Bibelarbeit - Kränkung oder Krönung?
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Zwanzig Jahre war ich im pastoralen Dienst. Ich habe dieses priesterliche Amt gerne versehen, vor allem die Sterbebegleitung. In solchen Momenten gewinnt das Leben eine deutlich spürbare Dichte. In diese Situation gerät Jesus, nachdem sein Freund Lazarus gestorben ist. Dessen Schwestern Marta und Maria, mit denen er ebenfalls befreundet ist, sind völlig aufgelöst. Es entwickelt sich ein Gespräch mit ihnen, in dessen Verlauf Jesus diese Worte spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? (Joh 11,25-26)
Zu allen Zeiten wollten Menschen unsterblich sein, Pharaonen bauten sich deshalb symbolisch Pyramiden mit einer goldenen Spitze. Dass wir Menschen sterben müssen, ist uns ein großes Ärgernis. Und dass wir Anfang und Ende unseres Lebens so wenig selbst kontrollieren und „machen“ können, kränkt uns erst recht. Deshalb ist unsterblich zu sein der menschliche Traum schlechthin. Die göttliche Wirklichkeit aber ist eine andere, sie heißt: sterben und auferstehen. Auferstehung – griech. anastasis – meint: aufstehen, aufrichten, aufscheuchen; wörtlich ana-stasis: über das Vorhandene hinaus. Die Auferstehungshoffnung war zur Zeit Jesu durchaus schon im jüdischen Volk verankert. Eine spätjüdische Doxologie, die auf dem Friedhof gelesen wurde, lautete: „Er wird euch auferstehen lassen. Gepriesen sei, der sein Wort hält, der die Toten auferweckt!“ Dabei setzt Auferstehung immer ein schöpferisches Handeln von außen voraus. Deshalb ist Auferstehung genau genommen ein Auferweckt-Werden.
„Ich bin die Auferstehung und das Leben …“ Für Leben stehen im neutestamentlichen Griechisch verschiedene Worte zur Verfügung: bios – das in Biologie steckt; oder psychä – in Psychologie; oder auch zoä – Zoologie. Letzteres wird hier im Text verwendet, erfährt aber im biblischen Kontext eine andere Konnotation: Es wird zum zentralen Begriff für „ewiges Leben“. Seinen Widerhall findet es in der Rede vom lebendigen Gott, die das Personhafte betont. Jesus sagt: Ich – genauer: Ich und kein anderer – bin die Auferstehung. Ich bin! Auferstehung ist kein etwas, ER selbst ist die Auferstehung! In IHM wird wirklich, was sich im menschlichen Sehnen und Reden von Auferstehung damals noch in fragmentarischen und zum Teil missverständlichen Vorstellungen manifestierte. So wird Martas Verkennung von Auferstehung als einem Geschehen am Jüngsten Tag (V 24) von Jesus berichtigt: Auferstehung ist nicht das, was uns in Zukunft erwartet, sondern das, was vom Glauben an Christus her schon eine die Gegenwart bestimmende Wirklichkeit ist. Wer zu Jesus gehört, der ist auferstanden. Wir haben durch die Geburt eine Existenz und sind zum Leben berufen. Unzerstörbares, wirkliches Leben kommt durch die Wiedergeburt (Joh 3). Deshalb meint „ewiges Leben“ nicht die erst nach dem Tod kommende Zukunft, sondern die durch den Glauben entstandene Gegenwart des Auferstandenen, die dauerhaft ist, eben ewig. Oder wie es der emeritierte Papst Benedikt XVI. ausdrückt: „Ewiges Leben ist nicht – wie der moderne Leser wohl unmittelbar denkt – das Leben, das nach dem Tode kommt, während das Leben jetzt eben vergänglich ist und nicht ewiges Leben wäre. Ewiges Leben ist das Leben selbst, das eigentliche Leben, das auch in dieser Zeit gelebt werden kann und dann durch den physischen Tod nicht mehr angefochten wird. Darum geht es: jetzt schon das Leben, das wirkliche Leben zu ergreifen, das durch nichts und niemand mehr zerstört werden kann.“ In diesem Zusammenhang erinnert er auch daran, dass sich die frühen Christen einfach hoi zontes nannten: die Lebenden. So ist das ewige Leben keine Sache, die mir einst verliehen werden könnte, sondern ein Glaubens- und Beziehungsgeschehen zwischen Jesus und mir.
Wenn wir über unser Leben nachdenken, geht das nach biblischer Einsicht nur coram deo: im Angesicht Gottes, als Geschöpf in Beziehung zu meinem Schöpfer. Dies gilt insbesondere dort, wo wir über unseren Anfang und unser Ende nachdenken. Niemand von uns hat sich selbst in diese Welt gebracht – wir sind uns Gegebene; und wenn man sein Leben nicht gewaltsam selbst beendet, sondern es zulässt, wann es einem genommen wird, gilt dies auch für den Weg aus der Welt. Dazu schreibt der ev. Theologe Eberhard Jüngel: „Leben heißt also im Alten Testament: ein Verhältnis haben. Vor allem: zu Gott ein Verhältnis haben. Das Leben des alttestamentlichen Menschen ist durch klare Verhältnisse bestimmt; sie sind im Gesetz geregelt. Jeden Versuch, diese Lebens-Verhältnisse zu zerstören, nennt das Alte Testament Sünde – nämlich Rebellion gegen Gott. Sünde drängt in die Verhältnislosigkeit. Sie macht beziehungslos. Der Tod nun ist das Fazit dieses Dranges in die Verhältnislosigkeit. Insofern ist der Tod anthropologisch nicht nur und nicht erst am Ende des Lebens, sondern im Drang nach Verhältnislosigkeit als wirksame Möglichkeit jederzeit da.“
Leben ist immer zuerst Gabe, nicht Aufgabe. Es ist eine Gabe, die ich mir nicht geschaffen oder erworben habe, eben ein Geschenk. Von Beginn unseres Lebens an sind wir uns selbst entzogen, unser Leben ist Leih-Gabe, nicht Eigentum. In jedem Augenblick, mit jedem Atemzug gilt es, diese Gabe zu entdecken, zu bejahen und zu entfalten. So wird aus der mir geschenkten Gabe eine an mich gestellte Aufgabe. Wir sind herausgefordert, uns den Aufgaben zu stellen, die uns das Leben aufgibt. Auch denen, die uns alles abverlangen und bis zum Äußersten fordern. Dazu gehören auch Altern, Gebrechlichwerden und Ausgeliefertsein.
Wer das Leben allerdings nur als Aufgabe im Sinne einer Leistung versteht, ohne um die Gabe und den Geber dahinter zu wissen, könnte es freilich auch jederzeit aufgeben. Denn wenn ich nicht weiß, wofür ich sterben soll, wofür sollte ich dann noch weiterleben? Anders ist es, wenn wir um die Einzigartigkeit und den Schatz unseres Lebens wissen; das erlaubt uns, tiefer zu schürfen, nicht nur auf das Wohlbefinden des Diesseits fixiert zu bleiben.
Die letzte Lebens-Aufgabe, die aus der Lebens-Gabe fließt, ist das Sterben. Denn wenn das Leben mehr ist als Unsterblichkeit, dann ist das Sterben mehr als Lebensverlust. Weil Jesus Christus in und mit seinem Tod den ewigen Gott verherrlicht hat, ist Sterben eben nicht mehr nur Abbruch von Leben oder Strafe im Sinne von „der Sünde Sold“. Jesus hat durch seinen Tod dem Tod – auch unserem – die Macht genommen. Der Tod hat nicht mehr die Definitionshoheit über unser Leben, sondern das Leben muss nun den Tod definieren. Eben deshalb kann Paulus schreiben: Ich warte sehnlich und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit, so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn (Phil 1,20-21). Paulus sah sein Leben als Gabe, die es ihm ermöglichte, nicht nur mit seinem Leben, sondern auch mit seinem Tod der Herrlichkeit Gottes zu dienen. Ebenso mit dem zwischen Leben und Tod liegenden Prozess des Leidens und Sterbens. So werden Leben und Sterben zum Gewinn!
Sterben ist nur das Ende des physischen Lebens, nicht das Ende des wirklichen Lebens – es ist der Übergang von dieser vergänglichen Existenz ins schon begonnene ewige Leben. Endlich sehen wir, was wir bislang nur geglaubt haben. Nein, Sterben ist nicht das Ende, sondern die Vollendung, die Krönung des Lebens! Es ist der letzte große sichtbare Ausdruck meines Lebens, insbesondere meines Gottesverhältnisses. Sterben ist wie ein vollendetes Abbild (Ikone) dessen, wer ich eigentlich bin und zu wem ich im Letzten gehöre, man könnte sagen, die Ikone meines Lebens! Ja, der physische Tod ist seit der Auferstehung Christi nicht mehr nur Fluch und Zerstörer des irdischen Lebens, sondern dessen Erfüllung. Schon Hiob ahnte das: „Du gehst in Vollreife zum Grabe ein, gleichwie die Garbe eingebracht wird zu ihrer Zeit.“ (Hiob 5,26).
Hiob ist es auch, der uns zu der sich anschließenden Frage führt, die so lauten könnte: Es ist ja schön, wenn das Sterben Erfüllung ist – aber der Weg dahin kann doch sehr leidvoll und unwürdig sein. Wie kann das sein? Wie passen Leiden und Gabe zusammen, wenn mein Leben zur erbarmungswürdigen Schwerstaufgabe wird? Und ist es dann nicht eine verständliche und naheliegende Er-Lösung, dem ein selbstbestimmtes Ende zu bereiten? Diese Fragen hatte auch Hiob zu beantworten – dessen Leiden sprichwörtlich geworden sind und ihm „große Schmerzen bereiteten“ (Hiob 2,13): Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb! Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen (2,9-10). Ob wir es hier mit einem der ersten Appelle zum „selbstbestimmten Sterben“ zu tun haben?
„Wahrscheinlich ist keine Menschheit je dem Tode gegenüber so ratlos gewesen wie die heutige“, schreibt Carl Friedrich von Weizsäcker. Einleuchtend, denn eine Antwort auf den Tod kann nur geben, wer eine Antwort auf das Lebens hat. Leben in der Heiligen Schrift meint Freude. Der Mensch muss durch das Sterben hindurch, um an der ewigen Freude satt zu werden. Und das Sterben hängt natürlicherweise mit dem Alterungsprozess zusammen. Deshalb ist der Tod eben zunächst auch Fluch, der dem Sündenfall, sprich: dem gestörten Gottesverhältnis, entspringt. Mit einem unversöhnten Gottesverhältnis sind Existierende schon tot, obwohl sie noch Leben vor sich haben – mit einem versöhnten Gottesverhältnis sind Existierende schon im wirklichen Leben, obwohl sie den Tod noch vor sich haben – der Glaubende blickt auf den vollbrachten Tod (Jesu) zurück, obwohl er noch sterben wird! Oder wie es Eberhard Jüngel ausdrückt: „Dieses Leben, dessen Eigentümer Jesus Christus ist, unterscheidet sich von dem Leben aller Menschen offensichtlich dadurch, dass das Leben aller Menschen in den Tod führt, während das Leben Jesu Christi aus dem Tod kommt.“ Zu unserem Sein als Geschöpfe gehören als Rahmen Anfang und Ende. Dieses Ende kann zum Abbruch oder zur Heimat werden. Um diese Unterscheidung geht es beim Sterben vor allen anderen Fragen! Wir sind eingeladen heimzukehren, auf dass sich erfülle, wozu wir berufen sind: in der Nähe dessen zu sein, von dem her wir kommen und der uns einst mit Leben begabt hat. Unserer vermeintlichen Selbstbestimmtheit sind also enge Grenzen gesetzt. Niemand kann sich das (ewige) Leben nehmen, schon gar nicht selbstbestimmt. Was man sich nehmen kann, ist höchstens das physische Leben, die irdische Existenz.
Zurück zu Hiob und der Frage nach der Zumutung eines schweren Sterbens. Das Geheimnis scheint mir in Hiobs Antwort auf die Empfehlung seiner Frau, Gott abzusagen, zu stecken: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10) Empfangen und annehmen aber sind das Gegenteil von Verfügen und Machen. In unserer Zeit scheint der menschlichen Machbarkeit und Verfügbarkeit alles unterworfen zu sein, auch das Ende des Lebens. „Nichts kränkt den Menschen so sehr wie seine Sterblichkeit. (…) Für alles gibt es eine App, jedes Problem lässt sich in einen Datensatz verwandeln und als solcher beherrschen.“ (Hanno Rauterberg). Seit Wochen bringt nahezu jede Ausgabe der ZEIT mindestens einen Beitrag zum Thema Sterben, auch über jenes Ärgernis, dass wir Menschen Wesentliches unseres Daseins nicht selbst bestimmen können. Als Ausweg aus diesem Unvermögen wird zunehmend Sterbehilfe ins Feld geführt. Der Theologe Bernd Wannenwetsch schreibt: „Gemeinsames Merkmal von Sterbehilfe und künstlicher Lebensverlängerung ist der Aktivismus. Irgendwas muss immer unternommen werden: Entweder man zwingt den Menschen zum Leben oder man zwingt ihn zum Tod.“ Und weiter: „Fröstelnd stehen wir vor der Frage, ob eine Gesellschaft, die sich um das Bild des Menschen als Meister und Besitzer seines Lebens organisiert, nicht geradezu mit der Notwendigkeit einer inneren Entwicklung zur Euthanasie-Gesellschaft wird.“ Der Machbarkeit und seinen Folgen kann man gar nicht vorsichtig genug gegenüberstehen. Die momentan geforderte aktive Sterbehilfe ist nach meiner tiefen Überzeugung keine Antwort; nicht auf das Leben und schon gar nicht auf das Sterben.
Diametral entgegengesetzt zum Machen verhält sich das Empfangen, das bringt uns wieder zum Leben als einer Gabe, die in glücklichen Momenten leicht als Geschenk zu erkennen ist, in Phasen des Leidens aber womöglich noch tiefer erfahrbar werden kann: „Nie erfahren wir unser Leben stärker als in großer Liebe und in großer Trauer“, erfuhr Rilke. Auch und gerade im Leid bleibt der Mensch der Geliebte Gottes. Das Neue Testament kennt dafür das Wort telos: Ende, Ziel, Sinn. Alle drei Aspekte wollen miteinander gleichberechtigt in Einklang gebracht werden. So kann gerade das leidvolle Sterben nicht den Tiefpunkt, sondern den Höhepunkt des Lebens bilden. Papst Johannes Paul II. hat dies mit seinen letzten leidvollen Lebensjahren verkörpert und damit viele Menschen berührt, weil sie etwas vom wunderbaren Glanz hinter diesem gebrechlichen Lebens gespürt haben. Welch eine Ikone! Darum teile ich die Überzeugung des Philosophen Robert Spaemann: „Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasiebewegung, ist die menschenwürdige Antwort auf unsere Situation. Wo Sterben nicht als Teil des Lebens verstanden und kultiviert wird, da beginnt die Zivilisation des Todes.“
Leben ist mehr als Unsterblichkeit und Sterben mehr als Lebensverlust. Wenn Jesus Christus feststellt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, dann ist damit etwas ganz Neues in die Welt gekommen. Wir dürfen heute schon Anteil haben an seinem überwundenen Tod. Zu dieser Feststellung gehört die Frage: „Glaubst du das?“ Von einem meiner theologischen Lehrer habe ich gelernt: Glaube im Neuen Testament meint nicht nur Credo, sondern Akt. Das irdische Leben will als für andere verständlicher Hinweis auf das ewige Leben gelebt werden! So ist mein Leben nicht nur die Gabe an mich, sondern wird auch zur Gabe für andere. Der Glaube an den gekreuzigten Auferstandenen provoziert eine Haltung, die nur einem dienen kann: dem Leben. Auch im Leiden und im Sterben, dem Weg zum Höhepunkt des Lebens!
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