Editorial

Die Welt ist eine Brücke.
Geh hinüber, aber bau nicht
deine Wohnung dort.           
Indien, Taj Mahal

"Wer früher stirbt, lebt länger ewig." So knapp und frech hat der Arzt und Erfolgsautor Manfred Lütz den Zusammenhang von Leben und Sterben im Kontext des christlichen Glaubens beschrieben. Sicher mit einem Augenzwinkern, theologisch aber zweifelsfrei korrekt. Blättert man in den Seiten der eigenen Lebensjahre wie in einem großen Buch, so findet man zwischen den Deckeln von Geburt und Tod in der Regel vor allem dieses: Abschiede und Aufbrüche, Aufbrüche und Abschiede.

Wer wachsen will, muss immer wieder Abschied nehmen und aufbrechen. Dem Aphorismus von Manfred Lütz könnten wir daher hinzufügen: Wer Abschied nimmt, hat mehr vom Leben.

Abschied nehmen heißt loslassen

In diesen Tagen ist der Abschied ein Herbstgeschehen. Die Bäume verlieren ihr gewohntes Kleid und ihren uns liebgewordenen Anblick. Sie lassen ihre Blätter los und werden kahl. Dabei ist die Leere weder Ziel noch Selbstzweck, sondern notwendige Zeit des Übergangs, Zeit der Konzentration aufs Wesentliche. Denn schon jetzt tragen sie die Erwartung des Neuen in ihren Spitzen: in den Knospen sammeln sie Kraft und erwarten den kommenden Frühling. Nur augenscheinlich ist der Baum kahl und erstarrt; wer genau hinschaut, kann den noch verborgenen Aufbruch erkennen.

Abschied heißt entbehrlich werden

Weniger spektakulär und wie selbstverständlich verabschieden wir jeden Abend den Tag und jeden Morgen die Nacht.
Auf dem Hühnerhof war einst der Hahn erkrankt. Es war abzusehen, dass er am nächsten Morgen seiner Pflicht, den Tag zu begrüßen, nicht würde nachkommen können. Die Hennen machten sich Sorgen, denn sie waren felsenfest überzeugt, die Sonne gehe nur auf, weil der Hahn sie rufe. Der nächste Morgen aber belehrte sie eines Besseren: Die Sonne ging auf wie an jedem Tag - ganz von allein. Sie schien das Krähen nicht vermisst zu haben.

Die Lektion für die Hühner lautet: Gelassenheit, Schwestern: das Leben ist größer als der Hühnerhof. Und auch die Botschaft für den Hahn hat es in sich: Wahre Leiterschaft beinhaltet das Ziel, einmal entbehrlich zu werden. Schließlich gilt die Hoffnung dem Morgenglanz des neuen Tages, und der kommt aus Gottes Hand. Hähne kommen und gehen - allein unser Herr kommt.

Abschied nehmen heißt erinnern

Im Abschied liegt die Geburt der Erinnerung. Das war uns dieser Tage sehr präsent, als sich am 9. November zum 70. Mal die Nacht der Pogrome gegen die Juden jährte. In Reichelsheim gedachten wir, wie an vielen anderen Orten in unserem Land, des vernichtenden Sturmes der Nazis auf die Synagogen und Geschäfte unserer jüdischen Nachbarn. Die "Reichskristallnacht" war der Auftakt zum Holocaust. Der 9. November 1938 wurde zum Fanal: In dieser Nacht wurden im Geiste bereits jene Gleise gelegt, auf denen die Viehwagons "zur Endlösung der Judenfrage" nach Auschwitz rollten. Dieses Erinnern ist das schmerzhafte Eingeständnis des Scheiterns unserer Nation, unserer Väter und Großväter an der Herausforderung der Geschichte. Im Erinnern durchschauen wir die dem Scheitern zugrundeliegenden zerstörerischen Zusammenhänge und haben die Möglichkeit, in der Zukunft neue Wege zu gehen.

Dass Gott selbst auf den Trümmern des Holocaust mit unserem deutschen Volk neue Wege gehen will, zeigt der unerwartete Fall der Berliner Mauer 1989. Was für ein starkes Zeichen der Gnade, dass auch das an einem 9. November geschehen durfte!

Abschied nehmen heißt dankbar werden

"Dankbarkeit ist der Wächter am Tor der Seele gegen die Mächte der Zerstörung", haben wir von Gabriel Marcel gelernt. Neben der Trauerarbeit gehört daher auch die Dankbarkeit zum Aufbruch (S. 230). Sie stärkt und nährt unsere Fähigkeit, im Vertrauen Neues zu wagen. Denn wir dürfen gewiss sein: das Leben der Jesusfreunde bekommt seinen Sauerstoff aus der Zukunft! (S. 220) Das gilt für die Jungen wie für die Alten.

Einer, der mit Ewigkeitshorizont im Herzen alt geworden ist, ist Horst-Klaus Hofmann, Gründer der OJC-Großfamilie. Wir gratulieren ihm herzlich zum 80. Geburtstag (S. 210) und blicken dankbar auf die Früchte seines Lebens und auf seine Gabe der Verkündigung (S. 212).

Abschied nehmen, das kann auch der Verlust eines lieben Menschen bedeuten. Was es bedeutet, "Adieu" zu sagen und das Leben eines geliebten Menschen loszulassen, lehrt uns die seelsorgerliche Predigt von Andreas Geister (S. 201). Gewiss ist: Für Christen ist selbst dieser Abschied nicht das Ende. Unsere Welt ist eine Brücke, das Leben ist Anlauf und Bereitung, der Tod der Absprung, die Auferstehung das Ankommen im Land der Freude ohne Ende.

Abschied nehmen heißt sich aufschwingen

Auch der Weg zu Freiheit und Reife eines Erwachsenen ist ein lebenslanger Weg des Abschieds. Wer Neuland erobern will, der muss die eingespurten Familienpfade irgendwann verlassen - was schmerzhaft sein kann. Nur wem die Ablösung von den Eltern gelingt, kann wirklich aufbrechen und sein eigenes Leben gestalten (S. 204).

Neuland erobern wollen auch die neuen Mitarbeiter im Jahresteam der OJC (S. 208). Sie und alle anderen Mitarbeiter in unserer sich verjüngenden Gemeinschaft stellen wir Ihnen in diesem Heft vor.

Aufbruch heißt kompakt werden

Neuland werden wir auch mit dem Salzkorn betreten. Im nächsten Jahr wird es vier gedruckte Salzkorn-Themenhefte geben. Ab April 2009 möchten wir Ihnen alternierend dazu das Salzkorn Kompakt anbieten, in dem wir vor allem über Ereignisse und Projekte aus unserer Gemeinschaft berichten.

Das Salzkorn Kompakt wird digital erstellt und kann auf der Internetseite der OJC gelesen werden. Wir möchten Sie gern per E-Mail auf die Veröffentlichung hinweisen. Wer uns seine aktuelle Mail-Adresse noch nicht mitgeteilt hat, schreibe bitte eine Nachricht an versand@ojc.de mit seiner Postanschrift und dem Stichwort: Salzkorn Kompakt. Wer keinen Internetzugang hat (und auch keine Kinder, Enkel oder Nachbarn um einen Ausdruck bitten kann), dem schickt unser Versand auf Wunsch gerne einen Ausdruck per Post zu. Wir freuen uns darauf, Sie auf diesem Wege intensiver am Leben der Gemeinschaft teilhaben zu lassen.

Aufbruch heißt beten

Zusammen mit diesem letzten Salzkorn des Jahres schicken wir Ihnen unseren Kalender "Aufruf zum Gebet" für 2009 als Zeichen unseres Dankes für Ihre Freundschaft und alle Unterstützung im vergangenen Jahr. Worte und Gestaltung des Kalenders tragen diesmal insbesondere etwas vom Geheimnis des Anfangs in sich. Wir wünschen uns, dass er Ihnen ein hoffnungsvoller Begleiter durch das neue Jahr wird.

Mit der OJC-Weihnachtsaktion stellen wir Ihnen unsere weltweiten Partner und ihre mutigen Projekte vor. Wir wollen Sie auch in diesem Jahr dazu einladen, an Weihnachten mit uns zu teilen und bewährte Hoffnungsträger zu unterstützen, die sich mit geringen Mitteln und großem Engagement für die Nöte der Armen und Bedürftigen einsetzen. (S. 198)

Wir sind Pilger auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause. Jeder Abschied erinnert uns daran. Jeder Abschied ist ein kleines Sterben, aber auch ein Präludium zum Aufbruch.

Solchen Aufbruch - inneren und äußeren - wünsche ich Ihnen und Ihren Lieben, auf dass wir uns auf unserer Pilgerreise nicht einrichten, sondern vor allem immer neu ausrichten: an Ihm, Christus, der uns verborgen gegenwärtig durchs alte Jahr begleitet und uns auch ins Neue Jahr hineinführen wird.

Mit der ganzen Kommunität und allen Mitarbeitern grüße ich Sie in herzlicher Verbundenheit,

Ih

Dr. Dominik Klenk

Reichelsheim, den 15. 11. 2008

P.S. "Don't worry about the world coming to an end today - it's already tomorrow in Australia."

Von

  • Dominik Klenk

    Journalist und Medienpädagoge; Leiter und Prior der OJC von 2002-2012; seitdem Leiter des fontis' Verlags (ehemals Brunnen Verlag), Basel

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