Meine Eltern wohnen noch bei mir

Impulse zur Ablösung vom Elternhaus

von Angela Ludwig

Nina war gleich nach der Schule von daheim ausgezogen und wohnte jetzt 200 km entfernt an ihrem Studienort in einer Dreier-WG. Mit einem Job an der Uni hielt sie sich finanziell gut über Wasser. Behördenkram fiel ihr nicht schwer und das Regal in ihrem kleinen Zimmer hatte sie selber angedübelt. Sie stand auf eigenen Füßen und war darauf mächtig stolz. Allerdings gab es in der WG ständig Konflikte. Sie fühlte sich von den beiden Mitbewohnerinnen schnell ausgeschlossen, reagierte gekränkt auf Kritik und regte sich permanent darüber auf, dass die beiden sich weder für den Abwasch noch fürs Putzen verantwortlich fühlten. Aber sie wagte nicht, ihren Frust zum Ausdruck zu bringen.

Als Weihnachten vor der Tür stand, sagte sie - entgegen ihrer ursprünglichen Absicht - der Mutter zu, das Fest zuhause zu verbringen. Sie konnte einfach nicht nein sagen.

Unsichtbare Fäden banden Nina trotz Auszug an die Vergangenheit und blockierten ihre innere Eigenständigkeit. Schuldgefühle, Angst vor Ablehnung und ihre Schwierigkeit, die eigenen Gefühle ernstzunehmen, ließen sie Konflikten aus dem Weg gehen.

Die Ebenen der Ablösung

Die äußerliche Trennung von Mama und Papa, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für den eigenen Alltag zu übernehmen, sind wichtige, altersgemäße Schritte auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Aber die Handlungsebene allein ist noch nicht automatisch die Ablösung von den Gedanken und Gefühlen, die uns an die Eltern binden, ja manchmal sogar anketten. Zur vollständigen Ablösung gehören zwei weitere Ebenen: die Inhaltsebene und die Beziehungsebene.

Die Inhaltsebene meint die Überzeugungen und Wertvorstellungen, die wir von zuhause mitbekommen und übernommen haben. Auch hier braucht es ein Sortieren: Was gehört zu mir und was zu den Eltern?

Die Beziehungsebene zwischen Eltern und Kindern ist sehr komplex und spielt sich großenteils  unterschwellig ab. Beide Seiten können sich auf der inhaltlichen Ebene einig sein, dass Selbständigkeit jetzt das vorrangige Ziel ist, und dennoch auf der emotionalen Ebene gegenteilige Botschaften senden. Von Elternseite etwa der leise Vorwurf, das Kind kümmere sich gar nicht mehr um sie, rufe so selten an... Auf der Seite der Tochter oder des Sohnes können Schuldgefühle vorherrschen: Kommen die Eltern überhaupt ohne mich zurecht? Hinter dem Vorwurf der Eltern kann die Angst sprechen, mit dem Kind den eigenen Lebensinhalt zu verlieren. Hinter den Schuldgefühlen des erwachsenen Kindes kann der Wunsch stehen, den Trennungsschmerz nicht erleiden zu müssen. Hier lauern Fallen für beide Seiten, den so vertrauten Abhängigkeitsmustern verhaftet zu bleiben.

Das Mobile schwankt

Die Ablösung des Heranwachsenden vom Elternhaus ist eine Phase des Umbruchs: Was einmal getragen hat, trägt nicht mehr. Der Jugendliche grenzt sich gegen "Kontrollfragen" und Vorschriften ab, pflegt Geheimnisse und einen deutlich ruppigeren Ton. Seine neue Familie ist für ihn die Clique der Gleichaltrigen.

Der betonte Rückzug und Wechsel zwischen Nähe und Distanz sind für Eltern schmerzlich und nicht leicht auszuhalten, vor allem wenn sie als Ablehnung gedeutet werden. Für den Jugendlichen wechselt der Überschwang, die Welt verändern zu können, ab mit Ängsten und Unsicherheiten. Für alle Beteiligten ist es eine emotional anstrengende, von Ambivalenzen geprägte Zeit des Umbaus der Beziehung: Die Machtverhältnisse zwischen Kindern und Eltern ändern sich.

Man kann das Familiensystem am besten mit einem Mobile vergleichen: Wenn einer seinen Platz darin verändert, müssen auch alle anderen sich bewegen, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird.

Die Auseinandersetzungen, oft um Lappalien, bei denen die Fetzen fliegen, sind notwendig, damit "die Jungen" den Entwicklungsschritt aus dem Nest schaffen. Die unsichtbare Nabelschnur zum Elternhaus muss durchtrennt werden! Da ist "Reibungswärme" durch elterliche Klarheit bei gleichzeitiger Zugewandtheit eine unschätzbare Hilfe. Ziel der mehr oder weniger heftigen Kämpfe ist es, dass sich die Beziehung von Abhängigkeit zu Augenhöhe verändert und eine neue Qualität des Miteinanders in gegenseitiger Wertschätzung entsteht.

Unsere neue Identität

Dass Ablösung eine zentrale Entwicklungsaufgabe ist, sagt uns auch das Wort der Bibel und stellt uns ausdrücklich vor die Herausforderung, mündig zu werden: Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann (erwachsen) wurde, tat ich ab, was kindlich war. (1. Kor 13,11)  

Jesus selbst hat diesen Weg zur inneren Unabhängigkeit beschritten. Schon als 12jähriger im Tempel kommt er in einen ernsten Konflikt mit den Eltern als er entdeckt, dass seine Identität nicht in der Beziehung zu ihnen liegt, sondern dass er Gott gehört: Seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. (Lk 2,40ff)

Auch sein Herz musste sich zunehmend aus alten Bindungen lösen, um frei zu werden für die Geschichte, die Gott mit ihm vorhatte. Als er älter wird, zieht er deutlichere Grenzen - gegenüber der Mutter: Frau, was habe ich mit dir zu schaffen? (Jh 2,4) und später gegenüber der ganzen Familie und Verwandtschaft: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Mk 3,31ff)

Ablösung heißt nicht, sich der Verantwortung zu entziehen. Noch am Kreuz sorgt er für seine Mutter. (Joh 19,26+27)

Als Jesus einmal nach den gültigen Normen für Partnerschaft und Ehe gefragt wird, greift er auf den alttestamentlichen Schöpfungsentwurf zurück und antwortet: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. (Mt 19,5+6). Damit ein neuer Organismus, eine neue Lebensverbindung zwischen Mann und Frau entstehen kann, braucht es das bewusste Verlassen der tiefen emotionalen Bindung an die Herkunftsfamilie, den Abschied von den Kindheitsmustern und -rollen. Aus einem Sohn, einer Tochter wird nicht automatisch ein achtsamer Ehepartner oder fürsorglicher Elternteil. Ohne das innere "Verlassen" der Erstbindungen (äußerlich blieb der jüdische Sohn mit seiner Frau im Vaterhaus wohnen!) ist es nicht möglich, eine neue reife Intimbeziehung einzugehen und eine Familie verantwortlich aufzubauen.

Werde, der du bist

Während das körperliche Erwachsenwerden von selbst geschieht, braucht es für den inneren Reifungsprozess die Bereitschaft, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Ninas Konflikt mit einer ihrer Mibewohnerinnen spitzte sich zu. Als sie sich bei einem Spaziergang bei ihr unterhaken wollte, wehrte diese unerwartet heftig ab. Für Nina war das ein Schock, der sie ins Bodenlose fallen ließ. In einem Gespräch mit einer Vertrauensperson fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. In ihr stiegen Bilder aus der Kindheit auf, wie sie einmal ihre Mutter berühren wollte und die sie heftig abwies mit dem Satz "Fass’ mich nicht an, du weißt, dass ich das nicht leiden kann!" Aufgrund dieser und ähnlicher Erfahrungen war etwas in ihr zerbrochen und das Gefühl hatte sich bei ihr festgesetzt, lästig und zudringlich zu sein. Sie begann, alles zu meiden, was Ablehnung hervorrufen könnte.

Die Eltern sind unsere erste Liebe! Von ihnen hängen nicht nur die Zutaten unseres Aussehens, unserer Gaben und Werte ab, sondern auch unser Daseinsgefühl, unser Selbstbild und das Urvertrauen oder die Ur-Unsicherheit dem Leben gegenüber. "Die Bindung an die Mutter und/oder den Vater ist das zentrale Problem menschlicher Reifung, die bestimmende Macht unserer Gefühle uns selbst und anderen gegenüber." (Helmut Jaschke).

Wenn ein Kind erlebt, dass es in seinen existentiellen Bedürfnissen nach Nähe, Sicherheit und Zuwendung wahrgenommen wird, entwickelt es Zutrauen zu sich selbst und den Mut, sich neuen Erfahrungen zu stellen. Ist das nicht möglich, entsteht eine "unsichere Bindung" mit ängstlichem oder vermeidendem Verhalten anderen gegenüber.

Diese frühen Erfahrungen wirken sich emotional auf uns und unseren Umgang mit anderen aus und beeinflussen unsere Erwartungen ihnen gegenüber. So wirkt die Familiengeschichte in die Gegenwart hinein und gestaltet sie mit. Meine Eltern wohnen noch in mir, sogar wenn sie schon gestorben sind.

Schritte in die Freiheit

Der erste Schritt in die Freiheit aus den emotionalen Verstrickungen hieß für Nina, ihre eigenen Gefühle wahr- und ernstzunehmen und in Beziehung zu Gott zu bringen. Das konnte sie nicht allein. Dazu brauchte sie die Sicherheit, dass ihr Schmerz und ihr Zorn sein durften und sie aufgefangen wurde.

Ein zweiter Schritt bestand darin, unterscheiden zu lernen, was an ihrem inneren Konflikt ihr Anteil war und was der der Eltern. Weil Nina sich für die mütterliche Abweisung verantwortlich fühlte, prägten sich in ihr "Glaubenssätze" wie: Ich bringe es nicht, ich bin schlecht, ich bin an allem schuld...

Ein dritter Schritt hieß, für die eigenen Gefühle Verantwortung zu übernehmen und sich zeigen zu lernen, statt zu erwarten, dass die anderen auch ohne Worte merken, wie es ihr geht. Nina wagte zu sagen: "Ich finde es schrecklich, dass ihr nie die Küche macht und alles an mir hängen bleibt."

Der vierte Schritt dauerte lange. Aber eines Tages konnte Nina konkret aufschreiben, was die Eltern ihr angetan hatten und wo sie ihnen etwas schuldig geblieben war. Sie beschloss, beides an Christus abzugeben, den Eltern zu vergeben und selbst Vergebung anzunehmen.

Eine verletzungsfreie Kindheit gibt es nicht, weil Eltern Menschen sind - mit Licht und Schatten. Sie können sich irren, haben begrenzte Kräfte und bringen ihre eigene Verletzungsgeschichte mit. Gott mutet uns Wunden und Mangelerfahrungen zu, aber unsere Kindheit muss uns nicht zum Verhängnis werden. Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal, der mit zwei Jahren seine Mutter verlor, drückte seine Hoffnung in dem Satz aus: "Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen."

Unsere Wunden brauchen Heilung. Die aus andauernden Verletzungen entstandenen Bindungen und Festlegungen brauchen Lösung. Die aus Wunden entwickelten sündhaften Reaktionen - wie z. B. die Weigerung, Verantwortung für sich zu übernehmen, das Abwehrverhalten ("ich brauche niemanden"), die Opferrolle ("die anderen sind an allem schuld") - brauchen Vergebung.  

Jesus heilt erlittenes Unrecht, löst aus falschen Selbstbildern, Glaubenssätzen und Resignation. Er vergibt uns unseren Hass, die Verachtung und Unversöhnlichkeit. Sein bedingungsloses Ja zu uns ermöglicht uns zu werden, was wir in seinen Augen schon sind: ein unverwechselbares Original.

Die Eltern ehren

Unsere Eltern sind unsere Lebenswurzeln. Ihnen verdanken wir das kostbarste, was wir haben: das Geschenk unseres Lebens. Sie zu "ehren" meint, unsere Wunsch-Vorstellungen von ihnen aufzugeben, sie so stehenzulassen, wie sie sind, und sie in ihrem Gewordensein zu achten. Im Hebräischen hat das Wort ehren den Bedeutungszusammenhang von schwer, gewichtig oder reich sein. Im Annehmen des Gewichtes, das unsere Eltern für uns haben - im Positiven wie im Negativen -, nehmen wir uns selbst an.

Von

  • Angela Ludwig

    Germanistin und Romanistin, Mitglied des OJC-Redaktionsteams und geistliche Begleiterin für viele innerhalb und außerhalb der OJC-Gemeinschaft.

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