Vorsicht „ismus”

Thomas Schirrmacher sieht Fundamentalismus immer mit militantem Wahrheitsanspruch, dem die Sichtweisen anderer verschlossen sind, verbunden. Copyright: Daniel Borg
Thomas Schirrmacher sieht Fundamentalismus immer mit militantem Wahrheitsanspruch, dem die Sichtweisen anderer verschlossen sind, verbunden. Copyright: Daniel Borg

Zwölf Regeln für einen Glauben ohne Scheuklappen

 von Thomas Schirrmacher

Da Fundamentalismus seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Öffentlichkeit meist einfach als radikaler, gewaltbereiter, religiös motivierter Extremismus verstanden wird, könnte als kürzeste Definition ein militanter Wahrheitsanspruch gelten. Für eine sachdienliche Verwendung des Begriffs als Bezeichnung für Personen, Bewegungen und Gruppen schlage ich folgende Definition vor:

Fundamentalismus ist ein militanter Wahrheitsanspruch, der aus nicht hinterfrag­baren höheren Offenbarungen, Personen, Werten oder Ideologien einen Herrschaftsanspruch ableitet, der sich gegen Religionsfreiheit und Friedensgebot richtet und nichtstaatliche oder nichtdemokratisch-staatliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele rechtfertigt, fordert oder anwendet. Dabei beruft er sich oft gegen bestimmte Errungenschaften der Moderne auf historische Größen und Zeiten, nutzt diese Errungenschaften aber zugleich zur Ausbreitung und schafft meist eine moderne Variante alter Religionen und Weltanschauungen.

Es ist unverantwortlich und diffamierend, wenn dieser Begriff – vor allem in den Massenmedien – beliebig ausgeweitet und gegen alle gekehrt wird, die für ihre religiöse Überzeugungen einstehen. Zugleich kann uns Christen jedoch eine strenge Definition hilfreiches Instrument zur ­Unterscheidung sein und die Grenzen markieren, in denen sich unser Einsatz für das Reich Gottes in dieser Welt bewegen sollte.

Die folgende Liste von Regeln hilft, religiöse ­Bewegungen – und auch unser eigenes religiöses Umfeld – auf die Gefährdung hin abzuklopfen, in eine fundamentalistische Haltung zu verfallen.

  1. Verneine jede Art von Hörigkeit anderen Menschen gegenüber. Steh auf und schreite ein, wenn andere hörig gemacht oder deines Erachtens ausgenutzt werden sollen.
     
  2. Verneine blinden Gehorsam. Auch höhere Gebote und Ordnungen darf man in Ruhe diskutieren und nach ihrem Grund fragen. Stehe autoritären Führerfiguren kritisch gegenüber. Was gut und ‚wahr’ ist, erkennt nie nur ein Einzelner.
     
  3. Hinterfrage, wenn andere Befehle Gottes für dich bekommen.
     
  4. Unterscheide deutlich zwischen Gott, Gottes Offenbarung und der fehlbaren Auslegung durch uns Menschen.
     
  5. Beschäftige dich viel und intensiv mit ­verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten bib­lischer Texte. Höre Andersdenkenden immer erst einmal zu. Werde ein erfreu­licher Gesprächspartner.
     
  6. Selbstkritik ist der Beginn jeder Religiosität. Bewahre dir den selbstkritischen Blick für dein Leben, dein Denken, deine Stärken und Schwächen.
     
  7. Vermeide die Verquickung von Religion und Nationalismus und verwerfe und bekämpfe jede Art von Rassismus.
     
  8. Überlege sehr genau, welche persönlichen Moralvorstellungen auch den Staat binden sollten.
     
  9. Gib deinen Glauben und deine Sicht der Dinge mit guten Argumenten weiter, um andere zu überzeugen, vermeide aber jeden Zwang, Druck, Drohung, geschweige denn Gewalt.
     
  10. Informiere dich ausführlich über die Lage und Sicht von Menschen in anderen Kulturen und Ländern – werde ein Weltbürger.
     
  11. Unterscheide zwischen der Wahrheits­diskussion zwischen den Religionen und dem Willen zum friedlichen politischen Zusammenleben. Unterstelle Friedensgesprächen zwischen den Religionsgemeinschaften nicht einfach synkretistische Absichten.
     
  12. Setze dich, wo immer möglich, für Reli­gionsfreiheit ein.

 

Obige Zusammenstellung ist dem 2010 erschienenen Buch Fundamentalismus: Wenn Religion zur Gefahr wird (Hänssler Verlag) entnommen. Darin stellt der Autor die vielfältigen und widersprüchlichen Erscheinungsformen des reli­giösen Fundamentalismus dar und diskutiert sie an konkreten Beispielen

Von

  • Thomas Schirrmacher

    Prof. Dr. phil. Dr. theol., (geb. 1960) ist Rektor des Martin Bucer Seminars (Bonn, Zürich, Innsbruck, Prag, Istanbul), wo er auch Ethik lehrt, Professor für Religionssoziologie an der Staatlichen Universität Oradea, Rumänien, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz und Sprecher für Menschenrechte dieses weltweiten Zusammenschlusses.
    Er promovierte 1985 in Ökumenischer Theologie in Kampen (Niederlande), 1989 in Kulturanthropologie in Los Angeles, und 2007 in Vergleichender Religionswissenschaft an der Universität Bonn.

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