von V.Z.
Ich war 23 Jahre alt, als ich mein eigenständiges Leben, meinen Beruf und meine Wohnung aufgab, um mich auf das gemeinsame Leben auf Schloss Reichenberg einzulassen. Ich kam, um einen christlichen Lebensstil einzuüben, und dachte, dafür vor allem Disziplin und Gebote lernen zu müssen, wie ich es zuvor in 13 Jahren Kinderheim erlebt hatte. Zuerst einmal lernte ich den Gemeinschaftsalltag kennen: im Schloss putzen, im Garten Unkraut jäten und mit drei 19-jährigen Frauen eine Wohnung teilen.
Die Menschen hier lebten so anders als ich es gewohnt war. Diszipliniert pflegten sie ihre Stille Zeit am Morgen. Dafür gingen sie abends sogar früher ins Bett! Wenn ich mich morgens im letzten Moment vor Arbeitsbeginn aus dem Bett quälte, hatten meine WG-Kolleginnen schon miteinander gefrühstückt und sich ausgetauscht.
Die Hauseltern Klaus und Heidi Sperr waren uns sehr zugewandt. Aber Klaus’ Art, Menschen direkt zu konfrontieren, irritierte mich sehr. Ich wusste: ich muss ihm meine Verunsicherung mitteilen, sonst kann ich kein Jahr mit ihm in einem Haus durchstehen. Als ich um ein Gespräch bat, stieg meine Angst: Wie würde er reagieren? Würde er mich gar anschreien? Wie würde er anschließend mit mir umgehen, wenn ich sein Verhalten in Frage stellte?
Nichts davon geschah. Im Gegenteil, Klaus hörte zu, nahm mich ernst und sagte am Ende sogar, er sei stolz auf mich und freue sich, dass ich ihm gegenüber so ehrlich war. Verwirrt und erleichtert verließ ich den Raum. Diese Erfahrung machte mir Mut, obwohl es mir weiterhin schwerfiel zu glauben, dass ein Mann in seiner Position ein so großes Herz und sogar Veränderungsbereitschaft haben kann.
Im ersten halben Jahr nahm ich zunehmend negative Gefühle in mir wahr. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Warum kann ich nicht so diszipliniert sein wie die anderen? Warum empfinde ich mich als Außenseiter und ziehe mich zurück, obwohl ich doch Sehnsucht nach Spaß und Gemeinschaft habe? So große Hoffnungen hatte ich auf diesen Neuanfang gesetzt; und doch erlebte ich mich gefangen in meinen alten Gefühls- und Denkmustern.
Ich fand meinen Platz nicht und war nur froh, wenn ich an den Heimfahrwochenenden in mein vertrautes Leben zurückkehren konnte. Am Sonntagabend kam ich meist als Letzte zurück. Wenn ich dann den Schlossberg erreicht hatte, sah ich Klaus am Fenster stehen. Ich fühlte mich kontrolliert – bestimmt würde er mich mit einem Kommentar begrüßen und mehr Disziplin anmahnen. Doch es gab nur eine herzliche Umarmung und ein freundliches Lächeln. Erst viel später verstand ich, dass Klaus nicht wach blieb, um mich zu kontrollieren, sondern weil er zutiefst hoffte, ich möge überhaupt wiederkommen.
In dieser Haltung kam mir so viel Väterlichkeit und Annahme entgegen, wie ich sie zuvor nie erlebt hatte. Ich sehnte mich danach und kämpfte gleichzeitig dagegen an. Etwas in mir wollte sich nicht ein- und unterordnen. Es dauerte lange, bis ich begriff und akzeptierte, dass ich – mit meinen 23 Jahren! – noch Schutz und Fürsorge brauchte. Es lag also an mir, mich für hilfreiche Regeln und Schutz oder gegen Gemeinschaft und Anteilnahme zu entscheiden.
In diesem Gefühlschaos waren die regelmäßigen Gespräche mit meiner Mentorin sehr wichtig. Hier lernte ich, zu mir zu stehen. Sie hörte zu und begab sich mit mir auf die Suche nach Lösungen für die vielen ungelösten Empfindungen und Haltungen in mir.
Obwohl mich die Herzenshaltung der Gemeinschaft, sich voreinander nicht zu verstecken, begeisterte, war tief in mir doch eine große Angst davor, wirklich „erkannt“ zu werden: Wie könnten Menschen mich lieben, wenn sie erst einmal meine schlechten Seiten und Schwächen kennenlernten? Irgendwann ging mir auf, dass meine Überzeugung, nicht liebenswert zu sein, eine Lüge ist, gespeist vom Mangel väterlicher Annahme. Sie hinderte mich daran, das liebevolle Ringen der Menschen um mich wahrzunehmen. Als ich erkannte, dass ich durch mein Misstrauen die, die sich um mich bemühten, verletzte, war ich tief beschämt.
Jetzt, da meine Ängste einen Namen hatten, traf ich die Entscheidung, mich von ihnen nicht mehr dominieren zu lassen und entdeckte, dass andere meine Andersartigkeit sogar schätzten und als Bereicherung empfanden. Es fiel mir schwer, Lob und Anerkennung anzunehmen, die Stimme der Selbstkritik in mir sprach meistens lauter. Immer jedoch, wenn ich gute Worte mein Herz erreichen ließ, spürte ich, wie der Boden unter meinen Füßen fester wurde und die Verbundenheit wuchs. Und selbst wenn Klaus mich jetzt manchmal bezüglich meines Verhaltens konfrontierte und mir Grenzen setzte, konnte ich dahinter Wohlwollen und Zugewandtheit erkennen.
Diese Annahme, die ich auf unterschiedliche Weise in der Gemeinschaft erlebte, ermöglichte es mir, auch an Gott neue Eigenschaften zu entdecken – nicht Disziplin und Gebote stehen bei ihm an erster Stelle, sondern die Herzensbeziehung. So lernte ich, vor Gott schwach sein zu dürfen und zu glauben, dass er mich auch dann liebt, wenn ich ihm nicht jeden Tag eine Glanzleistung präsentieren kann.
Meine Abschiedsfeier nach zweieinhalb Jahren war einer der schönsten Abende meines Lebens. Die ganze Gemeinschaft war gekommen und beschenkte mich mit lustigen Beiträgen voller Wertschätzung und Liebe, mit Rosen, mit meinem Lieblingsessen und jeder Menge persönlicher Geschenke. Dieser Abend klingt bis heute in mir nach und hilft mir, mich daran zu erinnern, dass ich von Menschen und Gott geliebt bin.
Die Autorin hat ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der OJC gemacht.
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