von Stefan Kunz
Lassen Sie mich beginnen mit einer kleinen Geschichte, die aus dem osteuropäischen Judentum stammt und vom Baal Schem erzählt, dem Begründer des Chassidismus. Martin Buber hat sie uns überliefert:
Das volle Bethaus.
Der Baal Schem blieb einst an der Schwelle eines Bethauses stehen und weigerte sich, es zu betreten. "Ich kann nicht hinein", sagte er. "Es ist ja von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke übervoll der Lehre und des Gebets, wo wäre da noch Raum für mich?" Und als er merkte, dass die Umstehenden ihn anstarrten, ohne ihn zu verstehen, fügte er hinzu: "Die Worte, die über die Lippen der Lehrer und Beter gehen, kommen nicht aus einem auf den Himmel ausgerichteten Herzen, steigen nicht zur Höhe auf, sondern füllen das Haus von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke."
Mir kommt es manchmal so vor, als sei unsere Kirche und auch unser eigenes Gebetsleben solch ein volles Bethaus. Da gibt es viel Gebet, Lehre und fromme Gedanken, aber da ist mehr Rauch, der am Boden hängt, als Gebet, das wirklich zum Himmel durchdringt und eine befreiende, offensive Kraft hat. Die Geschichte vom Baal Schem will sagen, worauf es ankommt beim Beten: auf die Einstellung des Herzens, das Ausgerichtetsein auf den Himmel. Das ist etwas sehr Offensives. Das Wort offensiv kommt vom Lateinischen offendere und heißt ursprünglich an etwas anstoßen. Es ist also zunächst nicht strategisch gemeint, sondern im ganz alltäglichen Sinn: z.B. an eine Tür stoßen. Im Gebet stoße ich an die Tür Gottes, an die Wirklichkeit des Himmels. Genau dazu will uns Jesus ermutigen, Gott gleichsam zu bestürmen mit unseren persönlichen Bitten.
Es gibt ein drastisches Gleichnis, mit dem Jesus das verdeutlicht (Lukas 18): Da ist eine Witwe, der Unrecht widerfahren ist, und die jetzt ihr Recht bekommen will. Der Richter hat allerdings kein Interesse an den Rechten der sozial Schwachen seiner Stadt. Da geht sie ganz frech zu ihm hin und droht ihm mit körperlicher Gewalt: wenn du mir nicht Recht schaffst, schlag ich dir ins Gesicht! Da sagt sich der Richter: bevor diese alte Frau mir Schwierigkeiten macht, soll sie meinetwegen ihr Recht bekommen - sie hat ihr Recht und ich meine Ruhe! Und nun sagt Jesus: Wenn schon ein so ungerechter Richter, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, einem Menschen Recht verschafft, der Unrecht leidet, um wieviel mehr wird dann Gott denen Recht schaffen, die ihn so offensiv bestürmen. Dieses sehr eindrückliche Gleichnis soll uns ermutigen, mit unseren Bitten zu Gott vorzudringen, unser Herz auf ihn auszurichten, denn "um ihres unverschämten Drängens willen wurde sie erhört." Wir brauchen keine Scham zu haben, mit unseren Anliegen Gott in den Ohren zu liegen. Gott will das, Jesus hat uns das offenbart. Ganz Ähnliches drückt das Gleichnis vom bittenden Freund in Lukas 11 aus.
Was heißt offensiv beten für unser Gebetsleben?
Jeder von uns hat Sorgen, z.B. um seine Kinder, ihre Entwicklung, ihre Zukunft. Der Kummer kann unser Herz sehr verdüstern. Offensiv beten würde nun heißen: ich nehme diese Sorgen ernst, aber ich bündle sie zu einer ganz konkreten Bitte an Gott, den Schöpfer und Erlöser der Menschen, also auch meiner Kinder. Auf diese Weise kann ich entlastet werden von meinen diffusen, vagen Sorgen, die sich ansonsten meiner bemächtigen. "Alle eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch!" (1. Petr 5,7). Ebenfalls ein sehr drastisches Bild: Wir sollen das, was uns Kummer macht, auf ihn werfen. Das erfordert eine offensive Energieleistung von uns.
Wie tun wir das konkret? Indem wir unsere Sorgen immer neu in Bitten verwandeln. Es ist eine Transformationsarbeit, die im Gebet von uns verlangt wird. Hier liegt wohl auch der Grund, warum Jesus in seinem Hauptgebet, im Vaterunser, nicht Dank oder Lobpreis formuliert hat, sondern ein Bittgebet, weil er wusste, dass wir es nötig haben, zu dem Zuflucht zu nehmen, der wirklich für uns sorgen kann und will.
Diese Gebetsart ist in unserer evangelischen Tradition eher verkümmert. Im katholischen Bereich hingegen ist sie noch verbreitet: im "Gotteslob", dem katholischen Gesangbuch, stehen zahlreiche Stoßgebete und Stoßseufzer wie "Jesus hilf!" Stoßgebet zeigt schon als Wort eine offensive Richtung an, ganz in dem Sinn wie Jesus uns das Beten gelehrt hat. Man denke nur an die Geschichte vom blinden Bartimäus, der in tiefster Not - von den anderen verachtet und übersehen - seine Not in ein Stoßgebet verwandelt: "Herr Jesus Christus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Ein Gebetsschrei, den er an Jesus richtet und genau der rettet ihn. Er wird geheilt von seiner Blindheit und wird zu einem Nachfolger Jesu, weil er zum richtigen Moment seine Not in ein Stoßgebet verwandelt hat. In einer großen Bedrängnis Stoßseufzer zum Himmel zu schicken, sollten auch wir als evangelische Christen wiederentdecken.
Das ist ein weiteres offensives Gebetsvorgehen. Das wird sehr deutlich in den Psalmen, die eigentlich Lieder des Vertrauens sind. In Psalm 23 heißt es "und ob ich schon wanderte im finsteren Tal - wörtlich: in Todesschattenschlucht - fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir". Das ist das Vertrauensgebet eines Menschen, der große Angst hat und die auch ernst nimmt, aber sie in Worte der Zuversicht verwandelt. Bei dieser Transformationsarbeit sind die Psalmen eine besondere Hilfe. Viele drücken nichts anderes aus als diesen Verwandlungsprozess. Mir selber ist das Psalmwort "Herr, lass mich nicht zuschanden werden, errette mich durch deine Gerechtigkeit" in besonders bedrängenden Situationen immer sehr hilfreich, es lässt mich die Kraft des ernstlichen Gebetes ganz unmittelbar erfahren.
Gnade meint alles Gute und Schöne, das wir nicht selbst machen können, das uns zuteil wird als Geschenk. Das sind die kleinen Dinge im Alltag, aber auch die großen wie das Finden eines Lebenspartners oder eines Berufes, einer Berufung, eines Zuhauses. Das nehmen wir oft für selbstverständlich. Für unsere geistliche Hygiene ist es ganz wichtig, dass wir die Geschenke, die wir empfangen, immer wieder reflektiert als Dank zu Gott zurücktragen. Dann wird es in unsrem Herzen wieder hell. Der große Friedrich von Bodelschwingh, der viel Schweres in seinem Leben erfahren hat, sagt es so: "Da wird es hell in einem Menschenherzen, wo man für das Kleinste danken lernt."
Bodelschwingh war wirklich ein Lichtträger, von dem viel Liebe und Menschlichkeit ausgingen. Sein Geheimnis aber war die Dankbarkeit, die das Bittere und Schmerzliche in seinem Leben in Licht verwandelte.
Paulus ruft uns zu: "Seid dankbar in allen Dingen" (1. Thess 5,18), ebenso für die kleinen wie für die großen Geschenke. Aber für alles dankbar sein heißt eben auch für die schweren Dinge danken, weil man gerade durch sie reifen und näher zu Gott gebracht werden kann und an innerer Abwehrkraft gewinnt.
Denken wir nur an die großen Lobpsalmen, in denen das Halleluja und die Aufzählung der Musikinstrumente kein Ende nehmen, in denen sogar die Bäume aufgefordert werden, in die Hände zu klatschen und das Meer jubeln soll. Doch worüber jubelt der Psalmsänger? Über das von Gott geschenkte Glück, über gelingendes Leben! Das verwandelt er in Lobpreis und erlebt seine erhebende Wirkung. Die Kraft, die uns aus dem Loben zufließt, wurde in jüngster Zeit in der Christenheit wieder neu entdeckt.
Als neutestamentliches Beispiel möchte ich das Magnifikat der Maria nennen, die ebenfalls ihr Glück und das Glück aller Erlösten in Lobpreis verwandelt. Nur so werden unsere Herzen erhoben, wie wir es in der Abendmahlsliturgie bis heute singen: "Die Herzen in die Höhe!"
Jeder von uns kennt wohl Stunden in seinem Leben, wo er der Heiligkeit Gottes, der Wirklichkeit des lebendigen Gottes begegnet ist. Wer auf diese Weise einmal bis ins Herz hinein ergriffen oder erschüttert worden ist, der kommt nicht umhin, Gott anzubeten und in dieses "Heilig, heilig, heilig" einzustimmen, das die Engel nach Jesaja 6 vor dem Thron Gottes singen.
Die Anbetung ist die größte Widerstandskraft gegen die destruktiven Kräfte in unserer Gesellschaft, denn dort werden ganz andere Götter angebetet. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass es dort auch feierlich zelebrierte Kulte der Anbetung gibt, z.B. des Geldes, der Sexualität, der Macht etc. Auch hier spielt "Ergriffenheit" eine Rolle, allerdings keine, die geistliche Wurzeln hätte. Da ist es ungeheuer wichtig, dass wir Christen eine Gegenkraft bilden, indem wir den einen Gott anbeten und aus dieser Ergriffenheit von Ihm der Welt einen anderen Geist entgegensetzen.
Woher bekommen wir die Kraft zu solch offensivem Beten? Wir sind oft viel zu schwach, um so zu beten. Das neue Testament sagt uns: Dafür brauchst du die Kraft aus der Höhe, die Kraft des Heiligen Geistes! Er ist derjenige, der uns vertritt, wenn wir zu schwach, zu müde sind (Röm 8), er betet in uns: Abba, lieber Vater! Jesus hat mit dieser Anrede sein tiefstes Vertrauen in die Kraft und die Liebe Gottes ausgedrückt.
Offensives Beten ist zuallererst und fundamental die Bitte um den Heiligen Geist, die Kraft des lebendigen Christus und des lebendigen Gottes. Er ist die dritte Person der Dreieinigkeit. Augustinus nennt ihn das verbindende Band zwischen Vater und Sohn.
Diese Bitte hat eine öffnende Wirkung und ist die einzige, die immer erhört wird. Sie wird erhört, weil es dabei um Gott selbst geht. Er wartet nur darauf. In Lukas 11 lesen wir: Wenn schon ein Familienvater um seiner Ruhe willen dem "lästigen" Wunsch des Nachbarn entgegenkommt, um wieviel mehr wird Gott denen Brot, also das Not-wendende, das Rettende geben, die an seine Tür klopfen und ihn inständig darum bitten. Welche Verheißung!
Im Wort contemplatio stecken die lateinischen Wörter con (mit) und templum (Tempel = Haus Gottes). Kontemplation heißt also im Ursinn: eintreten in das Haus Gottes und mit allem, was wir sind und tun, im Hause Gottes bleiben, in seiner Liebe, seiner Gnade und seiner Vergebung. Das heißt, nicht heraustreten aus seinem Haus, wenn wir "in der Welt" sind und meinen, nun ganz anders agieren zu müssen. Nein, gerade im Alltag "sei es unser vernünftiger Gottesdienst" (Röm 12), in der contemplatio zu bleiben und kontemplativ zu handeln.
Wir neigen dazu, Dinge erzwingen zu wollen. Wir müssen das jetzt erreichen, schaffen, durchsetzen... Das Wörtchen muss ist verräterisch, denn damit sind wir schon nicht mehr im Raum der Gnade, sondern im Raum des Gesetzes. Dieses Muss kommt nicht von Gott, eher aus uns selbst, von den Eltern vielleicht, und auch in der Welt gibt es immer ein Muss! Kontemplativ handeln heißt, im Raum der Gnade bleiben, in dem gilt: Du kannst und du darfst! Das bedeutet dann: Ich will nichts erzwingen, ich darf es erbitten - von Gott und von meinem Mitmenschen. Gott gegenüber ist das die einzige Möglichkeit, die wir haben. Paul Gerhardt sagt es mit den treffenden Worten: Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein. Nur so bleibe ich im Raum der Gnade. Darum hat Paulus sein Leben lang gekämpft.
Wir alle sind von Geburt an mit einem Greifreflex ausgestattet. Ein Säugling ergreift reflexartig unseren Finger, wenn wir ihn ihm hinhalten. Nur hört das leider bei den meisten mit der Babyphase nicht auf, sondern wird im Laufe des Lebens eher schlimmer: wir wollen immer mehr haben und immer mehr festhalten. Ein entsprechender Spruch lautet: Greifen und festhalten konnte ich seit meiner Geburt, teilen musste ich erst lernen, jetzt übe ich das Lassen.
Er beschreibt genau die Bewegung, die uns als Christen aufgegeben ist, ja die unsere geistliche Lebensaufgabe ist. Eines Tages kommt die Stunde, in der wir alles loslassen müssen, auch uns selber. Deshalb haben die Juden und frühen Christen mit offenen Händen gebetet und damit ausgedrückt: wir wollen nichts festhalten, wir stehen mit offenen Händen vor Gott und bitten ihn um seine Gaben. Sich nicht festklammern bedeutet, im Raum des Glaubens zu bleiben. Denn wer sich festklammert, hat Angst und will Sicherheit statt Vertrauen. Glauben heißt, wirklich darauf bauen, dass Gott da ist, dass er das Bessere für mich hat.
Wir neigen dazu, uns in dieser und jener Weise zu überfüllen - z.B. mit Fernsehkonsum. Wir können nicht mehr aufhören, haben Angst, etwas zu verpassen, Angst vor der Leere.
Aber gerade die Leere ist die Chance, dass die Gnade Gottes wieder in uns einströmen kann. Wenn das Gefäß unseres Herzens randvoll angefüllt ist mit tausenderlei Dingen, dann hat Gott gleichsam keine Chance, etwas hineinzulegen. Er braucht das Vakuum - wie die Mystiker sagen: vacare Deo - den Freiraum für Ihn. Nicht immer weitermachen, sondern den Trott unterbrechen, aufhören, was ja nicht nur etwas beenden heißt, sondern auch aufhorchen, nach oben horchen. Das eine braucht das andere.
Diese Übung haben die Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten praktiziert. Sie waren in Jerusalem und hatten Angst, dass sie auch verfolgt werden würden wie Jesus. Und sie waren natürlich in der Versuchung, möglichst schnell nach Galiläa zu flüchten, wo sie sicher waren. Aber Jesus hatte ihnen gesagt, dass sie nicht fliehen, sondern standhalten sollten. "Bleibt in der Stadt bis ihr ausgerüstet werdet mit Kraft aus der Höhe." Überstürzt nichts, sondern haltet aus! Bleibt in der Erwartung und in der Hoffnung auf Sein Handeln, statt voreilig selber zu handeln.
Das ist immer wieder neu ein Thema unter Christen. Gern vertuschen wir es vor uns und voreinander, aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir manchmal schwere Steine in unserem Herzen herumtragen, die mit Kränkungen zu tun haben, die wir nicht vergeben wollen. Wir können nur dann im Haus der Vergebung Gottes bleiben, von der wir selber ja auch leben, wenn wir diese Vergebung auch anderen weitergeben oder wenigstens darum ringen, sie ihnen zu gewähren - siebenmal siebzig Mal, so fordert uns Jesus heraus.
Wir neigen immer wieder dazu, in einen zwielichtigen Raum zu flüchten, wo unsere Fehler und Schwächen nicht so deutlich zu sehen sind. Das gehört zu uns Menschen. Kontemplativ leben und handeln hieße aber nun, in dem Raum der Wahrheit zu bleiben, sich darum zu bemühen, nichts zu verbergen, nichts unter den Teppich zu kehren, sondern ins Licht der Wahrheit zu bringen. Hier geht es um das Eingeständnis von Schuld, Schwachheit und Fehlern - jeder vor sich, aber auch in den Gemeinschaften, in denen wir leben.
Mit den Worten des Liederdichters Gerhard Tersteegen können wir zusammenfassend sagen: Kontemplativ handeln heißt, Seine Strahlen fassen und Ihn wirken lassen!
Nicht ich bin das Subjekt des Handelns, ich kann nur dann wirklich gesegnet handeln, wenn ich Ihn durch mich hindurch wirken lasse. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so, still und froh, deine Strahlen fassen und dich wirken lassen. Dieser Vers ist eine wunderbare Gebetsübung, die uns im Raum seiner Liebe hält.
Wer offensiv betet und kontemplativ handelt, der ist und bleibt ein gesegneter Mensch.
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