Angela Ludwig lebt seit 1983 in unserer Gemeinschaft. Nach einigen Jahren an der Dialyse erhielt sie im August 2000 eine neue Niere, die ihr heute ein fast normales Leben ermöglicht. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen entstand folgender Beitrag.
Dankbarkeit kann ein ganzes Volk ergreifen und mitreißen. Das haben wir vor 15 Jahren erlebt, als Hunderttausende sich in den Armen lagen, weinten, tanzten, feierten und in die Gottesdienste strömten – denn ein Wunder war Wirklichkeit geworden: am 9. November 1989 fiel die Mauer. Der Dank für die neuen Freiheiten stieg damals wie von selbst in den Menschen auf und schaffte sich fröhliche und besinnliche Ausdrucksformen. Doch die spontane Freude ließ sich nicht konservieren.
Die Bibel weiß um das flüchtige Gedächtnis von uns Menschen und unsere natürliche Gottvergessenheit. Deshalb ermuntert sich der Psalmbeter immer wieder: Vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat! (Ps 103) Vergiß nicht den Geber hinter der Gabe. Jesus erzählt die eindrückliche Geschichte von den zehn Kranken, die durch die Begegnung mit ihm gesund geworden sind, aber nur einer vergißt nicht, ihm dafür zu danken. Neun zu eins ist das Verhältnis von der Vergeßlichkeit zur Erinnerungsfähigkeit in uns. Die „Dankbarkeit des Herzens“ fließt nicht einfach selbstverständlich, sondern muß von der Erinnerung bewußt genährt werden, damit aus dem spontanen Empfinden mit der Zeit eine „Tugend“, ein Lebensstil wächst: die Grundhaltung der Aufmerksamkeit Gott und Menschen gegenüber.
Sprachlich gesehen ist Danken im Deutschen von Denken abgeleitet. Es braucht ein entschiedenes Nach-Denken der großen und kleinen Wohltaten, die uns täglich widerfahren, um in eine Haltung des Staunens zu finden. Wir nehmen so viele Dinge für selbstverständlich und spüren ihren Wert erst, wenn wir sie entbehren müssen und das Leben einmal nicht so funktioniert, wie wir es voraussetzen: wenn mitten im Winter die Heizung ausfällt, am Morgen der Wagen nicht anspringt oder der Computer streikt; wenn wir die Arbeit oder Gesundheit verlieren. Wer alles, was ihm begegnet, nur noch als Selbstverständlichkeit hinnimmt, erlebt sich nicht mehr als ein Beschenkter und bringt sich selbst um die Freude, die mit dem Beschenktwerden einhergeht. Der Spiritual Joseph Sauer hat das einmal schön beschrieben:
„Gott, den wir den Geber alles Guten nennen, können wir keine Gegengeschenke machen. Aber wir können etwas, was Gott selber nicht kann: wir können ihm danken. Dank und Lob sind das einzige, was wir wirklich Gott schenken können. Und damit werden für uns die Selbstverständlichkeiten unserer Welt zu besonderen Dingen in unserem Leben, zu wirklich göttlichen Geschenken.“
Wenn wir den jungen Leuten, die ihr Leben für ein Jahr mit uns teilen, davon erzählen, löst das manchmal Skepsis aus: „Wieso soll ich danken, wenn mir gar nicht danach zumute ist? Ist das nicht Heuchelei?“
Wir gehen heute wie selbstverständlich davon aus, daß echt und ehrlich nur ist, was gefühlsmäßig nachvollzogen werden kann: Wenn ich keine Dankbarkeit empfinde, warum soll ich sie dann ausdrücken?
Aber Dank ist mehr als nur Gefühl, er ist die Antwort auf das Handeln Gottes, dem ich mich und alles, was mich ausmacht, verdanke. Er ist Ausdruck einer Beziehung, meines Vertrauensverhältnisses zu ihm. Jesus dankt dem Vater für fünf Brote und zwei Fische angesichts fünftausend hungriger Menschen – er dankt für die geringe Gabe, die er in Händen hält und betrachtet sie als Unterpfand, als Vorbote weiterer, viel größerer Gaben.
Danken ist eine Grundübung des Glaubens. Es will geformt und geübt werden, am besten schon früh. Auch wenn es nicht gerade blanke Freude in uns Kindern auslöste, wenn wir mal wieder Dankbriefe an die Oma und Patentante für Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke schreiben mußten... Aber die Erziehungsmaßnahme wirkte, heute gehört das zu den Selbstverständlichkeiten unseres Lebens.
Auch Israel sollte das Danken üben. Seine Feste, wie etwa das Passahmahl, sind Rituale dankbaren Erinnerns, die jede neue Generation mit hineinnehmen in das Handeln Gottes in der Geschichte des Volkes.
Wir haben davon gelernt und in unserer Gemeinschaft eigene Rituale des Erinnerns entwickelt. Zum Beispiel die gute Gewohnheit, in der Stille am Morgen „Dankpunkte“ zu sammeln, auch gerade dann, wenn uns nicht danach zumute ist. Es gibt immer etwas, wofür man dankbar sein kann: der gute Schlaf, Gesundheit, treue Freunde, gelungene Arbeit, der überraschende Besuch gestern, Frieden und Meinungsfreiheit in unserem Land... Gebete und Loblieder von Betern vor uns wirken dann wie Flügel, die das träge Herz aufwärts tragen und es für das Danken mit eigenen Worten öffnen. Danken hat eine große Verheißung, denn Wer Dank opfert, der preist mich; und da ist der Weg, daß ich ihm zeige mein Heil (Psalm 50, 23).
Immer wieder kommen wir als ganze Gemeinschaft am Ende einer Woche, in der Retraite und am Ende des Jahres zu einer Lob- und Dankfeier zusammen. Wir machen uns die vergangenen Ereignisse noch einmal bewußt und erzählen einander von den Geschenken, die wir erhalten haben, seien es nun Lebensmittelspenden, Bücherpakete oder unerwartete Hilfe, und von den großen und kleinen Wundern – in Krankheitszeiten, konfliktreichen Beziehungen oder einfach im Arbeitsalltag. Dabei wird viel gelacht, gesungen und gebetet. Wir erleben immer wieder, wie das unsere Blickrichtung verändert: weg von uns und unseren beschränkten Möglichkeiten, hin zu Ihm und Seinen unendlichen Möglichkeiten. Nach jedem Beitrag entzünden wir eine Kerze, so daß der Raum mit jedem Dankpunkt heller wird. Diese symbolische Handlung drückt aus, was auch innerlich passiert: Wer sich dem Licht zuwendet, in dem wird es hell.
Manchmal hatte ich vorher wenig Lust, mich auf die vielen Menschen und das ausführliche Erzählen einzulassen. Aber hinterher wußte ich, daß ich etwas verpaßt hätte, wenn ich nicht gekommen wäre. Denn Dankbarkeit ist Seelenhygiene. Sie reinigt mein Leben von Unzufriedenheit, Undank und der Angst, zu kurz zu kommen; und sie öffnet mir die Augen für die Fülle der Güte Gottes, in der wir leben.
Ich selber kann darüber entscheiden, wohin ich schauen möchte, wem oder was ich Macht über mich gebe.
Wende ich meinen Blick „nach unten“, dann entdecke ich bei mir, was alles nicht gelingt, wo meine Ansprüche nicht erfüllt werden, wer mir gerade schwerfällt und was mir eigentlich noch alles zustehen würde. Oder schaue ich „nach oben“, auf die Spuren der Güte Gottes in meinem Leben, dann nehme ich wahr, wo Wunden geheilt wurden und Versöhnung gelungen ist, wo ich bewahrt blieb, was mir gelungen ist und wo ich unerwartet beschenkt wurde.
Ein Beispiel dazu: Es war ein Wendepunkt für mich, als ich anfing, den Psalm 139 ernstzunehmen und zu praktizieren: Ich danke dir, daß ich wunderbar gemacht bin, das erkennt meine Seele... Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Unter diesem Blickwinkel mein ganzes Leben durchzugehen, half mir, mein verborgenes Nein zu mir selbst als Unrecht zu erkennen, die Vorwurfshaltung dahinter abzulegen und in das Ja Gottes zu meinem Leben einzustimmen.
Die Übung der Dankbarkeit verändert nicht die schwierigen Umstände des Lebens, aber sie verwandelt die Einstellung zu ihnen. Sie macht bewußt, daß wir in Wirklichkeitszusammenhängen leben, die weit über das hinausgehen, was wir im Moment wahrnehmen können. Das befreit aus Verblendung und Selbstzentrierung.
Bonhoeffer erinnert in seinem Buch Gemeinsames Leben: „Nur wer für das Geringe dankt, empfängt auch das Große.“ Mit Undankbarkeit, Klagen über unsere Armseligkeit, Schwäche, unserem Kleinglauben und dem Schielen nach den großartigen Erfahrungen und Gaben anderswo hindern wir Gott geradezu, uns mehr und Größeres anzuvertrauen.
Der französische Philosoph Gabriel Marcel nennt die Dankbarkeit einen Wächter am Tor unserer Seele, der uns vor den Kräften der Zerstörung schützt. Wie das praktisch aussehen kann, möchte ich an drei Beispielen illustrieren:
Eine junge Frau erzählte einmal eindrücklich, wie dankbare Erinnerungen für sie ganz konkret zur geistlichen Waffe in dunklen Tagen werden: „Wenn ich etwas sehr Schönes erlebe, wie gute Begegnungen oder eine gelungene Arbeit, habe ich mir angewöhnt, das in der ‚Stillen Zeit‘ immer wieder genau zu betrachten und mich an Einzelheiten zu freuen, wie an einem kostbaren Schatz, und mit Gott darüber zu reden. Ich habe eine innere ‚Schatztruhe‘, in der Phantasie kostbar gestaltet, in die ich diese Erinnerung behutsam ablege. Und ich übe mich darin, immer wieder dahin zurückzukommen und diesen Schatz hervorzuholen, mich an ihm zu freuen und Gott zu sagen, wie gut er mir gefällt. Der Weg vom Mich-Erinnern zum Danken wird mit der Zeit und der Übung immer kürzer und selbstverständlicher. Auch wenn es mir in dunklen Zeiten schlecht geht und ich im Hier und Jetzt nichts Dankenswertes entdecken kann, bleibt mir dieser ‚Schatz‘. Wenn ich ihn dann bewußt hervorhole, ist er automatisch eng verknüpft mit der Erinnerung an Helles und Dankenswertes und macht es mir leicht, mich an Gottes Zuverlässigkeit und an das, was mir mit ihm schon gelungen war, zu erinnern.“
Eine langjährige Mitarbeiterin hat sich im ersten Jahr ihres Christseins einmal auf folgendes Experiment eingelassen und erlebt, wie sich ihr Herz von innen her verwandelt und sich eine schwierige Beziehung verändert hat:
Im Nachdenken vor Gott über diese Beziehung fiel ihr ein, sie solle regelmäßig eine liebenswerte Eigenschaft des anderen suchen und dafür danken. Und das vier Wochen lang! Dabei machte sie drei überraschende Erfahrungen – 1. mit sich selbst: wie nachtragend und unwillig ihr Herz eigentlich war, Gutes beim anderen zu sehen; 2. mit dem anderen: sie konnte ihn allmählich ganz anders sehen; 3. mit Gott: daß er dem anderen die gleiche Liebe und Geduld zugesteht wie ihr auch.
Daß Danken lebensrettend sein kann, hat ein alter Freund in der schwersten Krise seines Lebens erfahren:
„Nach 49 überaus glücklichen Jahren starb meine Frau nach einer zunächst erfolgreich verlaufenen Operation unerwartet. Nun fühlte ich mich wie ein Wesen, dem man Dreiviertel seines Seins amputiert hatte. Das letzte Viertel versuchte, irgendwie zu überleben. Am 22. 1. wollte ich nicht mehr weiterleben. Da stieß ich auf die Losung aus dem 109. Psalm, Vers 30: Ich will dem Herrn sehr danken mit meinem Munde und ihn rühmen vor der Gemeinde. Ich hatte bis dahin weder beten noch an einem Gottesdienst teilnehmen können und Gott war mir ganz, ganz dunkel geworden. Und nun erfuhr ich: Je mehr ich danke, desto mehr Kraft bekomme ich, mit dem unsagbaren Leid fertig zu werden. Gewiß: Mein Danken klang recht jämmerlich, eher wie das Gejaule einer Katze, der man auf den Schwanz tritt. Aber so, wie Gott schon das ‚Abba, lieber Vater!‘ als vollgültiges Gebet annimmt, so auch das armseligste Danken. Und aus dem Danken gibt er mir bis heute Tag um Tag neue Kraft, auch dieses Restleben mit Freude zu durchleben.“
In den Psalmen schütten die Beter ihr Herz vor Gott aus, wie es gerade ist – mit allen Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und Zorn und klagen ihm ihr Leid. Sie bleiben aber nicht dabei stehen. Im bewußten Erinnern daran, wer Gott ist und was sie schon mit Ihm erlebt haben, geschieht die Wende: Ich danke dir, der du mich errettet hast vor meinen Feinden (Ps 18,49), ...weil du die Stimme meines Flehens erhört hast, Du meine Stärke und mein Schild (Ps 28,7). Im vertrauenden Ernstnehmen der Treue Gott weicht der Nebel des Unglaubens und die Sicht wird wieder frei und weit.
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