Der Bruder zerreißt den Kreis der Selbsttäuschung. Wer vor ihm seine Wahrheit bekennt, der weiß, dass er hier nicht mehr bei sich selbst ist, der erfährt in der Wirklichkeit des anderen die Gegenwart Gottes. Dazu ist mir der andere gegeben, dass ich durch ihn schon hier der Wirklichkeit Gottes gewiss werde.Dietrich Bonhoeffer
Irrst du noch oder scheiterst du schon?", fragte mich vor einigen Monaten ein guter Freund. Zielsicher traf er damit meine Neigung zur Selbstversorgung. Frech war das, aber es hinterließ eine heilige Unruhe in mir. Wie oft erfinden wir uns selbst und deuten die Wirklichkeit um, damit wir glänzender aussehen, erfolgreicher dastehen und beweisen, dass wir es allein schaffen. Nur nicht scheitern, bloß keine Schwächen zeigen, ja keine Hilfe brauchen...
Unsere Ideale von Autonomie und Selbstversorgung umgarnen von Zeit zu Zeit unser Herz. Mit vielen feinen Fäden weben sie ein Textil und wickeln es darin ein. "Du schaffst es allein", steht auf dem Stoff. Das klingt verlockend, ist aber eine Lüge. Aus diesem Gewebe befreit uns nur eins: die Wahrheit - und diese muss ausgesprochen werden, damit sie ihre Kraft entfalten kann. Erst wenn wir zu unserem eigenen Text finden, das heißt, wenn wir das, was unser Herz wirklich bewegt, in Worte kleiden und aussprechen, verliert die ich-einsame Spinnerei an Macht. Das Lügengespinst zerreißt. Das Aussprechen der Wirklichkeit vor Gott und vor vertrauten Menschen beendet die Selbsttäuschung und stellt uns wieder in Beziehung.
Lebendige Gemeinschaften - sei es Ehe, Familie, Freundes- oder Hauskreis, Gemeinde oder Kommunität - sind ein Geschenk des Himmels an die Erde. Und sie sind leicht zu erkennen. Es liegt ein gewisses "Etwas" in der Luft - nichts Großartiges, nicht der Glanz des Erfolgs oder der Effizienz. Es ist vielmehr etwas Leichtes und doch Bodenständiges: eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens. Hier darf sein, was ist. Hier geht es nicht um polierte Außenfassade, sondern um Echtheit. (S. 8) Geistlich gesprochen: hier leben nicht gestresste Heilige, sondern begnadigte Sünder. Einer solchen Gemeinschaft zu begegnen tut gut und steckt an.
Die Leichtigkeit, die nach außen strahlt, ist keinesfalls zufällig. Sie entsteht dort, wo Menschen anerkennen und aussprechen, dass ihr Leben ein Gemisch aus Licht und Finsternis, aus himmlischen Zutaten und irdischer Schwerkraft ist. Solche Menschen sind Wahr-Sager im besten Sinne: Sie sind eigenständig und wissen doch, dass sie andere brauchen, die ihre Last teilen und ihre Freude verdoppeln, an denen sie sich reiben und reifen. Ein Gefäß dafür kann der Austausch sein - kostbar und zerbrechlich zugleich, denn wir vertrauen uns einander an. Es ist ein Wagnis, mich dem anderen anders zu zeigen. Und es kostet immer wieder Zeit, Aufmerksamkeit und Entschiedenheit, denn unser Leben ist schnell und professionell geworden.
Aber in eben diese Herausforderung hat Gott seine Kirche gestellt, als einen Raum, in dem solche Gemeinschaft bewahrt, gepflegt und erneuert werden kann. Martin Luther hat es uns ins Stammbuch geschrieben: "Deshalb hat der Herr seine Kirche geschaffen, damit keiner alleine stehe wider den Teufel." So hängt die Erneuerung der Kirche als schöpferische und geistdurchwirkte Gemeinschaft unmittelbar mit der Erneuerung des Einzelnen zusammen. (S. 27) Wo Menschen ihre Einsamkeit durchbrechen und einander die Wahrheit zumuten, wohnt Gott. Hier wächst Gemeinschaft, denn es kommt etwas in Worte und in Fluss, was an Gottes großem Lebensstrom anschließt. Wo die Worte meines Herzens im Herzen des anderen wiederklingen, verändert sich die Welt.
Im Gegensatz zur Seelsorge, bei der ein Gefälle besteht, geschieht der Austausch auf Augen-höhe. Gemeint ist weder kollegiales Fachsimpeln noch der gesellige Plausch; es geht um das Offenbaren von Herzensanliegen und das Einstehen füreinander im Gebet. Jeder von uns ist bedürftig und jeder kann den anderen vor Gott tragen. Gerade für Menschen in Verantwortung, insbesondere in der Kirche, ist dieses Getragenwerden eine unverzichtbare Quelle der Stärkung. Ein solches Geflecht einander tragender Menschen ist ein fruchtbarer Boden für jede Art von Gemeinschaft.
Wie kann solcher Austausch praktisch gelingen? Welche Chancen tun sich auf und in welche Fallen kann man tappen? Was erleben Menschen, die sich auf einen verbindlichen Weg "im Licht" miteinander einlassen?
Dieses Salzkorn möchte eine Handreichung sein, um dem Abenteuer Austausch auf die Spur zu kommen. Da der morgendliche Austausch von Beginn an fester Bestandteil der OJC-Spiritualität war und bis heute ist, schöpfen wir nun aus dem langjährigen Erfahrungsschatz von Menschen, die es gewagt haben, sich authentisch zu zeigen. Sie berichten glaubwürdig von der Frucht eines Lebens, das sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet hat. (S. 16)
Solche keusche Offenheit voreinander muss geübt werden. Das geht nicht ohne Kampf. Denn wo die Wahrheit ans Licht möchte, bietet der Verkläger alles auf, um eben das zu verhindern - durch Ängste, Verharmlosung oder Selbstzweifel, durch Misstrauen und Scham. Wer aber sein Herz riskiert, der wird immer wieder Wunder erleben. Wenn die Macht der Isolation gebrochen ist, vollzieht sich ein geistlicher Machtwechsel: die Wahrheit macht uns frei.
Diese Freiheit haben wir wieder frisch erfahren dürfen. Im Februar hat sich unsere Kommunität zur Jahresretraite ins Kloster Volkenroda zurückgezogen. Wir haben uns eine Woche Zeit genommen, um uns zusammenzureden, auszusprechen, was vor und hinter uns liegt, insbesondere aber auch, was zwischen uns steht. Die Erfahrung der gemeinsamen Tage hat uns abermals gelehrt, wie wichtig es ist, alten Groll und Enttäuschungen beim Namen zu nennen und ins Licht Gottes zu stellen. Manches braucht Jahre, um beim richtigen Namen genannt und ausgesprochen zu werden, aber es ist stets eine Befreiung und ein Neuanfang.
Hinter uns liegt ein außergewöhnliches Jahr mit vielen Höhepunkten und farbigen Eindrücken (S. 6). Vor uns liegen viele Aufgaben: wir wollen die Baustelle unseres erlebnispädagogischen Erfahrungsfeldes auf Schloss Reichenberg weiter vorantreiben und den Generationswechsel gemeinschaftsverträglich, aber zielgerichtet gestalten. Drei junge Mitarbeiterehepaare werden uns im Laufe dieses Jahres verstärken und unser Team weiter verjüngen. Darüber freuen wir uns von Herzen, sind uns aber auch bewusst, dass dieser notwendige Schritt unser Hoffnungsbudget erheblich herausfordern wird. Im Vertrauen auf die Zusage unseres Vaters im Himmel, bei dem nichts unmöglich ist, nehmen wir die Herausforderung zuversichtlich an. Wir vertrauen auch weiterhin auf die Treue unserer Freunde durch Fürbitte und finanzielles Miteinstehen. Nicht Optimismus, wohl aber ein himmlischer Realismus macht uns zuversichtlich: Viele Hände und Herzen haben uns im letzten Jahr großzügig unterstützt und uns ermöglicht, unsere Dienste fast uneingeschränkt fortzuführen - trotz Börsenkrach und Finanzkrise (S. 41). Herzlichen Dank! Gott segne Sie mit der Erfahrung, dass auch Ihre Unmöglichkeiten in Gottes Händen und in Gottes Licht zu großartigen Möglichkeiten werden. Herzlich und mit der ganzen OJC grüße ich Sie,
Ihr Dominik Klenk
Reichelsheim, den 27. Februar 2009
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