kämpfte sie ihr ganzes Leben lang darum, sich selbst anzunehmen. Ihre Loyalität ­gegenüber ihren Eltern und deren Sicht der Realität war so stark, dass sie sich nie der Wahrheit über ihre eigenen Bedürfnisse stellen konnte.

Haben wir nicht gelernt, uns selbst anzunehmen, so ist es für uns wie auch für unsere Kinder von entscheidender Wichtigkeit, dass wir die große christliche Tugend der Selbstannahme suchen und finden. In dem Maß, in dem wir das nicht schaffen, vollziehen wir auch den der Pubertät folgenden Entwicklungsschritt nicht. Wir lassen die narzisstische Periode nicht hinter uns und bleiben in einer falschen Form von Selbstliebe stecken, selbst wenn das nur die Sorge über eigene „Minder­wertigkeit“ oder Mängel sein sollte. Wir sind dann nicht in der Lage, unsere Unzulänglichkeiten, ­unsere „Kleinheit“, freudig in dem Bewusstsein anzunehmen, dass Christus genug für uns ist. Wir können anderen keine Annahme schenken, wenn wir sie selbst nicht empfangen haben. In dem Maß, wie wir uns selbst nicht annehmen können, werden wir auch unsere Söhne und Töchter nicht bestätigen können; wir sind unfähig, die wahre Person im anderen zu sehen und herauszurufen. 

Quelle der Identität

Unsere Eltern sind unsere ersten Dialogpartner; von der Empfängnis bis zur Adoleszenz ist ihre Kommunikation mit uns entscheidend für unsere Entwicklung. Im Dialog mit anderen werden wir ins Leben gerufen.

Wenn unsere Eltern mit uns nicht oder in der ­falschen Weise kommuniziert haben, müssen wir lernen, dieses Defizit auf eine gesunde Weise wettzumachen. Wir dürfen schwerwiegende Defizite nicht leugnen, sondern müssen sie anerkennen und lernen, mit ihnen zurechtzukommen. Wir müssen unsere Reaktionen auf elterliches Kommunikationsversagen beachten und sie korrigieren. Dabei ist es wesentlich, dass wir unseren ­Eltern vergeben. Unsere tiefgreifenden Reaktionen auf die Mängel und Sünden anderer gegen uns machen einen Großteil dessen aus, was im Heilungsgebet zu bearbeiten ist. Wenn diese subjek­tiven Reaktionen erst einmal identifiziert sind, und wir uns mit der Hilfe Gottes daran machen, sie zu ändern, dann sind wir auf dem Weg, heil zu werden. In der tiefen und guten Kommunikation mit weisen Menschen und (in erster Linie) mit ­unserem himmlischen Vater kommt es dazu, dass wir mit diesen Dingen richtig umgehen können und beginnen, die Heilung, die wir brauchen, zu empfangen. Wenn unser innerer Mensch an einer klaffenden Wunde der Leere, einem Gefühl des Nichtseins leidet, dann wartet er vor allem darauf, das Wort, Christus selbst, zu empfangen. Und dann, mit Ihm, alle Worte des Lebens. Wahrheit, Liebe, Verstehen, Licht, Freude, Aufrichtigkeit dem gegenüber, wie die Dinge wirklich sind – all dies und noch vieles andere beginnt dann auf den Flügeln echter Kommunikation mit Anderen in unsere Seele zu fließen. Im Gespräch mit Gott, der anders ist als wir, entstehen wir.

 

Anmerkungen:

  1. Romano Guardini, The Virtues, Chicago: Regenery Company 1967, S. 6
  2. Das sind in erster Linie storge-Bedürfnisse, also nach familiärer ­Liebe. Storge, griechisch στοργή, storgē, ist die freundschaftliche Liebe und die Liebe von Familienmitgliedern untereinander. Eine nähere Beschreibung der vier Arten von Liebe vgl. C. S. Lewis, Was man Liebe nennt, Gießen 1995
  3. Vgl. Leanne Payne, Heilende Gegenwart, Asaph-Verlag, Lüdenscheid, Kapitel 12
  4. C. S. Lewis, Überrascht von Freude, Gießen 1992
  5. Karl Stern, The Third Revolution, S. 149
  6. Ebd. S. 150
  7. Vgl. Leanne Payne, Heilende Gegenwart, s.o., Kapitel 4

 

Aus Leanne Payne: Verändernde Gegenwart. Selbst­annahme, Heilung und Vergebung. Asaph Verlag, Lüdenscheid 1998

Von

  • Leanne Payne

    (USA) gilt als Pionierin im Bereich des Gebets um Heilung von Identitätskrisen und sexuellen Störungen. Als Gründerin und Vorsitzende von Pastoral Care Ministries (PCM) ist sie durch Veröffentlichungen und Seelsorge-Konferenzen international bekannt geworden. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.

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