Was wir im Auge haben, das prägt uns. Da hinein werden wir verwandelt. Wir kommen, wohin wir schauen.
(Heinrich Spaemann)
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht auf das Herz.
(Die Bibel - 1. Samuel 16, 7b)
Der Bildschirm ist allgegenwärtig. Auf der Arbeit längst unausweichlich, in der Freizeit zunehmend, ist die Mattscheibe mit Netzanschluss längst auch im Zentrum des familiären Alltags angekommen, und die Sitzplätze in Blicknähe sind begehrt.
Wer einen vor Augen hat, dem steht die Welt offen. Der kann sich einloggen, surfen, bei eBay etwas ersteigern, ein Filmchen anschauen oder seine Mails abholen. Der Bildschirm ist das sichtbare Endstück einer gigantischen Vernetzung von Daten, Informationen und Bildern im World-Wide-Web. Was dahinter steht, ist für den Laien kaum zu erfassen. Denn wie das Netz wirklich funktioniert, was uns in Zukunft erwartet und welche Chancen und Abgründe sich auftun, ist ebenso unüberschaubar wie ungewiss.
Gewiss ist, dass die Nutzung des Internet immer wichtiger für uns wird. Im Durchschnitt verbringen Erwachsene in unserem Land eine Stunde pro Tag vor dem Bildschirm - allein um zu surfen. Im Vergleich zur jungen Generation ist das noch wenig: Für die Altersgruppe der 14-19jährigen ist das Internet inzwischen Medium Nummer eins. Sie sind 120 Minuten pro Tag im Netz unterwegs - durchschnittlich!
Was sich in unseren Tagen ereignet, schließt zweifelsohne an die Umbrüche der beiden ersten medialen Revolutionen an: Gutenberg mit der Erfindung des Buchdrucks hat die Kultur seinerzeit ebenso nachhaltig verändert, wie die Erfindung von Funk und Fernsehen Anfang des letzten Jahrhunderts. Im Internet steht nun eine Verschmelzung der bisherigen Medientypen an: Buchstabe und Bild, Ton und Telefon werden vereint. Jeder Absender ist auch Empfänger und jeder Konsument kann Produzent werden.
Für eine Wissens- und Konsumgesellschaft wie die unsere haben sich damit dynamische Perspektiven eröffnet - wenn es gut geht, profitieren wir davon: Die Demokratisierung des Informationsflusses durch das Internet kann die Macht von Monopolisten einschränken. Der freie Zugang zu Informationen für jederman bewirkt eine neue Entwicklung von Angebot und Nachfrage, die nicht mehr nur eine Wirtschaftselite begünstigt. Wer heute einen günstigen Kühlschrank kaufen, eine Reise buchen oder sich über eine Krankheit erkundigen möchte, kann sich in wenigen Minuten im Web informieren. Ebenso können wir unsererseits mitteilen, welches Hausmittel wir bei Mumps erfolgreich angewendet und wo wir unseren Urlaub empfehlenswert verbracht haben.
Grenzenlos geworden ist die Möglichkeit, Inhalte ins Netz einzustellen. Die Quantität ist längst ins Unüberschaubare gewachsen, es gibt Milliarden von Einträgen. Nicht gelöst jedoch sind das Qualitätsproblem und die sinnvolle Organisation der Fülle. Wenn es nicht gelingt, auch im Internet verbindliche Werte und Maßstäbe zu formulieren, erstickt die Kommunikationsgesellschaft in Banalitäten und Schrott.
Wir haben mit einem gesprochen, der an der Lösung dieser Probleme mitbaut und uns erklärt, was es mit der nächsten Web-Generation, mit Web 3.0, auf sich hat und warum Christen es nicht versäumen sollten, sich dabei zu engagieren (S. 150).
Das Eindringen der Bildschirme in fast alle Bereiche verändert unser Leben. Oft kaum spürbar, aber eben doch nachhaltig. "Social Networking" ist eines der großen Schlagworte. Dahinter verbergen sich Marktplätze, Foren und Communities, auf denen sich Menschen virtuell im Netz treffen. Stundenlang wird diskutiert, gechattet und palavert. Es ist leicht, hier einzusteigen und mitzureden - leichter als im wirklichen Leben. Es besteht die tolle Chance, Kontakte zu knüpfen und Interessen auszubauen. Aber es birgt auch die Gefahr, auf dieser Ebene der Begegnung stehenzubleiben, weil der Internet-Chat - selbst über gewaltige Entfernungen hinweg - eine Vertrautheit erzeugt, die viele Menschen im realen Leben so nicht zustande bringen. Diese Dynamik wiederum fördert ein Paradox unserer Zeit: wir entwickeln zunehmend eine Kultur der kontaktreichen Beziehungsarmut.
Auf eigentümliche Weise sind Bildschirm- und Computerwelten der Bindung und Begegnung in Zeit und Raum enthoben: Man ist körperlich nicht dort, wo man virtuell zu sein scheint. Und doch verlässt man mit seiner ganzen Aufmerksamkeit den Raum, in dem man körperlich tatsächlich anwesend ist, um ganz Auge zu werden und in den Bildschirm "einzutauchen". Für die Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung ist er ein geniales Instrument, um Räume und Zeite zu überbrücken. Damit wächst aber auch die Gefahr, in dieser globalen Weite heimatlos zu werden. Heimat ist im Netz nicht möglich und auch nicht gefragt. Meine Verortung in Raum und Zeit hat für meine Netz-Kontakte keinerlei Bedeutung.
Profitieren werden langfristig diejenigen, die das Internet nutzen lernen, ohne sich von ihm benutzen zu lassen. Das bedeutet, die Frage zwischen "Herr und Knecht" immer aufs Neue entschieden zu beantworten und sich der Eigendynamik des Mediums bewusst zu sein. Wer ist der Herr über meine Lebenszeit? Wer entscheidet über die Räume, die ich auf dem Bildschirm betrete? Medienkompetenz wird heute in Schule, Politik und Wirtschaft gefordert. Man meint damit den Erwerb der technischen Fähigkeiten, um mit Programmen umzugehen und sich Information im Netz zu beschaffen. Die grundlegende Medienkompetenz setzt viel tiefer an: sie ist die Fähigkeit, dem Medium selbst einen angemessenen Platz im eigenen Leben zuzuweisen. Das heißt auch, die Kunst des Ignorierens von Bildschirmwelten einzuüben. Dazu braucht man Heimat, Freundschaften und richtungsweisende Erfahrungen im realen Leben. Wir tun gut daran, eine ausgeprägte Kultur des Feierns, des Streitens und Versöhnens, des Abenteuers und der familiären Rituale zu entwickeln, wenn wir unsere Kinder nicht an die Rattenfänger im Kabel verlieren wollen (S. 178).
Aber nicht nur unsere Kinder laufen Gefahr, sich im Netz zu verfangen. Am Bildschirm ist Mann immer nur einen Mausklick vom Porno entfernt. Angebot und Nachfrage boomen - und diese Bilder wirken wie schleichendes Gift. Sie zersetzen die Achtung vor der Würde des anderen, aber sie zersetzen auch unsere eigene Würde und Selbstachtung. Pornografie lässt Identität verkümmern. Unsere Integrität wird ausgehöhlt, wir züchten Heimlichkeiten. Das Infame daran ist die Beiläufigkeit der Gelegenheit: Eben noch sprechen wir liebevoll mit unseren Nächsten, zwei Minuten, fünf Meter und einen Mausklick weiter stehen wir im Bann kopulierender Leiber. Diese Bilder verunreinigen nicht nur die eigene Seele, sondern auch den größeren Leib, zu dem wir gehören: unsere Ehen, unsere Familien, unsere Gemeinden. Wir können Versuchungen nicht immer widerstehen, aber wir dürfen es uns nicht leisten, uns an ein Leben im Schmutz zu gewöhnen. Beichte und die seelsorgerliche Arbeit an den Andockflächen dieser fehlgeleiteten Sehnsüchte sind für ein wirksames und leidenschaftliches Leben in Christus unerlässlich.
Beziehungswesen sind wir - von Anfang an: Identität muss zugesprochen, Zugehörigkeit erfahren, Gemeinschaft erlebt werden. Realitätsaneignung ist ein anstrengender und zeitweise schmerzhafter Weg, aber nur über ihn wird aus einem Säugling ein Menschenkind, das "Ich" sagen und "Wir" empfinden kann. Dabei geht es um Inkarnation: ins Fleisch gehen soll uns die Gewissheit, wie wir heißen, woher wir kommen, zu wem wir gehören und warum uns dieses Leben braucht. Christen haben das Vorrecht, diese Fragen hoffnungsvoll im Horizont von Schöpfung, Auferstehung und ewigem Leben an die nächste Generation weiterzugeben. Wo das gelingt, wächst ein tragender Boden der Wirklichkeit, um jeder anderen Dynamik - auch der virtuellen - aufrecht zu begegnen. Solches Wachstum braucht Menschen, die Orte in Zuhause verwandeln, die da sind, die Verlässlichkeit, Zuwendung und Widerstand bieten, damit sich Persönlichkeit entfalten kann.
Die Revolution der Bildschirme ist Herausforderung und Chance, das reale Leben intensiver und bewusster miteinander zu gestalten. Machen wir uns bewusst, dass es die Momente von Gleichgültigkeit und Langeweile, Verunsicherung und unerfüllter Sehnsüchte sind, in denen die Sogkraft der Bildschirme die größten Angriffsflächen bei uns hat.
Unsere Chance liegt darin, dem Gemeinschaftlichen zu folgen und miteinander die Fundamente unseres Menschseins zu stärken. Ich plädiere für eine Kultur beherzter Sinnlichkeit. Leib sein! Das kann heißen, einander öfter zu umarmen (nicht nur bei den besonderen Anlässen) und miteinander zu tanzen, einander mehr Anlass zum Lachen zu geben (Spaghetti-Spritzer auf dem T-Shirt sind Steilvorlagen, um Humor zu zeigen!), uns beherzter die Wahrheit zuzumuten ("Tut mir leid, aber der Blumenkübel hat eine Delle in unser Auto gedrückt"), selbstverständlicher unsere Not zu teilen und miteinander zu beten (nicht nur bei der jährlichen Generalbeichte), unseren Frauen und Töchtern großzügiger Komplimente zu machen und mit unseren Söhnen leidenschaftlicher zu kämpfen und Kräfte zu messen. Das alles kann die Welt der Bildschirme nicht bieten. Die beste Mitgift für unsere Kinder sind Erlebnisse und handfeste Erfahrungen im wirklichen Leben. Die setzen die Sehnsucht ihrer Herzen auf die richtige Spur.
Wie jede Revolution, so stellt uns auch die digitale Globalvernetzung vor Herausforderungen, die wir angehen müssen. Totalverweigerung ist keine Antwort. Die Dinge einfach so auf uns zukommen zu lassen aber auch nicht. Nicht Bagatellisierung und nicht Dämonisierung, nur Wagemut und Sensibilisierung führen uns weiter. Das rechte Maß angemessener Technik im richtigen Alter ist nicht leicht zu finden. Kompromisse und Abmachungen im Umgang mit den neuen Medien müssen mühsam errungen werden - schablonenhafte Antworten helfen nicht weiter. Kreativität, Mut und Konsequenz sind gefordert. Einige gelungene Experimente möchten wir zur Nachahmung empfehlen: Wie junge Männer Zeit gewinnen (S. 168), wie Teenager zu einem Handy kommen (S. 161) und wie wir unsere heranwachsenden Kinder in einer sexualisierten Medienwelt (S. 164) begleiten können.
Der Blick in dieses Heft wird in Unruhe versetzen. Möge es eine heilige Unruhe sein, die uns aufhorchen lässt und in Bewegung bringt. In alledem dürfen wir gelassen sein, weil wir vom Ende der Tage her leben dürfen. Dabei ist es eine wirksame und kraftschenkende Übung, von Zeit zu Zeit die Augen zu schließen, um uns im Raum der Stille das Wesentliche zu vergegenwärtigen: Wir sind Angesehene von Gott. Er blickt uns alle Zeit gütig und liebevoll an. Unsere Seele dürstet danach, angeschaut zu werden. Von diesen Augen-Blicken Gottes her kommt Ruhe und Sättigung in unser Leben.
In der ersten Septemberwoche beginnen wir aufs Neue das Experiment des gemeinsamen Lebens mit zwei Händen voll junger Männer und Frauen, die auf Schloss Reichenberg das wirkliche Leben mit uns wagen wollen. Der Ausblick ins neue OJC-Jahr beginnt mit dem dankbaren Blick zurück: Viele fröhliche und mutmachende Begegnungen während der hellen Sommerwochen vergewisserten uns des World-Wide-Web ganz konkreter Freundschaften, in dem wir gehalten sind (S. 182).
Dankbar für Ihr Mittragen in 40 Jahren Offensive Junger Christen und 10 Jahren OJC in Greifswald grüße ich Sie herzlich mit dem Zuspruch des Paulus: "Gott gebe Euch erleuchtete Augen des Herzens."
Ihr Dr. Dominik Klenk - September 2008
Jede Ausgabe dieser Zeitschrift können Sie kostenfrei bestellen. Bitte mailen Sie an versand@ojc.de oder rufen Sie an: 06164-9308-320.
Auch künftige Ausgaben vom Salzkorn (erscheint vier Mal im Jahr) senden wir Ihnen gerne zu. Sie können unsere Zeitschriften gerne kostenfrei hier abonnieren.
Helfen Sie uns mit Ihrer Spende, christliche Werte und eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Strömungen der Zeit auf der Grundlage des Evangeliums an nachfolgende Generationen zu vermitteln.