Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem
Siegespreis: der himmlischen Berufung,
die Gott uns in Christus Jesus schenkt.
Paulus
Pilgern heißt, eine Richtung haben,
auf ein Ziel zugehen.
Dies gibt auch dem Weg
und seiner Mühsal seine Schönheit.
Papst Benedikt XVI
Der Langsamste,
der sein Ziel nicht aus den Augen verliert,
geht noch immer geschwinder,
als der ohne Ziel herumirrt.
Lessing
Wir sind keine erfahrenen Pilger, aber in den beiden zurückliegenden Jahren sind wir, ohne es groß geplant zu haben, zwei Mal jeweils zehn Tage gepilgert und kamen auf dem Jakobsweg in Frankreich von Le Puy über Conques bis Moissac. Wir waren überrascht und begeistert – und sind über das natürliche leibliche Erleben hinaus um einige geistliche Erfahrungen reicher geworden.
Das Pilgern an sich ist Sinnbild für das geistliche Leben. Bei beiden geht es darum, einen Weg zu gehen, um ein Ziel zu erreichen. So wie wir mit unserem gesamten Leben dazu herausgefordert sind, uns auf eines auszurichten: Gott allein soll unser Leben erfüllen, ihm Richtung geben und es bestimmen.
Unsere markanteste Pilger-Erfahrung war die wohltuende Beschränkung auf ein einziges Tun. Im betriebsamen Alltag und im Vielerlei unserer Aktivitäten sind wir oft hin- und hergerissen, gezwungen, ständig Entscheidungen zu treffen und vielen Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden. Sogar das Abschalten fällt in diesen Phasen schwer, weil inmitten von Betrieb und Anspannung die Pausen merkwürdig leer und unausgefüllt erscheinen.
Auf dem Pilgerweg haben wir uns täglich neu auf den Weg gemacht: morgens losgehen, den Tagesweg gehen und am Abend in einer Herberge ankommen. Das Gleichmaß dieses Unterwegsseins, die vielen Eindrücke, die körperliche Beanspruchung und das eine Ziel vor Augen – das hat uns wohlgetan. Besonders erleichternd war, dass, nachdem das Ziel feststand, keine weiteren Entscheidungen zu treffen waren. Wir konnten uns ganz auf das Eine konzentrieren, mussten nichts gegeneinander abwägen und nicht befürchten, etwas zu verpassen. Zu entscheiden war allenfalls, ob wir hier oder da einen kurzen Halt einlegen und was es am Abend zu essen geben sollte.
Auch waren wir abends stets auf eine erfüllte Weise müde, dass sich die Frage nach weiteren Unternehmungen gar nicht stellte. Wir fühlten uns zufrieden und haben gerne, gut und erholsam geschlafen.
Es waren dennoch keine eintönigen Tage, im Gegenteil. Wir haben das Gehen als eine Art der Fortbewegung erfahren, die unserem Menschsein entspricht. Das Schritttempo als Geschwindigkeitsmaß ist in unserer temporeichen und hektischen Welt verloren gegangen.
Wir haben unglaublich viel gesehen – in der Natur, am Wegesrand, in den Ortschaften und Städten. Wie schön ist Gottes Schöpfung in der Vielfalt von Pflanzen, Tieren und wunderbaren Landschaften! Wie reich hat Gott die Menschen begabt – das lässt sich an unzähligen Zeugnissen der Kultur vieler Jahrhunderte ablesen. All dies wahrzunehmen und aufzunehmen hat unsere Herzen erfüllt und eine neue Dankbarkeit in uns geweckt, die bis in unseren Alltag hinein spürbar bleibt.
Die Schar der Mitpilger erinnerte uns stets daran, dass wir diesen Weg nicht allein, sondern mit vielen anderen gehen, wobei es wohltuend war, dass man sich in der Weite der Tage und Etappen mehr verlor, als wir vermutet hatten. Es war gut möglich, für sich zu gehen – und es ist wichtig, dass jeder auf solch einem Weg seinen eigenen Rhythmus findet.
Sehr präsent waren uns auch die Vielen, die im Lauf der Jahrhunderte vor uns auf diesem Weg gegangen sind; das schafft eine Gemeinschaft und Verbundenheit über das Heute hinaus. Gott war auch ihnen Wegbegleiter, er gab und gibt die Ausrichtung, er ist und bleibt das Ziel der Sehnsucht der Menschen durch alle Zeiten.
Zweifellos waren die Begegnungen unterwegs ein unschätzbarer Reichtum, voller Überraschungen, Tiefe und Staunen. Sie – Pilger und Gastgeber – öffnen sich auf besondere Weise und geben einander Anteil an ihren Erfahrungen, Zweifeln und Fragen, weit über das übliche Maß hinaus. Das schafft Vertrautheit und Verbundenheit, die weiterwirkt und weiterträgt.
Da wir trainiert sind und auch nur je eine gute Woche unterwegs waren, haben uns Blasen und andere Beschwerden nicht geplagt. Unsere Schwachstellen sind Hüfte bzw. Bandscheibe. Der Rucksack wirkte sich geradezu therapeutisch auf das Bandscheibenleiden aus; während die Hüfte Schonung brauchte und unserem Marschpensum Grenzen setzte. Besonders lange Etappen haben wir in zwei Abschnitte geteilt, Pausen eingelegt und uns nicht daran gestört, dass wir von anderen Pilgern überholt wurden.
Was tragen wir alles mit uns herum! Was brauchen wir wirklich? Selbst beim zweiten Mal waren unsere Rucksäcke noch zu voll und zu schwer. Mit leichterem Gepäck zu reisen heißt, nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Es bleiben Unwägbarkeiten und Befürchtungen. Vertrauen muss das Fehlende ersetzen. An einigen Stellen haben wir dazugelernt; wir haben vereinfacht und verzichtet, und doch keinen Mangel erlitten. Im Verzicht werden die wirklich wesentlichen Dinge kostbarer. Auch dadurch wachsen Dankbarkeit und Intensität des Lebens.
In früheren Zeiten war das Pilgern gefährlich; unsere Wegelagerer hatten wir selbst mitgebracht. Ängste, die plötzlich aufsteigen: die Angst, den Weg zu verfehlen, kein Quartier zu bekommen, nicht genug zu Essen zu haben. Ärger über sich selbst oder die Weggefährten. Enttäuschung, Erschöpfung – all das trifft einen in der Konzentration des Weges unvermittelter als im normalen Alltag. Es kommt zu unerwarteten Grenzerfahrungen. Nicht alles ist planbar und vorherzusehen. Im Tiefsten ist jeder auf dem Weg ausgeliefert, angewiesen, bedürftig.
So wurde das Pilgern eine Übung im Vertrauen. Unser Weg war begleitet und beschützt. Was für eine Freude, wenn in der Herberge ein Geist des Willkommens und der Menschlichkeit wehte! Im Rückblick staunen wir, dass uns eigentlich nur Gutes widerfahren ist, dass wir immer einen guten Platz gefunden und oft Freundlichkeit und Liebe von Menschen erfahren haben.
Wir haben richtige Highlights erlebt: Die unglaublich freundliche Aufnahme durch die Mönche in der Abteikirche von Conques. Sie ist zu unserer „Lieblingskirche“ geworden. Nach einem heißen und anstrengenden Tag wurden wir von den Brüdern im angenehm kühlen Innenhof mit einer Erfrischung empfangen – eine Wohltat! Alles in der Abtei war darauf ausgerichtet, den Gästen am Leben und Glauben der Brüder Anteil zu geben. Die eindrucksvollen Gemäuer sind so mit Gebet, Gesang und Meditationsmusik erfüllt, dass selbst Glaubensferne etwas von der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes und dem Evangelium erfahren.
An einem anderen Ort gibt es in der Kirche, zu der unsere Herberge gehörte, tägliche Fußwaschung für die Pilger. Auch für uns. Diese Erfahrung und das Wissen, dass der Priester eine Woche lang für die Vorbeiziehenden namentlich beten wird, haben uns tief berührt.
Einen besonders eindrücklichen Abschluss unserer Pilgertage erlebten wir in Moissac, in einer – wie immer „auf gut Glück“ angesteuerten – Herberge. Sie stand auf einer Anhöhe mit wunderbarer Aussicht über die Stadt. Auf der Terrasse bei einem köstlichen französischen Abendessen haben wir mit einem Franzosen, einem Dänen, einer Deutschen und der Herbergsmutter einen unvergesslichen Abend verbracht. In großer Offenheit und Anteilnahme haben wir Persönliches und tiefe Erfahrungen ausgetauscht. Die unerwartete Verbundenheit, die durch diese Begegnung entstanden war, ist uns zur Ermutigung geworden. Diese und viele andere Erfahrungen halten den Wunsch wach, uns wieder einmal auf den Pilgerweg zu machen.
Michael Wolf ist Geschäftsführer der OJC. Monika Wolf organisiert die OJC-Veranstaltungen und leitet das Gästehaus im REZ.
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