Was die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen heilt

Predigt über Markus 7,32-37

von Daniel Havemann

Sie brachten einen zu Jesus, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. ... Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. (Mk 7, 32-37)

Es war in den ersten Maitagen des Jahres 1945.  Emmi Günther war damals eine junge Frau von 24 Jahren. Voller Angst lief sie mit ihrer Mutter auf das kleine Wäldchen zu - wie jedes Mal, wenn wieder ein Artillerie- oder Bombenangriff die eingeschlossene Stadt erschütterte.

Rathenow brannte. Seit zwei Wochen tobte hier der Kampf. Fast alle Häuser waren zerstört - auch das, in dem sie und ihre Mutter Unterschlupf gefunden hatten. 
Die meisten Einwohner hatten die Stadt rechtzeitig verlassen. Doch Emmi und ihre Mutter hatten nicht gewusst, wohin. Sie waren nicht von hier. Aus Ostpreußen waren sie geflohen, Schreckliches hatten sie durchgemacht. Hier, hinter Berlin, hatten sie sich endlich sicher gefühlt. Aber nun hatte die Front sie doch noch eingeholt. Im Arm trug Emmi einen Korb. Im Korb war ein Kind. Ihr Kind. Ein Mädchen. Vor wenigen Tagen hier in Rathenow geboren.  Sie hielt an und lauschte: "Mutter, sie schreit nicht mehr. Sie ist ganz still. Ich glaube, jetzt ist sie tot." Die Mutter beugte sich tief über den Korb. "Nein, hör doch, Emmi", sagte sie "Sie atmet noch. Sie lebt!" 

Emmi, die junge Frau von damals, ist meine Oma - und das kleine Baby im Korb meine Mutter. Wie oft waren wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zusammen, wie viel haben wir miteinander geredet - aber diese Geschichte hatte ich noch nie gehört. Der Wäschekorb war seit Jahren in der Familie meiner Schwester in Gebrauch. Noch vor vier Wochen wussten weder sie noch ich, was es damit auf sich hatte. Nichts wusste ich von diesem unendlich langen Moment, als meine Großmutter in den Korb schaute. Von der Leere, als sie glaubte, ihr neugeborenes, einziges Kind sei tot. Von diesem merkwürdigen Glück, als sie wusste: Das kleine Leben geht weiter - ein Glück, dem auch ich mein Leben verdanke.

Eingeschlossen in die Sprachlosigkeit

Im Bibeltext aus dem Markusevangelium hören wir von einem Menschen, der konnte nicht hören und nicht sprechen. Über die Ursachen wird nichts gesagt. War er so geboren? War es eine Krankheit? War es ein Trauma: eine körperliche oder seelische Verletzung? Wir erfahren es nicht. 
Meine Oma konnte immer gut reden. Ob zu zweit oder in großer Runde - sie war stets gut drauf, nie war sie auf den Mund gefallen. Aber über die Dinge von damals konnte sie nicht reden. Davon wollte sie auch nichts hören. Etwas in ihr war über all die Jahrzehnte stumm und taub.
So mag es manchem gegangen sein und heute noch gehen. Mitten im turbulenten und lauten Alltag ist etwas in ihnen stumm und taub. Es findet keine Worte und kein Ohr. Es ist eingeschlossen und es ist einsam.
Viele von denen, die Krieg, Flucht und Vertreibung mitgemacht haben, waren damals Kinder. Wie schwer war es in jener Zeit zu sprechen - wer hätte zuhören können? Wo war Raum für Tränen und für Trauer? Die Erwachsenen hatten genug damit zu tun, das Überleben zu sichern.
Und die, die im Osten die Nachkriegsjahre erlebt haben, wussten, dass es schlicht zu gefährlich war, über das bei Kriegsende erlittene Leid zu reden. Das war politisch tabu. Eltern hätten sich und ihre Kinder damit in Gefahr gebracht. So war es oft nur ein Teddy, der den Kindern zuhörte, ein Bärchen - verletzt wie sie selbst.
Jede, jeder ist mit den Verletzungen von damals anders umgegangen. Manche konnten schnell zum neuen Alltag übergehen, andere hatten schwer daran zu tragen. Manche haben davon erzählt, haben Angehörige oder Freunde gefunden, denen sie sich anvertrauen konnten. Andere haben nie darüber gesprochen. Damals nicht, weil keine Zeit und Kraft oder kein Ohr dafür war. Und später auch nicht mehr. 
Nicht reden über das, was man erlebt hat - dafür gibt es viele Gründe. Oft war es einfach zu schlimm; man hat es tief in sich verschließen müssen, um überhaupt weiterleben zu können.

Es muss nicht bleiben, wie es ist

Die biblische Geschichte erzählt von einem, der kann nicht reden und nicht hören. Seine Ohren sind "verschlossen" und seine Zunge ist "mit einer Fessel gebunden". Nicht sprechen und nicht hören können - das gehört zusammen, denn für ein Gespräch muss einer da sein, der sprechen und ein anderer, der zuhören kann. Nicht reden und nicht hören können - das war für diesen Mann und seine Familie Alltag. Irgendwie ging es. Doch dann kam der Moment, als er reden und seine Familie hören wollte - und umgekehrt. Irgendwann kam der Moment, als sie spürten: Es muss nicht so bleiben, wie es ist. So bringen sie ihn zu Jesus.

Und was tut der? Er nimmt ihn aus der Menge beiseite. Er schafft einen geschützten Raum. Er ist nur für ihn da. Für den, der ihn nicht hören kann. Was Jesus jetzt tut, klingt für uns befremdlich, vielleicht abstoßend: Jesus legt dem Mann die Finger in die Ohren. Er berührt seine Zunge mit Spucke. Aber liegt nicht genau darin das Geheimnis? Jesus sagt nicht irgend etwas Kluges, er berührt diesen Menschen. 
Er berührt ihn so, dass dieser taubstumme Mann ihn verstehen kann. Er berührt ihn so, dass er etwas hören kann, dass er etwas tun kann, was er noch nie hören und tun konnte: "Hephata" - Tu dich auf! - Öffne dich!
Wurden Sie schon einmal so berührt? Es sind vielleicht nur wenige Momente im Leben, in denen man so berührt wird, dass man sich öffnen kann. Um so mehr, wenn man gelernt hat, sich vor Berührungen zu schützen, weil Berührungen weh taten und verletzten. 
Wurden Sie schon einmal so berührt?

Durch Erzählen ins Leben holen

Der Volkstrauertag hat in unserer Gemeinde wie in den meisten Gegenden Ostdeutschlands keine Tradition. Ich hatte nicht gedacht, dass dies mein oder unser Thema werden könnte.
Aber wir wurden berührt. Wir wurden davon berührt, dass Menschen uns von ihrem Schicksal erzählten. Ich wurde berührt, weil ich spürte: Das hat etwas mit meiner eigenen Geschichte, mit meiner Vergangenheit und auch mit meiner Zukunft zu tun.
Wir wurden berührt: Und viele hier in unseren Dörfern haben sich geöffnet. Wir haben uns im vergangenen Jahr unsere Geschichten erzählt. Menschen, die sich seit Jahrzehnten kannten, erzählten einander in Bibelstunden und Gesprächskreisen zum ersten Mal von dem, was sie während der Flucht und dem Ende des Krieges erlebten. Konfirmanden fragten ihre Groß- und Urgroßeltern, Enkel schrieben die Geschichten ihrer Großeltern auf. Ich werde den Moment nicht vergessen, als wir im Seniorenkreis das Buch mit den Namen der Gefallenen unserer Gemeinde aufschlugen und sich die Frauen in kleinen Gruppen zu den aufgezeichneten Namen Geschichten erzählten: Es war ein lautes Summen, das den Raum erfüllte. Es war zu spüren: Hinter diesen Namen stehen Menschen, stehen Schicksale. Wir haben erlebt, dass Berührung heilen, dass sie unsere Zunge lösen und unsere Ohren öffnen kann.

Reden um der Zukunft willen

Viele sind gegangen, ohne zu reden. Viele haben das, was sie verletzt hat, mit ins Grab genommen. Wir, die wir diese schrecklichen Zeiten nicht erlebt haben, sind jedoch darauf angewiesen, dass geredet wird. 
Wir kennen Krieg nur aus dem Fernsehen. Jeden Tag. Wir haben uns längst daran gewöhnt. Wir haben Frieden - seit über 60 Jahren. Aber Frieden kommt nicht aus dem Fernsehen. Frieden kommt aus der Begegnung. Frieden kommt aus der Berührung: aus der Berührung mit dem anderen. Und aus der Berührung mit sich selbst.
Den langen Frieden in unserem Land verdanken wir auch Menschen, die das andere erlebt haben und gesagt haben: "Nie wieder Krieg!" Was ist, wenn diese Generation schwächer wird, wenn diese Erfahrung verloren geht? Die Erfahrung von Menschen, die wissen, wie es ist, wenn Bomben fallen. Die wissen, wie es ist, wenn man seine Heimat verliert, auf der Flucht ist - der Gewalt, der Kälte und dem Hunger ausgeliefert. Sind wir dann eher bereit, es als Schicksal hinzunehmen, wenn Menschen anderswo auf diesem Erdball genau das durchleiden müssen? Müssen wir es dann irgendwann selbst wieder durchmachen?

Wir brauchen, was die Älteren zu erzählen haben. Es ist heilsam, zu fragen und sich auszusprechen, zu hören und gehört zu werden. Deshalb: Fragen Sie - und hören Sie einander zu. Berühren Sie - und lassen Sie sich berühren. Denn Berührung schafft Frieden. Frieden mit den anderen. Und Frieden mit sich selbst.
Amen.

Von

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