Predigt von Hermann Klenk
Ehren sollst du
deinen Vater und deine Mutter,
auf dass du lange lebest
in dem Lande, das der Herr,
dein Gott, dir gegeben hat.
So steht es im 2. Buch Mose 20, 12. Jeder von uns hört dieses Wort mit seinen Ohren.
Jeder war einmal Kind und fast jeder hat Eltern erlebt. Viele von uns sind selber Eltern und haben Kinder und einige sind sogar Großeltern und spüren, dass der Tag näher kommt, an dem sie ihre erwachsenen Kinder brauchen werden.
Darum will ich zuerst fragen: Wem gilt dieses Gebot?
Erst kürzlich erzählte mir ein Mann im Gespräch: „Meine Mutter hat die ganze Familie dominiert. Mein Vater war ihr ein schwaches Gegenüber. Er konnte uns zwei Söhnen nichts vermitteln. Jetzt bin ich 45 Jahre alt und frage mich immer noch: Wer bin ich eigentlich? Seit bald 30 Jahren quält und blockiert mich meine Geschichte.“
Ein anderer sagte: „Mein Vater ist abgehauen, als ich 12 Jahre alt war und hat mich, meine Mutter und meine vier Geschwister alleine gelassen. Ich bin heute noch stinksauer auf ihn. Gerade da, wo ich ihn gebraucht hätte, ist er verschwunden.“
Oder da ist eine Frau, deren Leben immer noch belastet ist durch die jähzornigen Ausbrüche ihres Vaters. Eine andere wurde von ihrem Vater missbraucht und fühlt sich bis heute wertlos.
Eltern können das Leben ihrer Kinder schwer belasten. Manch einer trägt an dieser Bürde ein Leben lang. Und da heißt es nun: „Ehren sollst du Vater und Mutter...“ Ist dieses Gebot nicht eine zusätzliche Last?
Bevor ich darauf antworte, will ich klarstellen, wozu uns die 10 Gebote überhaupt gegeben sind: Sie sind keine Befehle und keine Bürde, die Gott uns aufladen will. Gebote sind Wegweiser, Richtungsanzeiger, Hinweisschilder, die uns zeigen, wo es langgeht, wenn unser Leben gelingen soll. Sie beziehen sich auf Situationen, in denen der Schwächere vor Schaden bewahrt und vor Machtmissbrauch geschützt werden soll.
Und damit bin ich wieder bei der Frage, zu wem dieses „Ehren sollst du Vater und Mutter...“ eigentlich gesagt ist. Als Kind habe ich oft den Satz gehört: „Tu, was die Eltern dir sagen und mach ihnen keinen Kummer, die haben es eh schon schwer...“. Das ist es nicht, was uns dieses Gebot sagen will. Es ist überhaupt keine pädagogische Anweisung für kleine Kinder und ist auch nicht zu Heranwachsenden gesagt, die sich gerade in einer natürlichen Ablösungsphase von ihren Eltern befinden und Distanz suchen, um ihr eigenes Leben aufbauen zu können. Diese Weisung ist Erwachsenen gegeben - wie alle anderen übrigens auch. Es geht darin um das Verhältnis zwischen erwachsenen Kindern zu ihren Eltern.
Als Kinder brauchen wir unsere Eltern, sind abhängig von ihnen. Als erwachsen Gewordene sind wir vor die Frage gestellt: Wie gestalten wir die Beziehung zu unseren Eltern „auf Augenhöhe“, wenn sie nicht mehr bestimmen, wie wir leben, wen wir heiraten und wie wir unser Geld einteilen? Und wie gestalten wir die Beziehung, wenn sie alt und abhängig von uns geworden sind? Wenn sie schwierig und vergesslich, pflegebedürftig und anstrengend sind, und man ihnen alles dreimal erzählen muss? Was heißt da „die Eltern ehren“?
Zunächst einmal steht da nicht: Du sollst ihnen gehorchen; und schon gar nicht: ... den Eltern in allem Recht geben. Und es heißt auch nicht, dass du die Eltern lieben musst.
Das hebräische Wort für ehren kommt aus der Wortfamilie schwer sein, eine Last sein, reich sein, gewichtig sein, Bedeutung haben. „Ehren“ meint also im ursprünglichen Sinn das Gewicht, das unsere Eltern für uns gehabt haben, die Last, die sie getragen haben und die Last, die sie uns zu tragen geben, anzuerkennen und anzunehmen. Ich will versuchen, diese drei Aspekte zu entfalten:
Hier schwingt Achtung den Eltern gegenüber mit und Wissen um ihre Geschichte. Selbst wenn unsere Eltern heute schwierig sind oder vergesslich, sie waren nicht immer so! Auch sie waren einmal jung, lebenshungrig, voller Ideen und Tatendrang. Erst im Laufe ihres Lebens sind sie die geworden, die sie nun sind: durch gute Erfahrungen vielleicht gütig - oder durch bittere Erfahrungen misstrauisch und unbeweglich. Ein bisschen Verständnis darf uns Gott schon abverlangen. Auch unsere Eltern sind durch Schweres, durch Enttäuschungen und Kämpfe gegangen und erst so geworden, wie sie heute sind.
Vielleicht denkt der eine oder andere nun: „Wenn ich einmal alt bin, dann möchte ich auch so werden wie sie.“ Da kann ich nur sagen: Wunderbar – nimm sie dir als Vorbild und frage sie, wie sie so geworden sind. Andere denken vielleicht: „Nein danke, möge Gott verhindern, dass ich so werde wie sie!“ Da kann ich nur sagen: Frage dich, was genau du gerne anders machen möchtest und beginne jetzt damit; aber bleibe ihnen gegenüber barmherzig. Denn auch du wirst einmal alt sein und auf Barmherzigkeit angewiesen. Und vergiss nicht die Lasten, die sie getragen haben.
Auch wenn wir uns über unsere Eltern ärgern, gilt: ohne sie gäbe es uns nicht. Wir haben uns nicht selber das Leben gegeben, sie haben uns empfangen, geboren, großgezogen, ernährt, das Sprechen gelehrt, eine Ausbildung ermöglicht. Sie haben uns Regeln beigebracht, sind zu uns gestanden, wenn wir „Mist“ gebaut haben und wenn wir ihre Hilfe brauchten. Wir stehen auf dem Boden ihres Erbes und müssen nicht am Nullpunkt anfangen, sondern sind Glieder in einer Kette der Generationen.
Es lohnt sich, einmal aufzuschreiben, was wir von unseren Eltern Gutes empfangen haben. Ehren heißt auch, dankbar zu sein für die Bedeutung, die sie für unser Leben hatten. Danken macht uns reicher und hilft, auch über Wunden hinwegzukommen. Das Gute in unserer Geschichte darf Gewicht haben in unserem Leben.
Doch ich kenne eben auch die Stimmen derer, die sagen: „Aber ich verdanke ihnen keineswegs nur Gutes. Noch heute trage ich Verletzungen mit mir herum, die sie mir zugefügt haben.“
Ja, auch das hat Gewicht in unserem Leben.
Und es gehört zum Ehren dazu, sich einzugestehen: „Meine Eltern sind an mir schuldig geworden.“ In den Augen kleiner Kinder sind Eltern immer perfekt: Sie können alles! Der Pubertierende sieht sie viel kritischer und behauptet: „Sie kriegen überhaupt nichts auf die Reihe!“ Die Wahrheit liegt mit Sicherheit irgendwo dazwischen. Es gibt keine Eltern, die alles genau so gemacht haben, wie wir es uns gewünscht oder wie wir es vielleicht gebraucht hätten. Und es gibt keine Eltern, die alles nur schlecht gemacht haben. Eltern sind immer beides: Last und Segen. Beides wahr sein lassen meint, „die Eltern ehren“ und wissen, dass auch sie auf Vergebung angewiesen sind.
Ja, alternde Eltern können eine Last werden. Wer altgewordene Eltern hat, der kann viel von Dickköpfigkeit, Vorwürfen, Spannungen und anderem erzählen. Manchmal geht es auch gut miteinander. Aber häufiger gibt es Schwierigkeiten. Ich möchte für ein neues Verständnis werben: Mit zunehmendem Alter nehmen gewisse Fähigkeiten ab. Das merke sogar ich schon mit Mitte 60. Und dies darf kein Grund sein, jemandem Vorhaltungen zu machen. Wenn Eltern vergesslich sind oder über gewisse Dinge nicht offen reden können und nicht mehr so flexibel oder sauber sind, dann hängt das auch mit den abnehmenden Kräften zusammen. Es ist unbarmherzig, einen alten Menschen zu verachten oder ihm Vorwürfe zu machen, weil er nicht mehr kann, was ich noch kann.Vielleicht denken Sie jetzt: Im Kopf ist mir das alles klar. Aber im praktischen Alltag ist das Verhältnis zu den Eltern doch viel komplizierter. Als Menschen, die ihren Glauben leben wollen, dürfen wir nicht zulassen, dass wir unsere Eltern einfach aufgeben, abschieben oder vergessen. Wir sind von Gott aufgerufen, verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen und bis zum letzten Tag zu lernen, was „ehren“ heißt: 'Nicht vergessen, dass auch sie in ihrem Leben vieles zu tragen hatten.' Sich erinnern, dass sie für unser Leben Gewicht haben - im Guten, wie auch im Schweren. Bereit sein, wenn sie angewiesen sind auf uns, sie mitzutragen und ihnen ihre Würde zu lassen.Das 4. Gebot richtet sich nicht nur an uns im Blick auf unsere altgewordenen Eltern, sondern hat schon die nächste Generation im Blick. Das Alte Testament endet mit der Verheißung des kommenden Messias: „Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern.“ (Maleachi 3,24) Wer heute schon seine Kinder achtet, sie ernst nimmt mit ihrer Meinung, sie auch um Verzeihung bitten kann, zärtlich zu ihnen ist, aber auch klar, sie nicht unterstützt, wenn sie Unrecht tun, und sorgsam mit der Welt umgeht, die er ihnen hinterlässt, der baut schon jetzt an einem achtungsvollen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das sich später auswirken wird.
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