Eine theologische Einordnung von Hanna und Heidi Josua. Sie sind in der arabischen Sprache zuhause und arbeiten seit Jahren in der Ausländerseelsorge. Ihr Schwerpunkt ist die sozial-diakonische und pastorale Betreuung arabisch-sprechender Immigranten sowie die Begleitung arabischer evangelischer Gemeinden in Süddeutschland.
Wenn im Gespräch mit Muslimen die Rede auf Jesus kommt, versichern sie stets, wie sehr sie Jesus, Isa Ibn Maryam - Jesus, Sohn der Maria, verehren und schätzen. Und jedesmal fällt der Satz: „Wir glauben an Jesus.“ In islamischem Verständnis steht Jesus an vorletzter Stelle der Prophetenkette, Muhammad dagegen an letzter Stelle. Nun handeln zwar 90 Koranverse von Jesus, seiner prophetischen, heilenden Tätigkeit, aber nur in fünf Versen wird über sein Ende berichtet, über die Kreuzigung selbst in nur einem Vers. Im Islam ist die Frage von Kreuzigung und Tod Jesu nicht zwingend, für ihn steht vielmehr das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes, der absolute Monotheismus im Vordergrund.
Der koranische Kreuzigungsvers steht in Sure 4, zwischen juristischen Passagen, Predigtteilen und erzählenden Elementen:
4,155 Verflucht wurden sie [die Leute des Buches, hier: die Juden] weil sie ihre Verpflichtung brachen, die Zeichen Gottes verleugneten, die Propheten zu Unrecht töteten ... 156 und weil sie ungläubig waren und gegen Maria eine gewaltige Verleumdung aussprachen; 157 und weil sie sagten: „Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet.“ Sie haben ihn aber nicht getötet, und sie haben ihn nicht gekreuzigt, sondern er erschien ihnen nur so. … Und sie haben ihn nicht mit Gewißheit getötet, 158 sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise.1
Die zahlreichen Übersetzungsvarianten des zentralen Verses 157 lassen die Problematik ahnen, v.a. die wissenschaftlich anerkannteste Koranübersetzung von Rudi Paret: „aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt“.
Der erste Deutehinweis ist der Kontext dieses Verses: Es ist die Kritik an einer Behauptung der Leute des Buches – ahl al-kitab (4,153), womit im Koran Juden und Christen als Besitzer göttlicher Offenbarungsschriften bezeichnet werden, die sie jedoch nicht mehr im Originalzustand bewahrt haben. Sure 4,153 macht deutlich, daß hier nur die Juden gemeint sind: In einem Lasterkatalog werden ihre Vergehen aufgelistet: Anbetung des Kalbes, Bruch des Sinaibundes, Tötung der Propheten, verhärtete Herzen und Unglaube, der sich äußert in der Verleumdung der Maria wegen Unzucht, was sie durch ihr uneheliches Kind als erwiesen ansahen, sowie ihr Prahlen, den Messias getötet zu haben.
Der zweite Deutehinweis ist das koranische Verständnis von Propheten. Nach dem Koran ist es ausgeschlossen, daß ein Prophet Gottes, der unter Gottes Sendung und Schutz steht, von Menschenhand getötet wird. Vielmehr errettet Gott seinen Gesandten aus der Hand der Feinde, denn seine Allmacht triumphiert über die Macht der Feinde Gottes. Seine Bewahrung ist größer als die Bedrohung durch Menschen. Da im koranischen Kontext die Kreuzigung ein Tod der Schande ist, ist sie gegen jeden Gesandten Gottes undenkbar.
Aus dem Korantext geht hervor, daß die jüdische Behauptung, Jesus gekreuzigt zu haben, Ausdruck des Unglaubens ist. Sie schmiedeten Ränke, wie sie Jesus töten könnten. Gott aber überbietet die menschlichen Ränke und erhebt Jesus zu sich. So steht die Kreuzigung im Spannungs- und Deutungsfeld zwischen göttlicher Bewahrung des Propheten vor einem gewaltsamen Tod durch Menschenhand und der göttlichen Bestrafung des Unglaubens. Die Bewahrung Jesu wird zum Beweis für Gottes Allmacht, „verkündet ad maiorem Dei gloriam“2. Nicht die Kreuzigung an sich wird in Abrede gestellt, sondern die gekreuzigte Person. Es war nicht Jesus, der gekreuzigt wurde, und es waren nicht die Juden, die ihn kreuzigten.
Allerdings: Aber wie geschah dann die göttliche Intervention? „Sondern er erschien ihnen nur so.“ Die arabische Wendung shubbiha lahum gehört zu den „wohl dunkelsten und daher umstrittensten Worten des ganzen Korans“3: shubbiha ist das Passiv Perfekt des II. Stammes von sh-b-h , so daß die Übersetzung lauten müßte: „es (oder: er) wurde für sie ähnlich gemacht“. Eine Variante4 liest hier das Aktiv shabbaha: „er hat ihnen ähnlich gemacht“, womit „Gott“ eindeutig als Substantiv feststeht. Die Koranübersetzer ringen bei ihren Übersetzungen um eine Lösung: „sondern dies wurde ihnen nur vorgetäuscht“ (Ibn Rassoul); „sie verfielen einer Ungewißheit“ (Adel Theodor Khoury); „vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich“, so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten (Rudi Paret); „sondern (durch Gottes Fügung) mußte er ihnen so erscheinen“ (Islam. Zentrum München). Am ehesten trifft Manfred Ullmann mit seiner Übersetzung „sie sind einer Täuschung erlegen“5 die koranische Aussage und umgeht geschickt die Unsicherheiten, wer wen auf welche Weise getäuscht hat.
Während der Koran über die Identität des Gekreuzigten schweigt, finden sich für die Frage nach dem Lebensende Jesu verschiedene Anhaltspunkte:
Für den Koran war Jesus also nur Mensch und starb folglich auch als Mensch. Diese Aussage wird ihm selbst in den Mund gelegt, er bezeugt sie selbst an verschiedenen Stellen des Koran. Zudem bestärkte Jesu ehrenhafter, seliger Tod nach dem Willen Gottes Muhammad darin, daß Gott auch ihn als den Nachfolger Jesu, als den letzten Propheten, „das Siegel aller Propheten“, in gleicher Weise sterben lassen und erhöhen wird, bewahrt vor den Feinden und vor Schande. Damit ist dem Tod Jesu jegliche Heilsdimension genommen, ja sein Sterben ist im Grunde unwichtig und braucht nicht einmal erwähnt zu werden.
In der Kreuzigungsfrage genügt es nicht, nur den Korantext heranzuziehen. Die mittelalterlichen Kommentatoren haben das Vorverständnis des Textes, ja sogar seine Übersetzung, geprägt. Den zahlreichen Deutungen spürt man das Ringen um eine Antwort ab.
Immer wieder finden sich in all diesen Deutungsversuchen Passagen, die aufhorchen lassen. So z. B. in einer Art „islamischer Passionsgeschichte“ des bereits erwähnten jüdischen Konvertiten Wahb Ibn Munabbih, in der sich neutestamentliche Anklänge finden: „Und als sie das Essen beendet hatten, begann er, ihnen die Hände zu waschen, und vollzog eigenhändig die rituelle Reinigung an ihnen. ‚Was ich heute Nacht an euch vollzogen habe, das Dienen zu Tisch und das Waschen der Hände, das soll euch ein Beispiel sein, denn ihr seht ja, daß ich der Beste unter euch bin. Jeder opfere sich für die andern, wie ich mich für euch geopfert habe.“11
Die islamische Tradition geht aber über die Erhebung Jesu hinaus und entwickelte eine eigene Lehre von der Wiederkunft Jesu. Danach wird er wiederkommen, um den Dajjal, eine Art Antichrist, zu bekämpfen und das Christentum zu vernichten: „Gott wird Isa herablassen als einen gerechten Richter und recht handelnden Imam. Er zerbricht das Kreuz, tötet das Schwein, schafft die Kopfsteuer ab.“12 Isa wird also bei seiner Wiederkunft das Kreuz als christliches Symbol zerbrechen und damit das Christentum zerstören, das als verfälschte und defizitäre Variante der ursprünglich abrahamischen Religion gilt. So sind es nach islamischer Tradition nicht die Muslime, die dem Islam zum endgültigen Sieg verhelfen, sondern Jesus selbst! Das Friedensreich Jesu wird aufgerichtet – aber über den Weg der Vernichtung des christlichen Kreuzsymbols und seiner Anhänger. Damit wird Jesus zum „die eigene Gemeinschaft tötenden Vollender des islamischen Endgerichts“.13
Im Zuge der Rückbesinnung auf den koranischen Wortlaut ohne den „Ballast“ der Tradition sieht die moderne Literatur spekulative Deutungen kritisch und beläßt es beim Wortlaut des Koran, der als absolute, nicht hinterfragbare Äußerung gilt. Das Lebensende Jesu bleibt bewußt im Dunkel des göttlichen Geheimnisses, in das es auch der Koran hüllt. So heißt es beim Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) schlicht: „Die Muslime glauben daran,... daß Jesus nicht gekreuzigt, sondern von Gott in den Himmel erhoben wurde.“14
Ahmad von Denffer, deutscher Konvertit und Leiter des Münchner Islamischen Zentrums, argumentiert unzweideutig: „Die koranische Aussage über die Kreuzigung Jesu ist die genaue Anti-These zur Aussage des Christentums. Gott kam nicht herab auf die Erde, um sich kreuzigen zu lassen, sondern Gott erhob Jesus, den seine Feinde kreuzigen wollten, zu sich und vereitelt die Kreuzigung überhaupt. Nicht der ohnmächtige Jesus leidet am Kreuz, sondern der allmächtige Gott rettet und schützt vor Leiden und Not.“15
Ähnlich die türkische Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG): „Schon alleine der Gedanke an die Kreuzigung ist absurd. Unter großer Demütigung und Schamverletzung begibt Gott sich ans Kreuz. Somit verflucht ER sich ja selber. Die Vorstellung der Christen, daß sich Gott so tief erniedrige, daß er sich von seinen Feinden, vom gemeinsten Pöbel verhöhnen, verspotten und mißhandeln lasse und daß ER schließlich zwischen zwei richtigen Verbrechern den schandvollsten und qualvollsten Tod erleidet, ist für den gläubigen Muslim eine Herabwürdigung seines Gottesbegriffes, welchen er seit seiner Kindheit in seinem Herzen trägt.“16
Deutlicher kann das Ärgernis des Kreuzes und der Kern des Evangeliums wohl nicht getroffen werden: das Kreuzesgeschehen ist eben kein isoliertes Ereignis, das geglaubt werden kann oder auch nicht – es ist untrennbar verbunden mit der Offenbarung des Vaters im Sohn, ja, es ist nur möglich aufgrund der Fleischwerdung und Selbsterniedrigung des uns in Liebe zugewandten Gottes.
Für den Koran ist die Frage der Kreuzigung Jesu eine offene Frage, und die klassischen Theologen waren sich der Vorläufigkeit ihrer Interpretationen sehr wohl bewußt. Sie überließen in den meisten Fällen Gott die letzte Entscheidung durch den Zusatz: „Gott weiß es besser.”
Vielleicht empfinden und erfassen Muslime das Skandalon der Niedrigkeit des Kreuzes viel besser als wir Christen. Haben wir Christen uns so daran gewöhnt, daß wir uns nicht mehr daran stoßen? Das Entsetzen über den Kreuzestod kann zum Entsetzen über den Abgrund der Sünde werden, die soviel Erniedrigung Gottes nötig macht. Nach Dietrich Bonhoeffer ist es nur die Bibel, die „den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes weist”17. Wenn Gott aber – wie im Islam – nur erhaben, stark und mächtig sein kann, dann fehlt ihm die Möglichkeit des Niedrigseins, der freiwilligen Entscheidung zur Selbsterniedrigung.
Durch die „Rettung“ Jesu im Koran wird das Geheimnis der Stellvertretung nur verlagert. Der Koran kennt sonst nur die Auslösung durch ein Tier, nie aber den stellvertretenden Tod eines Menschen. Was die Sühne von Sünde anbetrifft, so lehnt der Koran vehement jedes stellvertretende Tragen von Sünde ab. Warum sollte ausgerechnet in diesem Fall ein Mensch, womöglich noch ungefragt, die Last eines anderen Menschen tragen? Zu denken gibt die erwähnte Überlieferung von Wahb Ibn Munabbih, in dem er das Abendmahl schildert mit dem Satz Jesu: „Jeder opfere sich für die andern, wie ich mich für euch geopfert habe.“ At-Tabari, der größte und anerkannteste Korankommentator, zitiert diese Überlieferung als authentisch, so daß sie zum theologischen Allgemeingut geworden ist. Heute ist sie allerdings nirgends mehr zu hören.
Im Gekreuzigten zeigt sich Gott, der die Höhen und Tiefen der Welt durchschreitet. Hier zeigt sich sein Herz, seine Leidensfähigkeit, die darin gründet, daß der Mensch imago dei – Ebenbild Gottes – ist, mit unendlicher Würde. Um seinetwillen nimmt er diesen Tod auf sich.
Muhammad hatte ein feines Gespür für diesen Aspekt des Kreuzesgeschehens. Es ist sein triumphales Gottesverständnis, weshalb er diese Erniedrigung Gottes nicht einmal angreift, sondern sie in sprachlosem Entsetzen gleichsam totschweigt. Zugleich aber gibt der Koran selbst zaghafte Hinweise darauf, daß die später so radikal verstandene Ablehnung des Kreuzestodes Jesu einem konstruktiven Gespräch durchaus zugänglich ist. Ausgerechnet das Kreuz führte den römischen Hauptmann zu der Erkenntnis: „Dieser ist wahrlich Gottes Sohn gewesen.“ Das soll uns auch in der Begegnung mit Muslimen Wegweisung sein: In der persönlichen Begegnung mit dem Gekreuzigten kann diese Erkenntnis geschenkt werden.
1 Übersetzung: Adel Theodor Khoury.
2 Schreiner, Stefan. „Die Bedeutung des Todes Jesu nach der Überlieferung des Korans.“ in: Analecta Cracoviensia IX 1977. 351-360. S. 357.
3 Bauschke, Martin. Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Korans und die deutschsprachige Theologie. Köln: Böhlau, 2000. S. 163
4 Khoury, Adel Theodor. Der Koran. Arabisch-Deutsch: Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. I-XII. Gütersloh, 1990-2001. Bd 5, 252.
5 Ullmann, Manfred. Das Motiv der Kreuzigung in der arabischen Poesie des Mittelalters. Wiesbaden: Harrassowitz, 1995. S. 17.
6 Überliefert von dem jüdischen Konvertiten Wahb b. Munabbih im Korankommentar von at-Tabari, 9./10. Jh (Gami‘ al-bayan an ta‘wil ayi l-Qur‘an) 30 Bde. Kairo, 1903 / 1321 H.
7 Ausführliche Darstellung aller Theorien bei Bauschke, Jesus – Stein des Anstoßes.
8 zit. in Neal Robinson, Christ in Islam, S. 107.
9 In zahlreichen, meist polemischen Schriften.
10 at-Tabari, Kommentar zu Sure 4,157
11 sich opfern - badhala: Es ist dasselbe Wort, das in Röm 8,31 verwandt wird: „für uns dahingegeben“ und Joh 10,11 „der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe“.
12 Überliefert von Abu Hurayra, in at-Tabaris Kommentar zu Sure 3,55.
13 Raddatz, Hans-Peter. Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft. München: Herbig, 2001. S.332
14 www.islam.de/?site=forum/faq&di=answers, 19.4.2002
15 Ahmad von Denffer. Der Islam und Jesus, zit. in Bauschke, S. 169.
16 Auf der Homepage der Mannheimer IGMG-Moschee: www.fatih-moschee.com/2195.html, 18.3.2002
17 Eberhard Bethge (Hrsg). Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. München, 1970, S. 393
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