Verehrter, lieber Heiliger Vater!
Im Vorwort zu dem 2. Band Ihres Buches „Jesus von Nazareth” schreiben Sie mit spürbarer Freude, dass Ihr Buch inzwischen einen „ökumenischen Bruder” bekommen habe in dem Werk Jesus des evangelischen Theologen Joachim Ringleben, und Sie merken dazu an: „Wer die beiden Bücher liest, wird einerseits den großen Unterschied der Denkformen und der prägenden theologischen Ansätze sehen, in denen sich die unterschiedliche konfessionelle Herkunft der beiden Autoren konkret ausdrückt. Zugleich erscheint die tiefe Einheit im wesentlichen Verständnis der Person Jesu und seiner Botschaft. In unterschiedlichen theologischen Ansätzen wirkt der gleiche Glaube, findet Begegnung mit demselben Herrn Jesus statt. Ich hoffe, dass beide Bücher in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrer wesentlichen Gemeinsamkeit ein ökumenisches Zeugnis sein können, das in dieser Stunde auf seine Weise dem grundlegenden gemeinsamen Auftrag der Christen dient.”
Begegnung mit demselben Herrn Jesus – das ist das tiefe Anliegen einer Ökumene, deren Herz erfüllt ist von der Sehnsucht nach der Einheit, von der unser Herr Jesus in dem Hohepriesterlichen Gebet aus dem Johannes-Evangelium (17, 21) spricht: „... damit sie alle eins seien”. Der Herr selber bittet um diese Einheit für die Menschen, die an ihn glauben. Keine Einheit ohne Gebet, keine Einheit ohne Erneuerung durch den Heiligen Geist.
Kardinal Walter Kasper hat in seiner Predigt zum 10-jährigen Jubiläum der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre” am 31. Okt. 2009 im Hohen Dom zu Augsburg gesagt: „Es gibt keine Ökumene ohne ein Neuwerden des Herzens; es gibt keine Ökumene ohne Erneuerung durch den Heiligen Geist. Wir brauchen eine geistliche Ökumene.” Und sie ist vor allem anderen eine Ökumene des Gebetes.
Diese „geistliche Ökumene” ist in den vergangenen Jahrzehnten in unseren Kirchen gewachsen – allen Unkenrufen über die „Eiszeit der Ökumene” zum Trotz. Sie unterscheidet sich in mancherlei Weise von der lange Zeit dominierenden ökumenischen Begegnung in Kommissionen, die sich um Dissens- und Konsens-Erklärungen bemühen und deren Ergebnisse wir in mancherlei Erklärungen, so zuletzt zur Rechtfertigungslehre, sichtbar vorliegen haben. Auch diese gemeinsame ökumenische Arbeit ist weiterhin nötig. Die geistliche Ökumene fügt dem etwas hinzu, was sich eben nicht zwangsläufig aus gemeinsamen Erklärungen ergibt – „eine Ökumene des gemeinsamen Lesens und betenden Bedenkens der Bibel als Wort Gottes und als Wegweisung Gottes für unser Leben; in der geistlichen Ökumene machen wir uns gemeinsam auf den Weg der Nachfolge. In dem Maße, in dem wir mit Jesus eins sind, werden wir es auch untereinander sein.” (Kardinal W. Kasper)
Dass zu dieser geistlichen Ökumene auch die tätige Liebe gehört, versteht sich eigentlich von selbst, denn Ökumene ist schließlich kein Selbstzweck, sondern zielt auf ein gemeinsames Ziel, den gemeinsamen Dienst an der Versöhnung, der Einheit und dem Frieden in der Welt. Bewährungsfelder für diesen gemeinsamen Dienst in der Nachfolge Jesu gibt es heute wahrlich genug. Die Armut, der Frieden, die Gerechtigkeit, die Natur als Schöpfung Gottes – sie fordern die Christenheit als ganze heraus, aus ihrer Quelle Antworten auf die bedrängenden Fragen zu geben und diese Antworten in Handeln umzusetzen.
Zu den ermutigenden Erfahrungen meines Dienstes als Bischof gehören die Begegnungen mit den evangelischen Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften. Nach der im Gefolge der Reformation lange abgebrochenen Tradition der Klöster als Orte des gemeinsam gelebten Glaubens ist im vergangenen Jahrhundert eine Vielzahl von sehr unterschiedlich geprägten Gemeinschaften entstanden. In all ihrer Unterschiedlichkeit üben sie sich ein im verbindlichen Leben. „Den Glauben ins Leben ziehen”, ins reale, nicht erträumte Leben. Und dass dieser Glaube selber aus dem Hören auf das Wort der Bibel kommt, macht ihn nüchtern im Blick auf das eigene Können und mutig im Vertrauen darauf, dass der Herr auch die Kraft bzw. den Mut schenkt, den Zumutungen des Lebens standzuhalten.
Fast 200 dieser evangelischen Gemeinschaften sind in einer Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2007 aufgeführt. Man könnte geradezu sagen: Die evangelische Kirche hat in ihnen eine verschüttet geglaubte „Sozialgestalt” von Kirche wiederentdeckt, vergleichbar der der Klöster und Orden. Im Geleitwort des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Wolfgang Huber, heißt es: „Heute stellt sich die Lebensweise von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften offenkundig als eine verbindliche Lebensform derer dar, die sich gegen manche diffuse Unverbindlichkeit geistlich konzentrieren und die Freiheit des Glaubens in Gottes Gegenwart aus christlichen Wurzeln heraus gestalten wollen. Sie sind ein Schatz der evangelischen Kirche, den es zu fördern und zu festigen gilt.”
Sie sind aber nicht nur ein Schatz der evangelischen Kirche, sondern der gesamten Christenheit, ein wahrhaft ökumenischer Schatz. Darum wollen sie auch nicht für sich selbst leben, sondern öffnen sich für andere – als „Kloster auf Zeit”, als Raum der Stille mitten im Strom der Zeit, um Halt zu finden vor Gott und in sich. Sie sind etwas eigenes, aber nicht in Distanz zur so genannten verfassten Kirche, sondern im Zusammenwirken und im Überschreiten von Grenzen, auch konfessionellen Grenzen. Um den ständigen Kontakt zu ihnen zu pflegen, hat die Evangelische Kirche seit vielen Jahren einen Beauftragten benannt, einen „Kommunitäten-Bischof”. Dass ich diesen Dienst seit vier Jahren ausüben darf – über die Grenze des Ruhestandes hinaus – lässt mich permanent dankbar wahrgenommene Erfahrungen mit dieser gelebten geistlichen Ökumene machen. Hier wird geradezu ein Stück Zukunft der Ökumene vorweggenommen und gelebt, ohne die Intention gezielter Provokation in Einzelaktionen, die mehr auf Zuschauer als auf Einladung zum Mitmachen zielen.
So entstehen gerade im säkularisierten Westeuropa neue Bewegungen, Sozialgestalten von Kirche, Experimentierfelder geistlichen Miteinanders, Pflanzstätten verbindlichen Lebens unter Beteiligung aller Altersstufen, d. h. zunehmend auch junger Menschen. Sie sind grenzüberschreitend – in der Bewegung „Miteinander für Europa” wollen sie in die Zukunft Europas das christliche Erbe einbringen, sowohl länder- als auch konfessionsüberschreitend.
Als jemand, der im Ruhestand auf einer Nordseeinsel lebt, unter der es eine Süßwasserblase gibt, vergleiche ich manchmal die Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften mit dieser Süßwasserblase. Mitten im Salzmeer gibt sie ab von ihrem Schatz, der sich immer wieder erneuert – wie die Quelle des Glaubens, die Jesus Christus heißt.
Bewegungen, Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften aus Geistlichen und Laien gibt es wie in der evangelischen Kirche auch in der katholischen und der anglikanischen Kirche. Es gibt sie neben den traditionellen Klöstern als Orte verbindlichen Christenlebens. Wir sind als evangelische Christen dankbar für den lebendigen Austausch zwischen den Orden und Gemeinschaften. Welche Kirche sollte nicht dankbar sein für diese geistlichen Aufbrüche und Pflanzstätten verbindlichen Glaubens! Geistliche Ökumene ist in ihnen nicht ein Schlagwort, sondern ein Lebewort. Manchmal darf ich verwundert feststellen: Wir ernten, wo wir nicht gesät haben, weil ein anderer es getan hat.
Verehrter, lieber Heiliger Vater, wir freuen uns als evangelische Christen über Ihren Besuch in Ihrem, in unserem Land, dem Land der Reformation. Versöhnung ist nötig, Versöhnung ist möglich durch die mancherlei Pflanzstätten des Glaubens, zu denen die Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften auf beiden Seiten unserer Kirchen gehören. Ich möchte Sie von Herzen bitten, das Miteinander dieser Gemeinschaften und ihren gemeinsamen Dienst mit allen Möglichkeiten Ihres Brückenbauer-Amtes zu fördern. In der Verbundenheit des Glaubens und des gemeinsamen Dienstes aller Christen grüße ich Sie,
Ihr Jürgen Johannesdotter
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