von Margrit Auner
Die Stimme ist der Spiegel der Seele.
Aristoteles
Es klingelt, die Praxistür geht auf und ein unbekannter Mensch reicht mir zur Begrüßung die Hand. Der Klang der Stimme, die Art zu sprechen und natürlich das äußere Erscheinungsbild vermitteln einen ersten Eindruck über die Person, die vor mir steht. Dabei stimmen Optik und Stimmklang oft nicht überein – deshalb ist der Mensch nun auch bei mir: in der Logopädie.
Die Bedeutung der Stimme – gerade für den ersten Eindruck – sollte nicht unterschätzt werden. Sie ist etwas sehr individuelles und Ausdruck der Persönlichkeit. Eine authentische Stimme vervollständigt das eigene Profil und unterstreicht die Einzigartigkeit des Menschen.
Die Bedeutung dieser Einzigartigkeit hat mir ein Jahr gemeinsames Leben im Schlossteam der OJC nahe gebracht. Die eigene Stimme zu finden, heißt nicht nur, lautstark einzubringen, was ich denke und will, sondern es so zu tun, dass ich als Person erkennbar werde. Im Gegenzug habe ich gelernt, andere ausreden zu lassen und auch auf die leisen Zwischentöne zu achten. Das anschließende Studium der Logopädie hat mir einen therapeutischen Zugang zur menschlichen Stimme eröffnet, der darauf abzielt, sie als Instrument zu formen und zu nutzen. Eine Frage der Technik? Ja auch, aber es geht um weit mehr.
Die Stimme ist eine heikle Angelegenheit. Tagtäglich habe ich nicht nur mit Leuten zu tun, die ihre Stimme verloren haben – z.B. durch eine Stimmbandlähmung infolge einer OP – sondern auch mit funktionellen Problemen wie andauernder Heiserkeit, einem Kloßgefühl im Hals oder dem Bedürfnis, sich ständig zu räuspern.
Die Patienten wundern sich oft, wenn ich ihnen im Erstgespräch Fragen stelle, die vordergründig nichts mit ihrer Stimme zu tun haben. In ihrem Verständnis sprechen sie von der Stimme als „dem Hals“ oder „dem Bauch, wo die Luft hingeht“. Das ist aber längst nicht alles. Die Stimme entsteht zwar im Bereich des Kehlkopfes, ihr voller Klang aber kann sich erst entfalten, wenn der ganze Körper mitzieht. Schon Kleinigkeiten wie eine dauerhaft verspannte Schulter, eine Verkrümmung der Wirbelsäule (Skoliose), aber auch ein bevorstehender Prüfungstermin können den Wohlklang zum Missklang werden lassen. Die Stimme – oder die fehlende Stimmkraft – resultiert aus körperlichen und seelischen Einflussfaktoren.
In unserer Praxis bieten wir „Intensivstimmtherapie“ an, ein Konzept, das darauf abzielt, innerhalb von zwei Wochen mit täglichen Therapiesitzungen die grundlegende Basis für eine gute Stimme zu schaffen. Gemeinsam mit dem Patienten erarbeiten wir eine Wahrnehmung für den eigenen Körper, machen Einflussfaktoren deutlich und versuchen, positive Einflussfaktoren zu verstärken und negative zu verringern. Ich arbeite dabei gerne mit ganz konkreten Vorstellungshilfen. Die Pappröhre einer Küchenrolle wird z.B. mit etwas Knisterpapier und einem Haushaltsgummi an einer Öffnung zu einer „Klangröhre“ mit Resonanzboden, mit dessen Hilfe man die Ausrichtung des Klanges nach vorne trainieren kann. Ein elementarer Baustein ist auch, den eigenen Atemrhythmus zu finden. Denn jeder atmet anders – der eine schneller, der andere lässt sich mehr Zeit. In einer zur Atemlosigkeit neigenden Zeit ist es mir besonders wichtig, diese Individualität hervorzuheben. Gerade im Arbeitsleben herrscht ein großer Erwartungsdruck, da kann einem die Forderung nach Perfektion buchstäblich die Sprache verschlagen. Teilweise begegnen mir auch Menschen, denen ein Ereignis so stark zusetzt, dass die Stimme tatsächlich (zeitweilig) versagt.
Im „Lernfeld Stimme“ tauchen durch die Konfrontation mit dem Körper oft unerwartete Herausforderungen auf: Schwachpunkte wie z.B. eine schiefe Hüfte, Probleme, die Töne zu treffen oder die Entdeckung, dass man jahrelang „zu hoch“, also gar nicht in der natürlichen Stimmlage gesprochen hat. Und man stößt an Grenzen: der aktuelle Gemütszustand spielt eine große Rolle. Bin ich aufgeregt oder gelassen, fröhlich oder wütend, zufrieden oder frustriert? Der Ausdruck „Stimme ist Stimmung“ kommt nicht von ungefähr. Die Stimme gilt seit der Antike als „Spiegel der Seele“, in dem sich – oft ungewollt – unser emotionaler Zustand äußert. Und genau hier liegt der Knackpunkt: körperliche Gegebenheiten lassen sich u.U. verändern; Stress, äußere und innerliche Konflikte jedoch lassen sich nicht so leicht abschütteln.
Innerhalb der Stimmtherapie versuchen wir, den so genannten „Eutonus“ (Wohl-Spannung, ökonomische Gesamtspannung) herzustellen bzw. uns diesem Idealzustand so weit wie möglich anzunähern. Dazu gehört der Abbau von körperlichen Spannungszuständen. Wir arbeiten viel am und mit dem Menschen, z.B. durch die „manuelle Stimmtherapie“, einer Technik, mit der Spannungen durch gezielte Druckpunkte und Bewegungen einzelner Muskeln oder Körperteile gelöst werden. Das führt zu einer verbesserten Schwingungsfähigkeit im Bereich des Kehlkopfes. Mit anderen Worten: die Muskelspannung ist ausgeglichen und durch die wiederhergestellte Balance von Atmung und Stimmgebung klingt die Stimme klarer und gleichmäßiger, ist ausdauernder und tragfähiger.
Nicht zuletzt spielt der Stand der Füße auf dem Boden eine wichtige Rolle. Sie geben Erdung, die Basis, von der aus man agieren kann. Ein fester „Stand“ hat auch Einfluss auf den „Standpunkt“ nach außen. Selbstsicherheit bildet eine solide Grundlage für jedwede Form von Kommunikation. Immer wieder erlebe ich, dass zum festen Stand weit mehr gehört als antrainierte Techniken. Worauf setze ich mein Vertrauen? Was gibt mir Halt? – Wer auf diese Frage keine Antwort findet, wird es schwer haben, seine Stimme dauerhaft zu festigen.
Nur wer lernt, anders mit den Anforderungen des Alltags umzugehen und die erlernten Techniken darin einzubinden, wird einen langfristigen Therapieerfolg erzielen.
Für mich bedeutet das, im Vertrauen zu leben und jeden Tag in dem Bewusstsein zu beginnen, dass mich Gottes Liebe auch im Alltag, und gerade dann, hält und trägt. Bestimmt.
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