von Markus Spieker
"Bad news is good news" lautet das Credo des Medienbetriebs, der sich auf die Verbreitung von Hiobsbotschaften und düsteren Prognosen spezialisiert hat und uns in Print und Funk mit dem medial aufbereiteten Frust überflutet.
Markus Spieker lud in seiner Festtagsrede am OJC-Festival dazu ein, den Spieß umzudrehen und den Slogan umzudeuten. Christen sollten den Allgemeinfrust in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit zum Anlass nehmen, die vom Zeitgeist diktierten Wertmaßstäbe zu hinterfragen und sich zu den Alternativen zu bekennen, die ein Leben in der Nachfolge Christi bietet.
Vieles von dem Frust, der sich über die Massenmedien ins öffentliche Bewusstsein ergießt, ist hausgemacht: Während uns das Anrecht auf ein sorgloses Leben ohne Anstrengung, Krankheit und existentielle Not vorgegaukelt wird, wächst die Resignation angesichts der Herausforderungen des wirklichen Lebens. Die Illusion vom Paradies, das "ewige, gesunde, glückliche Wochenende", wie es Stephan Grünewald in seinem jüngst erschienenen Interviewband Deutschland auf der Couch (Die Welt, 2006) nennt, erzeugt einen Dauerfrust. Die satteste aller Gesellschaften ist zugleich die sehnsüchtigste. Um uns aus der sozialen und ökonomischen Krise hinauszubewegen, müssten wir uns von den Illusionen verabschieden. Diese Forderung aber ist höchst unpopulär, und kaum jemand in Politik und öffentlichem Amt wird dieses Risiko gern eingehen. Hinzu kommt, dass jene, die in der Krise wissen, wo es lang geht, selten zu den Einflussreichen gehören, geschweige denn die "Mehrheit" repräsentieren.
Was können wir als Christen angesichts dieser verzwickten Situation tun? Wie können wir zeit-geist-los agieren?
Die Bibel lehrt uns, dass die Wahrheit nicht durch TED-Umfragen ermittelt wird, sondern oft genug gegen eine herrschende Meinung postuliert werden muss. Im Alten Testament geschieht dies durch die Stimme der Propheten. Das Neue Testament ermutigt jeden Christen, die erkannte Wahrheit - unabhängig von allem Zeitgeist - öffentlich zu vertreten.
Jetzt könnte man einwenden: Es ist nicht unsere Aufgabe, die ökonomische oder soziale Erneuerung Deutschlands zu diskutieren, sondern dafür zu sorgen, dass Menschen zu Christen werden!
Genau das ist der springende Punkt: es ist eine hochpolitische Aktion, wenn Menschen sich entscheiden, mit Jesus zu leben! Nach biblischem Verständnis beginnt die Veränderung der Gesellschaft immer beim einzelnen. Christentum ist eine "bottom up"-, keine "top down"-Religion: sie wirkt nicht durch Verordnungen von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Da, wo der einzelne von Gott verändert wird, verändert sich etwas in seinem Umfeld und ein Netzwerk der Liebe mit Jesus im Zentrum entsteht. Von hier kann die Transformation der Gesellschaft ausgehen. Die Veränderung kommt zustande, wenn wir Christen bereit werden, uns in Freiheit zu binden, in und mit Freude zu führen und einen klaren Fokus zu behalten.
Mit Freiheit umzugehen, ist auch für Christen nicht einfach. Davon kann Paulus ein Lied singen. Den Galatern schreibt er ermutigend: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit", als diese aus Furcht, etwas falsch zu machen, die Zäune der Regeln hochgezogen haben. Seine Korinther wiederum, die aus Angst vor Bindungen ziemlich über die Stränge geschlagen haben, muss er streng ermahnen. Der Schlüssel zum gelungenen, glücklichen Leben besteht nach biblischem Verständnis also darin, dass man sich in Freiheit an das Richtige bindet.
Was das bedeutet, möchte ich anhand meines eigenen Werdegangs schildern. Als Pfarrerskind aus einem geschichtsträchtigen Dorf im Westerwald wurde ich mit hohen pädagogischen Idealen erzogen: ganz ohne Fernseher. Dabei liebte ich Filme über alles, las nur ungern und interessierte mich nicht für Geschichte. Auf dem Heimweg von der Schule stand ich lange vor dem Schaufenster eines Elektrofachgeschäfts, um die spannende Serie "Ein Colt für alle Fälle" zu sehen. Unglücklicherweise wurde das Gerät mit Ladenschluss abgeschaltet, den Ausgang der Geschichten nach der Werbepause musste ich mir am nächsten Tag von Mitschülern erzählen lassen. Ich machte dann die unerfüllte Leidenschaft zu meinem Beruf. Aber interessant: heute arbeite ich zwar beim Fernsehen, schaue selbst jedoch nur selten fern - das Internet habe ich ganz abgeschafft. Stattdessen lese ich viel lieber ein Buch und beschäftige mich nun privat mit Geschichte. Ich habe mich also in Freiheit zurückgebunden an das, was meine Eltern damals schon gut fanden.
Diesen Prozess des Widerspruchs und des Zurückbindens hat auch das Christentum als Ganzes in seiner Geschichte vollzogen. Nachdem sich in den letzten zweitausend Jahren eine Art Regelfetischismus etabliert hatte, folgte im letzten Jahrhundert die große Emanzipation: Alles kam auf den Prüfstand, jede Regel wurde hinterfragt. Dabei sind auch manche guten Regeln über Bord gegangen. Nun, nach der radikalen Emanzipation wäre es gut, wenn wir Christen uns erneut in Freiheit an ¬gute Lebensregeln binden würden. Als "Umklammerung des richtigen Haltes" definiert D. G. Warren die Freiheit.
Wenn wir uns heute an Jesus binden, dann tun wir es in Freiheit. Die ethische Grundlage dafür bietet das doppelte Liebesgebot Jesu: "Du sollst Gott lieben über alles und deinen Nächsten wie dich selbst." Das ist der Lebensstil und das Lebensziel, dem wir uns als Christen in Freiheit verschreiben. Das ist die Agenda Gottes.
Von den Jüngern heißt es, dass sie, nachdem Jesus in den Himmel aufgefahren ist, "mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehrten." Worüber freuten sie sich? Die Verhältnisse waren nicht besser geworden: "die da oben" waren weiterhin korrupt, engstirnig, brutal, und "die da unten" waren die, die geschrieen hatten "Kreuzige ihn!" Aber nun wussten die Jünger, dass Jesus regiert und mit ihnen das Reich Gottes in dieser Welt errichten will. Statt in gemütlichen Erinnerungen zu schwelgen, wagten sie den Schritt nach draußen - das hat elf von zwölf Aposteln das Leben gekostet. Doch sie hatten verstanden: Christsein ist dynamisch, bringt uns in Bewegung: "Ich jage dem Ziel nach."
Jesus nachfolgen ist immer auch führen. Ich folge einem, der mir Vorbild ist, und wenn ich Jesus nachfolge, werden andere auf mich schauen und mir folgen.
Es gibt in Deutschland eine Führungskrise. In der Politik schielt das Volk auf die Oberen, und die wiederum schielen auf das Volk. Angst, Trägheit und Bequemlichkeit hindern uns daran, Verantwortung zu übernehmen. Wenn man nicht ganz vorne steht, sagt man lieber nichts. Eine drückende Traurigkeit hindert uns an der Freude. Wir leben hier in satten Zeiten und kommen dennoch aus dem seelischen Kummer, den wir in uns tragen, nicht heraus. Viele haben ein schweres Herz, ein gebrochenes gar, haben eine Beziehungskrise, eine Jobkrise - wie soll man damit führen, und schon gar in Freude führen?
Wo sind die Christen, die modellhaft vorleben, was es heißt, im 21. Jahrhundert zu glauben?
Wo sind die, an denen man sich orientieren kann, an denen man wachsen kann? Woran kann man als Christ reifen?
Wenn wir uns die Entstehung unserer schönsten Kirchenlieder anschauen, sehen wir, dass sie in großen Krisen entstanden sind: Dietrich Bonhoeffer hat seine Zeilen "Von guten Mächten wunderbar geborgen" in der Gestapozelle verfasst; Johannes D. Falk dichtete "O, du fröhliche" schwerkrank; und auf den Trümmern seines abgebrannten Hauses schrieb Johann Mentzer "O dass ich tausend Zungen hätte". Was hat sie in Freude geführt? Und wie konnten sie andere in Freude führen?
Krisen gehören zum Leben - erst recht bei Führungskräften. Wir sind eine ideale Zielscheibe für den Satan, der daran interessiert ist, die christliche Gemeinschaft mit Problemen zu überhäufen, zu verwirren und anzufechten. Krisen gehören dazu, wenn man vom Wegweiser zum geistlichen Führer reifen will. Ein Wegweiser zeigt, wo es lang geht; der Führer aber watet selbst mit durch den Sumpf. Er weiß aus eigenem Erleben, wo der Wald dunkel ist und wo die Räuber lauern. Deshalb ist sein Rat in der Krise hilfreich.
Gerade in Momenten der Krise haben viele mit übernatürlicher Freude erlebt, dass ihr Glaube Realität ist und trägt. Ein Freund, der seinen hochdotierten Job verloren hat und dessen Aussichten sehr schlecht sind, sagte neulich aufmunternd zu mir: "Gott wird schon wissen." Ein anderer Freund hat erfahren, dass sein Kind vermutlich am Down-Syndrom leidet. Im Gespräch mit ihm spürte ich aber keine Verzweiflung; er hat begriffen, dass das Gottes Weg mit ihm sein könnte und hat das Kind angenommen. Einen dritten Freund habe ich auf der Krebsstation besucht. Trotz der schweren OP war er von einem eigentümlichen Frieden umgeben.
Die Freude, die alle drei ausstrahlten, ist anders als der Glamour, der uns aus den Jetsetgeschichten der Frauenzeitschriften entgegenflimmert. Solche Stories sind, bei Lichte betrachtet, Horrorgeschichten von Verletzungen, Verwundungen, Sucht und der Angst, verlassen zu werden - alles wird mit Parties übertönt. Denen, die sich beim Fernsehen und beim Arztbesuch aus diesen Quellen speisen, bleibt letztlich auch nur die Traurigkeit hinter der schillernden Szene. Diesen traurigen Menschen können wir Vorbild sein, sie in Freude führen. Paulus schreibt aus dem Gefängnis an die Gemeinde in Philippi: "Freuet euch in dem Herrn allewege. Und abermals sage ich, freuet euch!"
Im 2. Brief an Timotheus wird deutlich, was ihm in seiner Haft Gemeinschaft bedeutet hat: "Beeile dich, dass du bald zu mir kommst... Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei. Sie verließen mich alle." Und er wiederholte das noch einmal: "Beeile dich..."
Unsere Freude kommt daher, dass wir uns in Krisen aneinander festhalten, miteinander sprechen, einander zusprechen: Ich liebe dich. Gott liebt dich. Gott hält dich. Wenn wir uns humpelnd gegenseitig stützen, wird Christsein auch für Außenstehende authentisch und erfahrbar.
Die globalisierte und digitalisierte Welt steht in Gefahr, ihren Fokus zu verlieren. Es gibt so viele Nebensächlichkeiten, die mit dem Anschein unglaublicher Wichtigkeit daherkommen. Wir büßen unsere Freiheit ein, wenn wir uns von ihnen versklaven lassen und verlieren unsere Freude, weil wir uns an ihnen aufreiben. In einem Gedicht wird das Elend der postmodernen Multifunktionsgesellschaft so beschrieben:
Es gibt keinen Leuchtturmwärter.
Es gibt keinen Leuchtturm.
Es gibt kein Festland.
Es gibt nur Menschen auf Flößen,
die sie aus ihrer eigenen Einbildung gebaut haben,
und es gibt das Meer.
Ich würde vom Meer der Möglichkeiten sprechen, in dem man schnell untergeht: eine Multispiritualität, in der es keine oberste Instanz gibt, die mir sagen kann, was wirklich stimmt. In einer Art Flatrate-Christsein, mit dem Ideal vom Häuschen am Meer und Bibel auf dem Verandatisch - auf sich und auf den Moment fixiert. Und in einem Spiritualitäts-Optimierungs-Christsein, wo Menschen die Lüge kaufen, dass sich Christsein in einer Sondersphäre bewegt. Wir müssen noch begreifen, dass das Reich Gottes sehr konkret im Leben beginnt. Der polnische Soziologe Sigmund Baumann sprach von zwei Sorten Menschen: den Flaneuren und den Pilgern. Ein Flaneur geht unverbindlich herum, nimmt alles mit. Der Pilger visiert das eine Ziel an. So sollen auch wir Christen sein: den Blick für das Wesentliche behalten. "Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes."
Jesus möchte unseren Blick auf die Welt lenken, wir sollen sie mit seinen Augen sehen. Er schaut sie liebevoll an, mit einer besonderen göttlichen Zärtlichkeit. Er staunt - obwohl er der Schöpfer ist -, wie schön die Welt ist. Und er sieht mit Grauen die Furchen, die die Sünde zieht, die Verletzungen und die dunklen Wege vieler Menschen. Gott möchte, dass wir einen Blick auf die Welt gewinnen, der zärtlich ist, über die Schönheit staunt und dem bei dem Elend schaudert, das hier auch herrscht.
Die Welt sehen, wie Jesus sie haben will, bedeutet, nicht im Nebulösen zu bleiben, sondern Leitbilder zu entwickeln: Was heißt es heute, Christ zu sein? Wie sehen unsere Leitbilder im Bereich Liebe, Beziehungen, Macht und Geld aus? Es geht dann darum, diese Leitbilder zu leben und zu kommunizieren. Wenn wir das tun, können wir auf die Gesellschaft einwirken, ja die Welt verändern.
Wir sollen uns in Freiheit binden, in Freude führen, den Fokus behalten - eine große Herausforderung! An Pfingsten wird deutlich, dass die entscheidende Änderung von oben kommt: Der Heilige Geist bringt die Jünger in Aktion. Der Heilige Geist zieht uns. Das ist unsere Hoffnung.
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