von Jeppe Rasmussen
Mitte der 90er Jahre rollte die Revolution in mein Elternhaus - das Internet. Es war spannend und neu, aber meine Aktivität blieb vorerst hauptsächlich auf E-Mails beschränkt. Und so revolutionär war es denn doch nicht, meinem Bruder, der im selben Haus wohnte, zu mailen; sonst kannte ich niemanden mit einer E-Mail-Adresse. Als ich mit 20 Jahren nach Deutschland zog, änderte sich mein Nutzerverhalten: per E-Mail konnte ich den Kontakt nach Hause leicht halten und fand im Netz viele Nachrichten über die dänische Politik.
Seit 1999 lebe ich nun im Ausland - und auch online: Per Internet chatte und rede ich mit Familie und Freunden in aller Welt, wickle Bankgeschäfte ab, kaufe Bücher, Kleidung und auch mal eine Waschmaschine - es macht mein Leben einfacher. Fast jede neue Entwicklung mache ich mit, probiere die jüngsten Trends und Techniken aus. Im Grunde kann ich mir ein Leben ohne Internet kaum noch vorstellen.
Die Palette meiner Internet-Nutzung wurde immer bunter. Immer mehr Themen- und Interessengebiete kamen hinzu. Am zeitaufwendigsten war dabei das Beschaffen und Lesen von Nachrichten aller Art. Bis vor einigen Jahren gehörte es zu meinem täglichen Ritual, die Webseiten von großen Zeitungen in Dänemark, Deutschland und dem Libanon, wo meine Frau aufgewachsen ist, abzurufen. Ich durchforschte die jeweiligen Hauptseiten und einige Ressorts auf der Suche nach Lesenswertem und hielt mich so auf dem Laufenden.
Vor drei Jahren lernte ich die RSS-Techno-logie (Really Simple Syndication) kennen. Mit ihr kann ich viele Webseiten gleichzeitig -beobachten und auf Neuerungen prüfen, ohne sie einzeln aufrufen zu müssen. Der Anbieter liefert dazu meinem Feed-Reader (Futter-Leseprogramm) ein sogenanntes RSS-Feed (Futter), das die Artikel anzeigt. Nach anfänglicher Skepsis überzeugte mich das Potential, das sich darin verbarg, und ich freute mich auf die Zeit, die ich von nun an einsparen würde: Ab jetzt würden die Nachrichten automatisch zu mir kommen. Das lästige Surfen durchs Web mit all den dazugehörigen Ablenkungen würde nun ein Ende haben - dachte ich.
Doch bevor mir der Feed-Reader durch kurzes gelbes Aufblitzen anzeigen konnte, dass neues Lesefutter eingetroffen war, musste ich mich erst auf die Suche nach interessanten Feeds begeben. Da die Technologie sehr einfach ist, treten nicht nur die etablierten Medien als Feed-Anbieter (Futterversorger) auf; jeder Internet-Nutzer kann senden und empfangen. Es gibt Millionen von Seiten, die RSS-Feeds anbieten: Über mediterranes Kochen, das Erlernen der japanischen Sprache oder über wirtschaftliche Entwicklungen in der Karibik - zu fast jedem Thema gibt es "Futter".
Mein digitaler Nachrichtentisch hat sich schnell und reich gedeckt. Ich fügte fast jede nur halbwegs relevante Webseite zu meinem Feed-Reader hinzu. Bald standen Geschichten aus aller Welt auf meiner Menükarte: Neues über politische Entwicklungen in Südamerika, Analysen der Terrorgefahren im Nahen Osten, Beiträge über Effektivität beim Erlernen von Fremdsprachen, Artikel über die neuesten Trends im Journalismus und absolut alles, was ich über IT- und Computertechnologie finden konnte. Die Sportnachrichten durften natürlich auch nicht fehlen.
Diese Fülle erschlug mich förmlich. In der normalen Papier-Zeitung hat ein Redakteur die Nachrichten für seine Leser ausgesucht und sortiert: die eine Story kommt ins Blatt, eine andere bleibt draußen. Er trifft seine Entscheidung nach bewährten Kriterien, überprüft die Vertrauenswürdigkeit der Quellen und schaut, ob politische, ökonomische oder religiöse Interessen die Nachricht verzerrt haben. All diese Aufgaben kamen nun auf mich zu: Ich musste aussuchen, sortieren, gewichten und Quellen prüfen. Kulinarisch formuliert - ich musste beurteilen, ob mich die Speise wirklich nährt oder ob mir nur Fastfood aufgetischt wird. Plötzlich saß ich also vor vielen Tausend ungelesenen Nachrichten. Mein Lesedefizit wuchs und wuchs, denn anstatt mich auf die Goldkörnchen zu beschränken, meinte ich, alles lesen zu müssen - schließlich hatte ich es ja angefordert. Meiner Frau sagte ich abends oft, ich würde nur kurz Nachrichten lesen, tauchte dann aber erst drei Stunden später wieder auf, wenn es Zeit war, schlafen zu gehen.
Es hat lange gedauert, bis ich merkte, wie viel Disziplin und Selbstbeschränkung im Umgang mit den RSS-Feeds gefordert war. Im Gegensatz zur Zeitung, die eine erste und eine letzte Seite hat und meist morgens gelesen wird, sorgt der Feed-Reader immer für Futternachschub, denn das Internet ist ein Nonstopmedium; Tag und Nacht gibt es Hochaktuelles zu lesen, immer ist die nächste Story griffbereit. An mir liegt es, den Rhythmus meines Nachrichtenkonsums zu gestalten. Die entscheidende Frage lautet nicht: "Gibt es was Neues?", sondern "Brauche ich es wirklich?" Es gilt, selbst die Grenzen zu setzen. Dazu gehört es, die Grenzen meiner "Tischfläche" zu akzeptieren. Nicht jede Geschichte, nicht jedes Thema muss darauf Platz haben. Und wie nicht jede Speise zur anderen passt, musste ich lernen, auch die Themen, die ich verfolgen will, bewusster zusammenzustellen. Eine andere Grenze: Es werden keine Reste aufgehoben. Wenn ich über Wochen mit dem Lesen im Rückstand bin, versuche ich nicht, die tausend Artikel noch nachzulesen, sondern markiere sie einfach als "gelesen". Ein Befreiungsschlag per Knopfdruck!
Eine wirklich hervorragende Möglichkeit des Internet sind Instant Messenger, mit deren Hilfe die Benutzer miteinander kommuni-zieren und sich vernetzten können. Vor allem denen, die wie wir weitab von Familie und Freunden wohnen, erleichtern sie den Kontakt. Man kann einander in Lichtgeschwindigkeit Kurznachrichten zusenden und sich sogar per Videochat durch Bildschirm und Lautsprecher auch sehen und hören. Was ich dadurch in knapp zehn Jahren an Telefongebüren gespart habe, ist vermutlich einen topmodernen Laptop wert.
Auf Plattformen wie StudiVZ, Facebook, LinkedIn, Xing kann man einander auch Nachrichten hinterlassen und alten oder neuen Freunden Anteil am eigenen Leben geben. Eine fantastische Möglichkeit! Doch mittlerweile bin ich zu der Einsicht gelangt: Nicht, was ich mit dem Internet machen kann, sondern, was das Internet mit mir und meinen Beziehungen macht, ist die wirklich wichtige Frage.
Diese Frage musste ich mir von meiner Frau stellen lassen, als sie mir eröffnete, dass sie das Internet als eine Rivalin betrachtet. Sie sei nahezu eifersüchtig auf diese Nebenbuhlerin, der ich mehr Zeit und Aufmerksamkeit widme als nötig. Da half es auch nicht, dass ich ihr gelegentlich tolle Geschichten oder Links zumailte. Denn das war virtuelle Aufmerksamkeit, bei der es außer einigen unsensiblen Zeilen Text und einem fröhlichen Smiley nichts gibt, was eine Beziehung lebendig macht: kein Berühren, kein Riechen, Schmecken und oft auch kein Sehen und Hören - keine Gegenwart. Und umgekehrt merkte ich: Während ich online stets ansprechbar war und auch immer jemanden fand, mit dem es sich zwanglos und unterhaltsam chatten ließ, empfand ich es in der Ehe-Beziehung als lästig, dass sich alles nicht sofort (instant) nach meinen Vorstellungen und Wünschen gestaltete. Ich weiß, es ist kindisch und unreif, keinen Aufschub zu dulden, nicht warten zu wollen oder sich nicht korrigieren und neu ausrichten zu lassen - doch die Online-Welt kommt diesem Bedürfnis nur allzu schnell entgegen.
Ein weiteres Erlebnis hat mich im Umgang mit dem Internet vorsichtiger werden lassen: Vor kurzem gab ich aus Neugier meinen Mittelnamen in eine Suchmaschine ein und wurde sofort zu meinem Profil auf einer -Social Network geführt, das ich zwei Jahre zuvor selbst angelegt hatte. Ich hatte nicht geahnt, dass mein Profil auch für Google und andere Suchmaschinen auffindbar war.
Natürlich ist dieses Beispiel harmlos, aber es berührte mich unangenehm, dass ich mich unwillentlich vor der ganzen Online Welt geöffnet und identifiziert hatte. Jeder hatte Zugang zu meinen persönlichen Daten. Jetzt half selbst das Löschen meines Profils nichts, denn es war bereits auf einem Google-Server gespeichert! Die Entdeckung, dass das Internet kein normales Gedächtnis hat, war beklemmend: Es vergisst nichts. Und wo kein Vergessen ist, da ist auch keine Vergebung und kein Neubeginn. Letztendlich ist das Internet nachtragend und unbarmherzig.
Diese Erfahrungen stellten mich vor die Frage: Wem öffne ich mich? Wem schenke ich meine Aufmerksamkeit? Welche Kommunikation vertieft mein Wissen wirklich? In welcher Art von Beziehungen finde ich echte Anteilnahme, Begegnung und wahren Trost?Noch gelingt es mir nicht immer, meine On-line-Offline-Zeit so zu gestalten, wie es meiner Familie und meinen realen Beziehungen gegenüber angemessen wäre, aber ich habe jetzt einen starken Verbündeten: im Libanon gibt es täglich zwei Mal vier Stunden lang keinen Strom und auch der stärkste Laptop-Akku ist irgendwann leer.
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