von Maria Kaißling
Lenken Sie sich ab, hören Sie Musik, bis Sie einschlafen", hatte mir die Ohrenärztin geraten, "erledigen Sie nur das Allernotwendigste und machen Sie ausgiebige Spaziergänge." Das war neben der medizinischen Abklärung das übliche Programm für Hörsturzpatienten: viel Ruhe, genug Bewegung und immer wieder die Ermahnung, auf äußere Geräusche zu achten, um sich von den penetranten Geräuschen im Ohr abzulenken. In der Klinik riet man mir, nicht zu viel Meditatives zu tun: "das macht nervös", und nicht gegen den Ton anzukämpfen: "Man muss sich dran gewöhnen".
Das war leichter gesagt als getan, denn das inwendige Dröhnen und Rauschen ließ mir keine Ruhe und brachte mich buchstäblich um den Schlaf. Es verfolgte mich bei der Arbeit und in der Freizeit, es war da, wenn ich las oder schrieb, meldete sich, wenn ich mich auf eine Aufgabe konzentrierte oder jemandem zuhörte. Besonders lästig war der Tinnitus in meinen morgendlichen Gebetszeiten und abends, wenn ich nachdenken wollte oder einfach nur still sein vor Gott. Mir blieb nur die Gegenoffensive: Ich ließ mich nachts musikalisch in den Schlaf lotsen, verzichtete auf stille Zeiten und hörte zur Ablenkung pausenlos Radio: Infosendungen und Hörspiele, Interviews und Reportagen, Kultur und Nachrichten. In knapp vier Monaten war ich so tagesaktuell wie selten zuvor; randvoll mit neuen Eindrücken und bestens informiert.
Gleichzeitig aber löste die ständige Berieselung durch Stimmen, Geschichten, Fakten und Emotionen bei mir auch das Verlangen nach Stille und Einkehr bei Gott aus. Ich war wie ausgeleert von allem, was mir lieb und wert ist - wie abgeschnitten von der Quelle der schöpferischen Kraft, dem konzentrierten Denken und Arbeiten und von dem Gespür von Gottes Gegenwart. Deshalb war ich sehr dankbar, als nach vier Monaten der Terror im Ohr nachließ und ich wieder ohne Dauerbeschallung auskam. Jetzt aber merkte ich, dass sich an der Stelle der lästigen Ohrgeräusche eine nicht minder lästige Geräuschkulisse in meinem Bewusstsein gebildet hatte. Meine Fantasie war besetzt von all dem Gehörten, von aller Ablenkung. Die fremden Stimmen echoten in mir weiter. Wenn es still um mich wurde, zogen aufdringliche Gedankenbilder und Eindrücke, die nicht meine eigenen waren, wie Regenwolken durch mich und behinderten die Freiheit des Heiligen Geistes. Er konnte nicht "wehen, wie er will". Wie ich zuvor das laute Geräusch im Innenohr hören musste, so "hörte" ich nun die "lauten" Bilder. Auch heute bin ich sie noch nicht ganz los.
Und dennoch erlebte ich mich mit diesem Terror im Ohr immer getragen und gehalten: Durch die ersten Wochen nach dem Hörsturz trug mich der Satz aus Jesaja 52: "Die Trümmer werden jauchzen." Ich bekam ihn, schön gestaltet und mit einem Kernwort von den evangelischen Marienschwestern ergänzt, zum Geburtstag geschenkt: "Gott ist ein königlicher, schöpferischer Herr, der immer neu sein "Es werde" spricht; er lässt aus den Trümmern unseres Lebens ein Neues auferstehen." Das stärkte meine Gewissheit: Gott, Dir läuft nichts aus dem Ruder. Was Du versprichst, geschieht auch!Um dem Terror im Ohr zu entgehen, hielt ich meine Gebetszeiten sehr kurz; manchmal strich ich sie ganz. Da fiel mir im April ein Zuspruch aus dem Hohen Lied zu: "Die Liebe ist ein Panier über mir!" Diese sanfte Liebeserklärung dämpfte sogar das Dröhnen in meinem Ohr und versicherte mich zutiefst der heilende Gegenwart Christi.In dieser Zeit habe ich auch die Zuwendung meiner Freunde neu zu schätzen gelernt. Gemeinsame Gebete, wie mit Pfarrer Wolfgang Breithaupt per Telefon, richteten mich wieder auf, ganz so, wie Jakobus in seinem Brief beschreibt. Und während Massagen für die notwendige muskuläre Entspannung sorgten, konnte sich meine Seele auf einsamen Spaziergängen und bei gemeinsamen Ausflügen entspannen.
Die Aufforderung, "Händige es an Jesus aus!" wurde mir zum hilfreichen Motto beim Umgang mit dem in mir wiederhallenden Radioprogramm. Ich darf und soll Ihm den empfundenen Mangel an Stille und den Überschuss an innerem Lärm aushändigen. Nicht nur (passiv) hinhalten, sondern bewusst (aktiv) aushändigen und zusehen, was Er daraus machen wird! Gedanken um Gedanken, Gefühl um Gefühl, Fantasie um Fantasie, Geräusche im Innenohr meiner Seele: Jesus, ich lege sie jetzt in Deine Hände. Du weißt, was damit geschehen soll. Du erlöst mich auch davon. Du füllst mich auch wieder neu mit Dir.
Meine Zeiten der Stille sind immer wieder angefüllt mit solchen Aushändigungsübungen. Ganz allmählich wird das laute Fremdbesetztsein weniger. Gott sei Dank, mein äußeres Hörvermögen ist seither wiederhergestellt - und das innere wächst langsam wieder.
Übrigens sind sich alle Fachleute darin einig: Singen in jeder Form, allein oder gemeinsam, laut oder leise, befreit das Ohr!
Jede Ausgabe dieser Zeitschrift können Sie kostenfrei bestellen. Bitte mailen Sie an versand@ojc.de oder rufen Sie an: 06164-9308-320.
Auch künftige Ausgaben vom Salzkorn (erscheint vier Mal im Jahr) senden wir Ihnen gerne zu. Sie können unsere Zeitschriften gerne kostenfrei hier abonnieren.
Helfen Sie uns mit Ihrer Spende, christliche Werte und eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Strömungen der Zeit auf der Grundlage des Evangeliums an nachfolgende Generationen zu vermitteln.