Erdige Erfahrungen

Erdige Erfahrung
Mit verbundenen Augen sich vom Seil führen zu lassen, braucht Mut und Entschlossenheit.

Mit tastenden Schritten auf den „Wegen zum Leben“

von Ute Paul

Zu dem weitläufigen Burggelände, auf dem unser religionspädagogisches Erfahrungsfeld bereits seine Arbeit aufgenommen hat, gehört ein schöner ­Buchenwald, der sich vom Mauergarten steil den Hang hinunter ins Tal zieht.

Die noch kahlen Bäume, deren zartgrünes Laub bald schon zitternde Schatten auf den Waldboden werfen wird, haben viel aus den letzten Monaten zu erzählen. Auf der Suche nach Erlebniselementen sind wir auf diesen Bodenschatz gestoßen und haben mit wenigen Mitteln eine Station kreiert: das von Baum zu Baum gespannte Seil als Handlauf. Die Piste führt auf und ab und hin und her – im Grunde ganz einfach. Allerdings bekommt jeder, der sich auf den Parcours einlässt, am Start eine Augenbinde und muss sich blind dem Seil als Wegweiser anvertrauen.

Schritt für Schritt

Kinder, Jugendliche, Familienväter und -mütter, sogar ältere Menschen sind ihn schon ­gegangen und haben Eindrücke gesammelt: Die Füße ertasteten den Untergrund und setzten zögernd einen Schritt vor den anderen. Die Hände hielten das Seil fest, fuhren über die Rinde der Bäume, stießen auf Hindernisse. Waldgeräusche drangen in die gespitzten ­Ohren, die Herzen schlugen höher.

Wer bis zum Ende durchgehalten und beim Hin und Her gründlich die Orientierung verloren hatte, hörte am letzten Baum jäh eine Schelle rasseln. Dort durfte er die Augenbinde abnehmen. Die meisten schauten sich etwas benommen um, als tauchten sie aus einer fernen Welt auf.

Gemeinsam gingen sie leise auf die offene Wiese zurück und erzählten, was sie erlebt hatten. Als Hilfestellung dienten Fragen wie: Was mussten eure Füße tun? Was mussten ­eure Hände tun? Welche Gedanken sind euch durch den Kopf gegangen? Die Antworten ­legten viele Metaphern nahe, die auch das ­Leben mit Gott beschreiben könnten: „Ich konnte nicht den ganzen Weg übersehen, sondern immer nur einen Schritt vor den anderen setzen.“ oder „Der Weg war steil, der Untergrund rutschig, aber das Seil gab mir Halt.“

Einfach weitergehen

Im Sommer war eine Gruppe junger Koreaner bei uns zu Gast. Sie rissen ihre Augen bereits weit auf, als wir in die Nähe des Waldes ­kamen. Wann waren sie zuletzt auf weichen Waldboden getreten? Wenn überhaupt? In ­ihren leichten Schuhen spürten sie jeden Stein, jedes Ästchen. Die Schritte waren unsicher, die Bewegungen stockend – eine echte Mutprobe.

Nach dem Durchgang lagerten wir im Gras und hörten vom Erlebten: „Ich hatte Angst!“, „Ich war sehr unsicher!“, sagten einige, die ­anderen nickten. Grenzerfahrungen sind immer subjektiv und werden durch Unterschiedliches ausgelöst. Für diese Stadtkinder war es der leicht erschwerte Gang durch den Wald.

Ich schaute in die verspannten Gesichter und sagte: „Ihr hattet Angst, aber ihr habt es alle geschafft!“ Ein Leuchten trat in die Augen. „Ja“, erzählte ein Mädchen, „ich hatte Angst, aber ich bin einfach weitergegangen und habe das Seil nicht losgelassen.“ Ich wartete, ließ alle ihre Eindrücke in Worte fassen und hakte dann ein: „Ja, wir gehen im Leben einen Weg. Er ist nicht immer sicher und wir bekommen Angst. Wir sehen nicht, wie es weitergehen könnte. Wir tasten uns vorwärts, suchen Halt. Gott aber ist immer dabei. Er ist wie das Seil, wir dürfen uns an ihn halten.“

Mutig dranbleiben

Die Teenies schwiegen, der Wind rauschte. Ich wies auf das Schild am Wegrand, das sie noch nicht beachtet hatten. Die Gruppenleiterin las die Verse aus Psalm 31 auf Koreanisch vor: Du gibst mir Halt, du bietest mir Schutz. Geh mit mir und führe mich, denn du bist mein Gott. Ein Gebet, eine Bitte, eine Erfahrung, eine Bestätigung.

Nach dem Nachmittag auf den „Wegen zum Leben“ blieben die Koreaner noch einige Tage im Jugendzentrum. Beim Abschied gaben ­einige mir scheu die Hand, lachten aus ihren schönen Augen und sagten: „Das Seil, ich werde das Seil nicht vergessen.“

Von

  • Ute Paul

    Sie und ihr Mann Frank leben in Gotha-West und engagieren sich gemeinsam mit der senfkorn.StadtTeilMission für die Menschen in dem Plattenbauviertel.

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