Neujahrspredigt zur Jahreslosung Lukas 22, 32
in der Evangelischen Michaelskirche in Reichelsheim
von Dominik Klenk
Ein gesegnetes Neues Jahr wünsche ich Ihnen allen. Gestern abend war noch einmal Gelegenheit, persönlich auf das vergangene Jahr zurückzublicken. Vielleicht hat der eine oder andere sich an das erinnert, was ihn bewegt hat: Schönes und Kostbares, zum Beispiel das Geschenk neuer Freundschaften, aber auch die Beständigkeit alter Freundschaften, die sich in neuen Schwierigkeiten bewährt haben; ersehnte oder unerwartete Genesung, die Bewahrung auf Reisen oder im Alltag und so manches, was gelungen ist.
Sicher gab es auch Schweres im vergangenen Jahr: rissig gewordene Beziehungen, Überforderung durch die Aufgaben in der Familie oder bei der Arbeit, Abschied von Angehörigen und geliebten Menschen, Krankheit oder die Sorge um den Arbeitsplatz.
Die Jahreswende ist die Chance, Altes zu verabschieden und Neues zu erwarten, uns im Wissen darauf auszurichten, daß uns auch im neuen Jahr Hoffnungsvolles und Leidvolles begegnen wird. In jedem Fall wird das neue Jahr wieder eine Fülle von Entscheidungssituationen bereithalten.
Unser Leben fordert ja ständig kleine und große Entscheidungen und die haben so ihre Eigenart: sie bergen Krisen in sich. Die erste Bedeutung des Wortes Krise im Lexikon ist übrigens Entscheidungssituation. Eine Krise ist also eine Situation, die auf Scheidung hinzielt, was sich bereits im Wort Ent-Scheidung andeutet.
Um der Bedeutung eines Wortes auf den Grund zu gehen, hilft manchmal der Blick über den eigenen kulturellen und sprachlichen Tellerrand: Im Chinesischen, einer der ältesten und sinnreichsten Sprachen, heißt das Wort für Krise wei ji. Daß es dies Wort auch im Chinesischen gibt und man auch im Fernen Osten mit der Thematik vertraut ist, überrascht nicht. Verblüffend für mich war, daß das chinesische Wort Krise aus zwei Schriftzeichen und damit aus zwei Worten – wei und ji – besteht: Gefahr und Rettung.
Gefahr und Rettung – beides birgt Krise in sich. Vor allem aber fordern Krisen uns zu Entscheidungen heraus: das gilt im großen, weltweiten Rahmen ebenso wie im kleinen individuellen.
Eine Krise von globaler Dimension hat in den Tagen zwischen den Jahren die gesamte Menschheitsfamilie erschüttert und zur entschiedenen Reaktion herausgefordert: der Aufschlag der Flutwellen entlang der Küstengebiete im Indischen Ozean. Das unvorstellbare Ausmaß der Katastrophe war verheerend, die nachfolgende Gefahr für die Überlebenden durch Verletzungen, Seuchen, existentielle Not ist kaum abzuschätzen. Die erkannte Gefahr hatte eine einmalige weltumspannende Reaktion zur Folge. Noch nie sind in so kurzer Zeit so viele Hilfsorganisationen zur Stelle gewesen, so viele spontane Hilfs- und Rettungseinsätze durchgeführt und so viele Spenden gesammelt worden, wie in den Tagen nach dem Seebeben. Alle Kräfte der Nationen sind in dieser Krise zur Rettung der Betroffenen mobilisiert und gebündelt worden. Die Rettung der Überlebenden hatte in Politik, Militär und Medien weltweit oberste Priorität.
Auch die Krisen in unserem persönlichen Leben fordern Entscheidung von uns. Mit jeder Entscheidung versuchen wir, einen gangbaren Weg zu wählen, der Spannungen lockert, Hürden überwindet und Ziele näher bringt. Aber Entscheidungssituationen bergen gleichzeitig Gefahren in sich: Wenn ich mich zum Beispiel entschließe, einem lieben Menschen eine unangenehme Wahrheit zuzumuten, laufe ich Gefahr, die Freundschaft zu riskieren. Ob Freund oder Ehepartner, die eigenen Eltern oder Kinder – wir können nicht umhin, miteinander zu sprechen und einander Krisen zuzumuten durch unser Tun und Reden oder einfach durch unsere Unterschiedlichkeit.
Gefahr und Rettung ringen in der Krise miteinander um die Vorherrschaft. Manches Problem und manche Entscheidung führt zur Befriedung, vieles aber bleibt schwer zu tragen und zu ertragen.
Stecken wir mitten in der Krise, so fragen wir uns oft bang: Wo bleibt denn nun die Rettung? Und manche Dauerkrise hat uns derart entmutigt, daß wir den Glauben an Rettung, Heilung, Neuanfang und Versöhnung verloren haben. Unsere unbewältigten Enttäuschungen aus der Vergangenheit lassen oft auch die Zukunft in einem düsteren Licht erscheinen. Wir kommen von Weihnachten her.
Der Stern von Bethlehem hat uns in den Stall geführt, um uns das Geheimnis unserer Rettung zu zeigen: Gott wird Mensch – klein, nackt und bloß, ein Kind in einer Futterkrippe. Gott ist gekommen, um mit uns und für uns zu sein! Und auch die Jahreslosung für 2005 ist so ein Wort der Rettung, ein Wort Jesu, der uns zu Beginn dieses Jahres zuspricht: Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre (Lk 22,32). Das ist ein Zuruf! Stark wie ein Rettungsseil für einen Schiffbrüchigen. Er tönt mitten hinein in unsere große und kleine Welt voller Krisen.
Wenn wir auf den chinesischen Schriftzug schauen, können wir sogar bildlich erkennen, was das Wort Rettung beherbergt: das Zeichen des Kreuzes. Ja, man könnte sagen, das Zeichen der Rettung – unsere Rettung – beginnt mit dem Kreuz. Gottes Humor läßt es wahr sein: in einem Land, in dem Christen bis auf den heutigen Tag Verfolgung leiden und Kirchen im Untergrund leben und kämpfen müssen, in eben diesem Land steht das Symbol des Kreuzes sichtbar und gleichzeitig verborgen mitten in der Krise – dort, wo die Rettung ihren Anfang nimmt. Und so steht es bereits seit über 4000 Jahren dort geschrieben, denn so alt ist das chinesische Schriftzeichen mindestens! Hier lernen wir ahnen, daß die Sprache klüger ist, als der, der sie spricht.
Aufschlußreich für uns ist auch der Kontext, in dem dieser Zuruf Jesu an Petrus und damit an alle Nachfolger ergeht: Es sind die letzten Tage und Stunden im Leben Jesu. Genauer gesagt ist es der Abend vor der Nacht, in der er in Gethsemane verraten und gefangengenommen wird, als er sagt: Simon, Simon, siehe der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, stärke deine Brüder. Petrus aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Jesus aber sprach: Petrus, ich sage dir: der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst. (Lk 22,31-34)
Wie wirkt dieses kurze Gespräch auf uns? Zuerst einmal beunruhigend: Simon, Simon, siehe der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen – Gefahr zieht auf! Der Teufel will euch sieben, d.h. durchrütteln und -schütteln, durcheinanderwerfen (diabolos heißt ja der „Durcheinanderwerfer“). Jesus läßt das zu. Er sagt nicht: Der Satan hat keine Macht mehr auf dieser Welt, geh’ beruhigt schlafen, Simon Petrus. Stattdessen bereitet er ihn auf die Wirklichkeit vor: Der Satan begehrt, euch so in Erschütterungen zu führen, daß euch Hören und Sehen vergehen wird. Er sagt ihnen die Krise voraus, die kommen wird, wenn er nicht mehr da sein wird. Dann werden sie äußerste Wachsamkeit brauchen und alle Kraft und Aufmerksamkeit, den Versuchungen, den Schlingen des Jägers zu entgehen.
Und Petrus? Läßt er sich warnen?
Drei Jahre lang hat Jesus in ihn und die anderen Jünger investiert, sie sind sein „Nachlaß“. Er wird kein Buch hinterlassen und auch keinen Generalplan zur Errichtung des Reiches Gottes. Petrus, sein Musterschüler, – der, den er Fels genannt hat: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen –, reagiert souverän, abwehrend und ahnungslos. Typisch Tat-Mensch: Ich bin bereit zu allem, ich werde auch mit dir ins Gefängnis, ja in den Tod gehen, wenn’s denn sein muß!
Petrus spricht aus voller Überzeugung, er kennt sich noch nicht wirklich. Auch nach Jahren in der Gegenwart Jesu baut er noch ganz auf die eigene Kraft, setzt er noch ganz auf seine idealistische Vorstellung von sich und auf seinen vermeintlichen Heldenmut.
Wie muß Jesus da zumute gewesen sein? Hätte er nicht an diesem Punkt Petrus mal richtig in den Senkel stellen, auf seine Blindheit ansprechen müssen oder besser den Laden dicht machen sollen? … Er weiß bereits, daß Petrus ihn verleugnen, sich nicht zu ihm stellen, sondern ihn allein lassen wird.
Jesus rechnet mit Petrus Schwäche, doch er rechnet sie ihm nicht an. Hier offenbart sich etwas von der Größe und dem Geheimnis Christi: er sieht unsere Begrenztheit, er weiß um unsere Angst und unseren Unwillen zu leiden, er kennt unsere großen Ideale und unsere kleine Kraft. Jesus hält uns nicht unsere Versäumnisse vor und schaut nicht auf unser Scheitern; stattdessen spannt er ein Netz unter uns aus, das uns halten und auffangen wird: sein Gebet für uns!
Er bittet für uns, daß unser Glaube nicht aufhören möge. Er ist unser Fürsprecher beim Vater. Nicht unsere gelungenen Werke, unsere Erfolge, unsere Stärke machen uns würdig, zu ihm zu gehören; nein, es ist allein unser Vertrauen in ihn. Im Glauben liegt unsere Rettung. Das ist die Unterstützung, die Jesus Petrus gewährt: „Ich bete dafür, daß dein Glaube nicht aufhöre!“
Und noch ein Zweites sagt Jesus seinem Freund und Schüler: Wenn du dereinst dich bekehrst, stärke deine Brüder. Jesus weiß, daß sein Ende nahe ist und er weiß um die Versuchungen des Bösen in der Welt: Angst, Verleumdung, Rache, Mißgunst, Neid, Eifersucht, falsches Begehren, Pornographie, Ehebruch, Übervorteilen des Anderen… Er weiß um unsere großen Einfallstüren für die Versuchung und um unsere kleine Kraft. Vor allem, wenn wir allein damit bleiben.
Darum überträgt er Petrus nach seiner „Bekehrung“, d.h. nach dem bitterlich beweinten und bereuten Verrat seines Herrn, das Amt, für die Geschwister im Gebet einzustehen. Jesus tut das nicht, weil Fürbitte zum Frommsein dazugehört, sondern im Wissen darum, daß auf diesem Weg Rettung naht. Die Fürbitte hat eine große Verheißung: im Gebet haben wir Anteil an der Kraft Gottes, am Wirken Gottes in der Welt. Beten heißt nicht, bestimmte Formulierungen und Redewendungen aufzusagen, es ist kein Aneinanderreihen frommer Vokabeln, sondern das Reden mit Gott in einfachen Worten, so wie ein Kind vertrauensvoll mit seinem Vater spricht und ihm Sorgen und Freunde mitteilt: im Vertrauen, daß er hört und daß er hilft!
Der Zuruf Jesu am Anfang des neuen Jahres ist ein Aufruf zum Gebet: „Steht füreinander ein – allein schafft ihr es nicht, Glauben zu bewahren – ihr braucht einander, weil jeder von euch zeitweilig nicht glaubt und Zeiten der Verzweiflung erlebt.“
Jesus weiß, wie es ist, allein gegen das Böse zu stehen. Auch er hat in den letzten Stunden seines Lebens den Trost der Gemeinschaft gesucht, auch wenn er letztendlich allein der Versuchung widerstehen und sein Leiden durchstehen mußte. Wir als Einzelne aber werden vom Bösen überwältigt. „Deshalb“, so hat Martin Luther es auf den Punkt gebracht, deshalb „hat der Herr seine Kirche geschaffen, damit keiner allein stehe wider den Teufel“. Der Kleinstbaustein von Kirche ist dort, wo wir im Gebet vor Gott füreinander einstehen.
Wir dürfen in das neue Jahr mit der Gewißheit eintreten, daß es neue Krisen bringen und Entscheidungen von uns fordern wird, und mit der Zuversicht, daß wir in ihnen gehalten und durchgetragen werden. Friedrich Hölderlin hat das knapp und wunderbar ausgedrückt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Der Stern, der uns durch das neue Jahr führen wird, ist die gültige Zusage Jesu: Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Gehen wir mutig voran, denn Jesus selbst ist unser Fürsprecher!
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