Ich habe bei Euch in der OJC nach dem Abitur ein freiwilliges Jahr absolviert. Es war mein erster Schritt heraus aus dem Umfeld meiner Kindheit und Jugend, und ich war voller Fragen danach, wer ich bin und was ich werden wollte. Ich hatte Eure Gemeinschaft bewusst gewählt, weil ich den Eindruck hatte, mich neben der sozialen Arbeit hier auch mit existenziellen Fragen beschäftigen zu können.
Mein „Coming out“ habe ich bei Euch erlebt. Im herzlichen und offenen Zusammenleben traute ich mich zum ersten Mal auszusprechen, was mein Denken und Fühlen gänzlich bestimmte, wozu ich in meinem alten Umfeld aber noch nicht stehen mochte: Ich verliebte mich in Frauen, seit ich denken konnte. Das zu akzeptieren war eine Befreiung, die ich nie vergessen werde. Ich fühlte mich leicht, endlich auf dem Weg zu mir selbst.
Allerdings beschäftigten mich Begleiterscheinungen meiner Beziehungen, die bei mir einen hohen inneren Leidensdruck erzeugten: eine zwanghafte Fixierung auf die Geliebte, eine tiefe Verunsicherung in meinem eigenen Frausein und eine nach Betäubung verlangende innere Trostlosigkeit. Ich las viel dazu, besonders berührten mich die Lebensgeschichten anderer, sie regten mich zum Nachdenken an. Ich wollte mich selbst verstehen.
In alledem fand ich bei Euch Raum und eine sehr gute und feine Begleitung. Ihr habt mich dazu ermutigt, genau hinzuschauen, was ich im gleichgeschlechtlichen Gegenüber suchte, mich allen Aspekten und tieferen Zusammenhängen meiner Sehnsucht zu stellen, auch den schmerzhaften, bevor ich mich ganz für das lesbische Leben entscheide. Das geschah ohne Druck, auf meinen Wunsch hin. Ich wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen, und dazu brauchte ich so viel Kenntnis und Liebe zu mir selbst wie möglich.
Weniger hilfreich waren für mich in dieser Zeit Begegnungen wie die mit einer alten Schulfreundin, der ich zu vermitteln versuchte, was in mir vorging. Sie sagte, ich solle mir doch nicht so einen Kopf machen. Ich solle mein Lesbischsein einfach nur annehmen und alle Gefühle so ausleben, wie sie aus mir rauskommen, dann würde ich schon glücklich. Ich fühlte mich nicht verstanden: Sie unterstellte mir ein Abwehrproblem mit Homosexualität, doch das hatte ich gar nicht. Die Dinge waren einfach komplexer für mich.
Ich bin bis heute dankbar dafür, dass ich das Thema meiner sexuellen Identität bei Euch ohne solche gut gemeinten Scheuklappen anpacken konnte. Eure offene Beratung half mir zu einem guten Start auf die Reise zu mir selbst, die weit über das eine Jahr hinaus andauerte. In ihrem Verlauf begriff ich meine homosexuelle Anziehung immer mehr als einen Entwicklungsimpuls, mehr über mich zu lernen. Sie stieß mich auf Punkte, an denen ich weiterwachsen wollte. Im Laufe der Jahre wandelte sich meine Gefühlswelt, ich verliebte mich immer seltener in Frauen. Heute lebe ich in einer heterosexuellen Beziehung, wir haben ein gemeinsames Kind. Das war für mich früher nicht vorstellbar, heute macht es mich glücklich.
Wichtige Grundlagen meiner Fähigkeit, mich selbst anzunehmen und für mein inneres Gleichgewicht zu sorgen, sind bei Euch gelegt worden. Es gibt für mich deshalb nichts Abstruseres, als zu erfahren, dass Ihr – unter Heranziehung aller gängigen Klischees – als homophobe Gruppierung dargestellt werdet, die angeblich diskriminiert, auf für Menschen mit homosexuellen Empfindungen „gefährliche“ Therapien hinweist oder sie angeblich zur Heterosexualität „umpolen“ will.
Ich möchte Euch heute von Herzen dafür danken, dass Ihr Euch diesem Gegenwind aussetzt. Ihr tut es für Menschen, die, wie ich damals, merken, dass ihnen mit einem Ausleben ihrer Gefühle allein nicht geholfen ist; die prüfen wollen, welche Potenziale in ihnen stecken. Diese Menschen sollen die Frage nach ihrer Sehnsucht und den tieferen Zusammenhängen ihrer Gefühle stellen und bei sich selbst erforschen dürfen. Sie sollen andere treffen können, denen es ähnlich geht und sie sollen die Beratung suchen dürfen, die sie sich wünschen. Das gilt aus meiner Sicht insbesondere für junge Menschen.
A. L.
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