Heinrich Brehm.

Miteinander – wie sonst?

Europa eine Seele geben. Interview

 

Gerhard, wie würdest du das Miteinander für Europa in wenigen Sätzen erklären?

Im Miteinander für Europa (MfE) haben sich etwa 300 geistliche Gemeinschaften und Bewegungen aus ganz Europa zusammengefunden [auch die OJC gehört dazu, Anm. d. Red.]. Der erste Impuls galt und gilt dem Einswerden des Volkes Gottes. Doch diese Einheit bleibt nicht in innerchristlichen Zirkeln, sondern dient unserer Gesellschaft und unserem Kontinent. 2007 haben wir ein 7-faches Ja gesprochen, das sehr konkrete gesellschaftliche Herausforderungen aufnimmt und deutlich macht, wie sehr sich die geistlichen Gemeinschaften aktueller gesellschaftlicher Probleme annehmen, z. B. im Ja zu Ehe und Familie, Ja zur Solidarität mit den Armen etc.1 Insbesondere die Kongresse und die Großveranstaltungen 2004 und 2007 in Stuttgart haben verdeutlicht, welche innere Dynamik durch das Wirken des Heiligen Geistes im „Miteinander“ entstanden ist.

Großveranstaltungen entstehen nicht aus dem Nichts. Was war der erste gemeinsame Impuls?

Begonnen hat das Miteinander am 31.10.1999 im Anschluss an die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung der Katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes. An diesem Nachmittag trafen sich 50 Verantwortliche von vorwiegend evangelischen Gemeinschaften aus Deutschland mit Chiara Lubich, der Gründerin der Fokolarbewegung, und Andrea Riccardi, dem Gründer von Sant’Egidio in Rom, beides weltweite, vorwiegend katholische Bewegungen. Man spürte den selben Ursprungsimpuls des Heiligen Geistes in den sehr unterschiedlichen Gemeinschaften und Bewegungen und beschloss, weitere Schritte gemeinsam zu gehen, ohne zu wissen, wie diese konkret aussehen würden. „Die Partitur wird im Himmel geschrieben“, formulierte Chiara Lubich treffend.   

Was folgte dann auf diese Ouvertüre?

Der nächste Schritt hat gleich im Februar 2000 beim „Treffen von Verantwortlichen“2 stattgefunden. Es kam zu einer bewegenden Versöhnung zwischen den Konfessionen. Chiara Lubich (katholisch), Bischof Ulrich Wilckens (evangelisch) und Keith Warrington (Jugend mit einer Mission) waren als Referenten bei diesem Treffen wesentliche Impulsgeber. Diese Erfahrung tiefer Versöhnung war für viele von uns sehr prägend. Verletzungen wurden geheilt, Vorurteile waren wie weggespült. Mir persönlich schien es, als ob uns der himmlische Vater etwas erahnen ließe von seinem Schmerz über die Zerrissenheit des Leibes Christi. Das Gebet Jesu „dass sie alle eins sind, damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21), hat uns dabei geleitet. Darauf folgte ein erstes großes Treffen am 8.12.2001 in München, bei dem wir so geführt wurden, dass wir spontan ein „Bündnis der gegenseitigen Liebe“ geschlossen haben.

Was muss man sich unter einem Bündnis der Liebe vorstellen?

In dem Wort Bündnis steckt das Wort Bund. Wir schließen miteinander einen Bund. Wir versprechen uns gegenseitig, dass wir das neue Gebot, das Jesus uns gelehrt hat3, leben wollen. Damit haben wir uns tief miteinander verbunden. Mir hat dieses Bündnis schon oft geholfen, wenn die Gegensätze mal wieder stärker schienen, als mir lieb war. 

Gegenseitige Liebe führt nicht automatisch zur Einheit. Was war noch nötig?

Wir Verantwortlichen spürten, dass wir dabei nicht stehen bleiben dürfen. Unter uns verdichtete sich ein Leitsatz zur Gewissheit: „Gott sammelt sein Volk.“ Sehr rasch haben wir als Verantwortliche einige Grunderkenntnisse ausgesprochen, die wir später beim ökumenischen Kirchentag als „fünf Schlüssel zur Einheit“ formulierten. 4 Wir haben uns auf Jesus konzentriert, der die Mitte unseres Glaubens ist, und nicht auf die Unterschiede. Doch haben wir die Unterschiede und die Andersartigkeit nicht ausgeblendet und auch nicht eingeebnet. Auch das Befremdliche gehört mit dazu. Davor wollen wir die Augen nicht verschließen. Wie mir ist es sicherlich vielen gegangen, dass der persönliche Horizont gewaltig geweitet wurde, ohne dass dadurch die Treue zur eigenen Tradition geschmälert wurde. In dieser Vielfalt und Verschiedenartigkeit erleben wir eine tiefe innere Einheit. Diese Einheit ist in Jesus Christus begründet. Wer zu ihm gehört, der gehört zum Leib Christi.

Wie ist diese Erkenntnis konkret geworden? 

Der Kongress Reichtum entdecken und teilen 2004 in Stuttgart hat genau diesen Impuls aufgenommen. Wir haben in der Andersartigkeit der anderen Bewegungen und Gemeinschaften das Charisma, die Gnadengabe Gottes gesucht und entdeckt. Wir haben uns gegenseitig besucht; und jeweils mindestens drei sehr unterschiedliche Gemeinschaften haben Foren für den Kongress miteinander vorbereitet. Wir lernten, vom anderen her zu sehen. Das hat unseren Blickwinkel verändert. Weil wir gesehen haben, dass Gott selbst sein Volk eint, wurde es für uns leicht, gemeinsame Schritte zu gehen.

Das geeinte Europa ist massiv in der Krise. Auch unter Christen gibt es viele EU-Skeptiker. Welche Vision hat das „Miteinander“ für den Kontinent?

„Europa eine Seele geben“. Dieser Satz von Jacques Delors, dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten, hat uns von Anfang an begleitet. Ein Europa, das seine christlichen Wurzeln abschneidet und sich wundert, wenn die Früchte vertrocknen, braucht uns Christen dringend als Korrektiv, damit es seine Seele wiederfindet. Viele unserer christlichen Gemeinschaften haben eine internationale Dimension. Auch in diesem Bereich gilt, was wir im Miteinander der Bewegungen erleben: Die Vielfalt ist bereichernd. Wir setzen uns für ein Europa ein, das diese Vielfalt lebt, nicht einebnet. Besonders Andrea Riccardi hat uns als Historiker immer wieder in die Vision eines geeinten Europas hineingenommen. Ein Europa der Nationalstaaten, so immer wieder sein herausforderndes Statement, wird sich aus der Geschichte verabschieden und in die Bedeutungslosigkeit versinken.

Siehst du bereits konkrete Veränderungen, die dadurch für unseren Kontinent angestoßen wurden?

Durch den Prozess des Miteinanders habe ich bei vielen erlebt, dass der Horizont weit über das Eigene hinausgewachsen und eine Perspektive für Europa entstanden ist. Das heißt jedoch nicht, dass wir alles gut finden, was in Brüssel entschieden wird. Wir sehen, wie sehr unterschiedliche Kräfte an Europa zerren. Umso mehr ist unsere Stimme als Christen gefragt. Die Mitgestaltung unserer Gesellschaft sehe ich nach wie vor als eine große Aufgabe an. Die stärkste Resonanz bei dem 7-fachen Ja hat das Ja zu Ehe und Familie innerhalb der geistlichen Gemeinschaften gefunden. Dieses Ja scheint mir derzeit auch eines der dringlichsten zu sein und ich bin überzeugt, dass es nicht ohne Wirkung bleiben wird, wenn wir gemeinsam dafür die Stimme erheben.

Wie nehmen die Kirchen in Deutschland diese Bewegung wahr?

Bei den beiden Großveranstaltungen in Stuttgart 2004 und 2007 waren jeweils etwa 50 Bischöfe unterschiedlicher Kirchen mit dabei. Insbesondere katholische Bischöfe, die mit der Fokolarbewegung oder mit Sant’Egidio schon lange unterwegs waren, haben diesen Weg sehr begrüßt. Inzwischen haben auch viele evangelische Bischöfe aus Deutschland Miteinander für Europa kennen und schätzen gelernt.

Woran liegt es, dass der Weg der Einheit hier vorankommt, während in den verfassten Kirchen der ökumenische Prozess eher stagniert?

Eines unserer Grundprinzipien besteht darin, dass wir einander als Freunde und als Schwestern und Brüder begegnen, nicht als Funktionäre oder Würdenträger. Dies ist jedoch auch unter uns als Verantwortliche nicht immer einfach, sondern bedarf der stets neuen Einübung. Unsere Rolle ist in mancher Hinsicht auch einfacher, weil wir nicht für das Ganze einer Kirche stehen müssen, sondern fröhlich unser Charisma leben dürfen.

Davon profitiert sicher auch der ökumenische Dialog der Kirchen in Deutschland.

In der Vorbereitung auf den Kongress 2004 haben wir das Wort Ökumene bewusst vermieden, um nicht in bestimmte Klischees gepresst zu werden. Die einende Kraft des Heiligen Geistes war und ist jedoch so stark unter uns, dass wir inzwischen gern über unsere Erfahrungen sprechen und sie auch in den Raum der Kirchen mit einbringen, so z.B. beim ökumenischen Kirchentag 2010 in München. Im Mai 2013 haben wir als Miteinander für Europa in Deutschland zu einem ökumenischen Bischofstreffen eingeladen und 20 Bischöfe und kirchenleitende Personen sind dieser Einladung gefolgt. Die Bischöfe waren in die Atmosphäre der gegenseitigen Zuwendung, Annahme und Geschwisterlichkeit hineingenommen, so konnte dann konkret über 2017 und mögliche Gemeinsamkeiten im Reformationsjahr nachgedacht werden.

Wer oder was entscheidet über den Weg und die nächsten Schritte?

Auf europäischer Ebene gibt es das Leitungskomitee, das die wesentlichen Entscheidungen trifft, und den Trägerkreis. In Deutschland ist es das Koordinationsteam. Immer ist uns dabei wichtig, in einen gemeinsamen inneren Hörprozess auf die Stimme des Heiligen Geistes zu kommen.

In der Spiritualität und der Glaubenstradition der anderen begegnet uns oft ein fremdes Gottesbild. Hat sich deine Vorstellung von Gott in den letzten 14 Jahren verändert?

Mein Glaubenshorizont hat sich geweitet. Mein Verständnis für andere Spiritualitäten ist weiter und tiefer geworden. Die Verhältnisbestimmung zwischen Wahrheit und Liebe hat sich verändert bzw. ich habe tiefer erkannt, dass Jesus die Wahrheit ist und nicht ein irgend geartetes Bekenntnis oder Dogma. Ich wurde unglaublich bereichert durch diesen Prozess und so manches, was mir davor fremd oder gar suspekt gewesen ist, wurde mir vertraut. Aber mein Gottesbild hat sich dadurch nicht verändert. Die Treue zu meiner Tradition wurde nicht infrage gestellt, und die eigene Identität habe ich eher noch tiefer erkannt; im Sinne des Buberwortes "der Mensch wird am Du zum Ich."

Es ist vor allem ein Bündnis der geistlichen Bewegungen, Kommunitäten und Gemeinschaften. Wie kann diese Arbeit für Ortsgemeinden fruchtbar gemacht werden?

Die Grundhaltungen und „Schlüssel“ sind für alle dieselben. Deshalb können die Impulse aus dem Miteinander – wie viele andere Impulse in der Kirche – auch in jeder Kirchengemeinde gelebt werden. Die Veranstaltungen richten sich primär an die Verantwortlichen und Mitglieder der Gemeinschaften. Aber auch Interessierte aus den Gemeinden können unseren Infobrief abonnieren, und bisher haben wir immer Wege gefunden, wie sie an Veranstaltungen teilnehmen konnten. In der Regel berichten Mitglieder der Gemeinschaften gern in ihren Kirchengemeinden, wenn ihnen dazu Gelegenheit gegeben wird; das freut mich immer sehr.

Was ist dein großes persönliches Glaubensziel für das Miteinander?

Die vollständige und sichtbare Einheit der einen Kirche Jesu Christi. Gern wollen wir vom Miteinander unseren Teil dazu beitragen. Im Blick auf das Jahr 2017 mit dem 500-jährigen Reformationsjubiläum planen wir nach Pfingsten 2016 einen Kongress in Deutschland und ich hoffe, dass auch bei diesem Kongress weitere konkrete Schritte der Versöhnung gegangen werden können. 500 Jahre Trennung sind genug!

Die Fragen stellte Jeppe Rasmussen.

Anmerkungen

1    
Ja zum Leben in allen seinen Phasen, Ja zu Ehe und Familie, Ja zu einem Leben mit den Armen, Ja zum Schutz von Umwelt und Natur, Ja zu Frieden, Ja zu einer Wirtschaft, die sich am Gemeinwohl orientiert, Ja zu Kindern und Jugendlichen und der Mitgestaltung unserer Gesellschaft – gesprochen von den 8000 Teilnehmern des MfE im Mai 2007 in der Hans-Martin Schleyer Halle in Stuttgart.

2  
Ein jährliches Treffen von ca. 150 leitenden Personen aus christlichen Gemeinschaften, Initiativen, Werken und Bewegungen in Deutschland.

3  
„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“( Johannes 13,34 )

4  
1. Jesus Christus in der Mitte 2. Das Bündnis der gegenseitigen Liebe 3. Das Wort Gottes 4. Versöhnung 5.Veränderte Haltungen

Zur Homepage von Miteinander für Europa:

http://www.miteinander-wie-sonst.org/

Von

  • Gerhard Proß

    ist Gründungsmitglied der ökumenischen Initiative „Miteinander für Europa“. Bis 2012 war er leitender Referent des CVJM Esslingen, nun engagiert er sich in verschiedenen christlichen Netzwerken und beim „Treffen von Verantwortlichen“ in Deutschland.

    Alle Artikel von Gerhard Proß
  • Jeppe Rasmussen

    Dipl.-Journalist, leitet seit 2017 das Deutsche Instituts für Jugend und Gesellschaft. Verheiratet mit Rahel, Vater von vier Kindern.

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