Die Verschleierung des Geschlechterkampfes

Wie die Religion zur Erniedrigung der Frau benutzt wird. Ergebnisse einer Kulturanalyse

Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban legte eine ausführliche Studie über „das Kopftuch in Koran und Sunna“ vor. Írisz Sipos, Mitarbeiterin der OJC-Redaktion, hat die wesentlichen Punkte herausgearbeitet und zusammengefaßt.

Ausgehend vom aktuellen „Kopftuchstreit“ erörtert Ralph Ghadban das mehrschichtige Phänomen des Verschleierungsgebots für Frauen aus islamischen Kulturen. Es geht ihm vor allem um die Frage: Welches Frauen-, welches Menschenbild liegt dem zugrunde? Die Frage rührt an den Kernkonflikt im Verhältnis der Geschlechter überhaupt – und das nicht nur im Kulturkreis des Islam.
Der promovierte Politologe und Dozent für Islamwissenschaften und Sozialarbeit an der Evangelischen und an der Katholischen Fachhochschule in Berlin hat einen spezifischen Blick auf die Thematik. Er argumentiert auf der Grundlage des Koran und seiner Überlieferungsgeschichte. Ghadbans Beitrag zur Debatte, der für Muslime und Nicht-Muslime gleichermaßen aufschlußreich ist, wird im folgenden vorgestellt und in Auszügen zitiert.

Die im Koran beschriebenen Verfügungen des Propheten Mohammed zur Sittlichkeit sind stets situativ begründet, sie beziehen sich auf die Regelung seines eigenen Familienlebens oder auf pauschale Normen bezüglich Kleidung und Auftreten von Frauen. Was den Begriff des Schleiers, „Hijab“ betrifft, ist jeweils der „Vorhang“ gemeint, hinter den sich die Frauen des Propheten zurückziehen, um dem Andrang der Gäste auszuweichen. Ghadban zitiert dazu die Stellen in Arabisch und in der Übersetzung von Max Henning. Er folgert:

Das Wort Hijab hat mit dem Schleier nichts zu tun. Er ist kein Kleidungsstück, kommt achtmal im Koran vor (7:46, 33:53, 38:32, 41:5, 42:51, 17:45, 19:17, 83:15) und hat nirgends diese Bedeutung. Das hat die Gelehrten trotzdem nicht daran gehindert, aus dem „Vorhang“ einen „Schleier“ zu machen und das nicht nur für die Frauen des Propheten, wie es im Vers ausdrücklich steht, sondern für alle Musliminnen.

Die Weisung des Koran, die Geschlechtsteile nicht zur Schau zu tragen, gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Anstand wird im Umgang miteinander gefordert – was angesichts der freizügig-rohen Sitten der Beduinen einen kulturellen Fortschritt bedeutet. Zur Zeit Mohammeds zeichnet die züchtige Kleidung, vornehmlich der Schleier, die Frau als vornehm aus und schützt sie so vor Übergriffen, denen Sklavinnen ausgesetzt sind.
Ein anderer Grund für seine Zeitgenossen, sich von den Standards der stark promisken nomadisierenden Kulturen des Raumes abzusetzen, ist die Sorge um die Garantie der Vaterschaft – die Voraussetzung für die Ausbildung der stabilen Gesellschaftsform des Patriarchats, das sich in der modernen, reichen Handelsstadt Mekka konsolidierte.
Diesen Maßstäben sollen die Rechtgläubigen entsprechen. Das Verhalten der Geschlechter wird also nach konkreten sittlichen und nicht nach abstrakt theologischen Kriterien definiert:

Im Koran sind Mann und Frau vor Gott gleich und im Leben ist die Frau dem Mann untergeordnet. Die Sexualität der Frau wurde zugunsten des Mannes kontrolliert. (...) Das Moralische war maßgebend und im Großen und Ganzen handelt es sich um eine Aufforderung zur Dezenz. Deshalb sehen die Islamreformer in ihrer Bekämpfung der Kleidervorschriften eine moralische Erneuerung des Islam. Mit der Sunna wurde später die Botschaft des Koran in eine andere Bahn gelenkt.

Erst die Sunna, bestehend aus den Nachfolgeschriften, den „Hadithen“, versucht, die Aussagen des Koran zu verallgemeinern, um daraus wieder konkrete Vorschriften abzuleiten:

Die früheste Hadithsammlung ist von Anas bin Malik, er starb 179 h [islam. Zeitrechnung]. Der späteste Autor An-Nisa’i starb 303 h. (...) Über zweihundert Jahre nach dem Tod des Propheten nahm die Sunna als zweite Quelle des Glaubens ihre endgültige Form an und reflektierte das Frauenbild der hiesigen patriarchalischen Gesellschaft.

Ghadban zeichnet die einzelnen Stufen der Stigmatisierung von Weiblichkeit in der Sunna nach. Die Mahnung zu dezentem Verhalten und Kleiden für Frauen und Männer wird durch die Umdeutung des Begriffs für Privat­sphäre, „`Aurah“, in eine Diffamierung der Frau schlechthin umgemünzt

`Aurah bedeutet Mangel. Es kann Mangel an Sehfähigkeit, daher A’war, d.h. Einäugige, oder Schwachpunkt in den Verteidigungslinien im Krieg oder Mangel an Schutz des eigenen Hauses oder der Privatsphäre heißen. Das Wort bedeutet auch die Schamgegend am Körper, die aus den Geschlechtsteilen besteht.
Im Koran kommt der Begriff `Aurah viermal vor, zweimal im Bezug auf Häuser (33:13), einmal in bezug auf die Privatsphäre (24:58) und einmal auf die Geschlechtsteile. (24:31)
Die Gelehrten definierten den Begriff `Aurah neu und unterschieden zwischen `Aurah im engeren Sinn, das sind Geschlechtsteile und Rectum (und bei der Frau zusätzlich die Pobacken), und `Aurah im weiten Sinn. Diese umfaßt beim Mann die Gegend zwischen Nabel und Knie, wobei die Gelehrten darüber streiten, ob Nabel und Knie dazu gehören oder nicht, manche schließen sogar die Oberschenkel aus. Bei der Frau ist ihr ganzer Körper eine `Aurah und die Gelehrten streiten darüber, ob Gesicht und Hände auch verdeckt sein müssen oder nicht.

Ein solches Verständnis leugnet die Möglichkeit jeglicher unverfänglichen Begegnung zwischen den Geschlechtern. Der Kontakt mit der Frau wird für den Mann zur Konfrontation mit der eigenen Scham:

In der Erläuterung des Hadiths „die Frau ist eine `Aurah, schreibt z.B. al-Ahwazi (798/1169): „ ...die Frau selbst ist eine `Aurah, weil man sich für sie schämt, wenn sie sich zeigt, genau wie man sich schämt, wenn es sichtbar wird.“

Wo dem Gegenüber – hier dem anderen Geschlecht – der Eigenwert abgesprochen und die Frau zur Projektionsfläche eigener Schwäche und Verführbarkeit reduziert wird, kommt es unweigerlich zu ihrer Dämonisierung:

Die Frau (...) ist verführerisch und teuflisch. Sie stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Männer dar. Außerdem ist sie schlecht. Ali soll gesagt haben: „Die Frau als ganzes ist böse. Und das Böseste an ihr ist, daß man nicht auf sie verzichten kann.“ (Charour 353). Ein Hadith bei Buchari besagt, daß die Mehrheit der Menschen in der Hölle aus Frauen besteht (Buchari 28).

Nicht nur bösartig soll die Frau sein, sie ist auch minderwertig, da sie aus der krummen Rippe gemacht wurde und daher von vornherein „verbogen“, unbelehrbar und unfähig ist, die Religion in ganzer Verantwortung zu praktizieren. Ihre biologische „Beschaffenheit“ disqualifiziert sie für geistliche und öffentliche Ämter.
Die demonstrative Verschleierung bzw. das Kopftuch, so argumentiert Ghadban in seinem Resümee, ist nicht per se Mittel zur Sexualisierung und Unterdrückung der Frau – dazu bedarf es des Schleiers gar nicht. Es ist jedoch im Kontext seiner traditionellen Deutung ein Signal, ein Zeichen für die Beschaffenheit der Frau als „’Aurah“, die es zu verhüllen gilt.
Wenn die Frau durch das Kopftuch ihre Würde (wieder-)erlangt, – wie Muslime oft behaupten, – dann kann es mit dieser Würde nicht weit her sein. Und wenn es sie vor sexuellen Übergriffen schützen muß, dann kann es mit dem Vertrauen in die Fähigkeit des Mannes zur Triebbeherrschung ebenfalls nicht weit her sein.
Hinter dem Kopftuch als politischem Bekenntnis. so der Autor, steht ein Gefüge von kulturellen Denkmustern, die den ethischen Normen moderner Gesellschaften nicht gerecht werden. Dies gilt es auch im aktuellen „Kopftuchstreit“ zu bedenken:

In einer Gesellschaft, in der die Erwartungen an die Selbstkontrolle der Menschen so hoch sind, daß auch die Vergewaltigung in der Ehe bestraft wird, ist es berechtigt zu fragen, ob diese Gesellschaft solche Vorstellungen akzeptiert und verkraftet. Es heißt schließlich im Grundgesetz Art. I: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Ralph Ghadbans Ausführungen stimmen nachdenklich. Die im Grundgesetz verankerten Werte waren auch hierzulande nicht immer selbstverständlich. So mancher zitierte Lehrsatz, der die Verunglimpfung der Frau religiös zu legitimieren sucht, wird uns aus unserer westlich geprägten Geschichte bekannt vorkommen.
Die aktuelle „Kopftuchdebatte“ und die sich anschließende Frage nach dem fatalen Zerbruch im Verhältnis der Geschlechter zueinander sollte uns veranlassen, die Wurzeln des Machtkampfes, der immer wieder in immer neuer Form aufflammt, aufzudecken, um ihn auf der Grundlage eines revidierten biblischen Menschen- und Gottesbildes zu überwinden.

Ralph Ghadban

Vortrag „Das Kopftuch in Koran und Sunna“, gehalten im Gesprächskreis „Islam und Gesellschaft“ der politische Akademie / Sektion Interkultureller Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), veröffentlicht in der Rubrik Dialog der Kulturen der Online Akademie der FES. Den Artikel finden Sie unter:  www.fes-online-akademie.de/ index.php?&scr=themen&t_id=4

Von

  • Írisz Sipos

    ist stellvertretende Chefredakteurin des Salzkorns und mitverantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der OJC-Kommunität.

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