Leben-Krebsdiagnose

Ich habe ein Stück Himmel erlebt

Gespräch auf dem Weg mit Willi Trautmann

Willi, du hast vor dreizehn Jahren zum ersten Mal die Diagnose Lungenkrebs bekommen. Da eine Operation nicht infrage kam, hattest du dich einer achtwöchigen Strahlentherapie unterziehen müssen. Wie hast du das damals erlebt?

Nach meiner vorletzten Bestrahlung war ich daheim ein paar Mal bewusstlos geworden und trotzdem zur nächsten Bestrahlung gefahren. Von dort aus kam ich gleich nach Heidelberg in die Thorax-Klinik, denn das Fieber war gestiegen, ich hatte ständig Schmerzen in der Brust und ein großes Unwohlsein. Körperlich und moralisch war das ein großer Rückschlag für mich. So wollte ich nicht weiterleben. Die Ärzte haben dann viele Untersuchungen gemacht, um den möglichen Keim zu finden, der das Fieber auslöste, aber alles hatte nichts gebracht. Dazu kam noch der tiefe Konflikt mit einem Mitarbeiter, der mich innerlich sehr belastete. Ich hatte zwar immer wieder dafür gebetet und ihm vergeben, aber trotz aller Bemühungen verspürte ich keine Erleichterung. 

Du warst am Nullpunkt. Was hat dich aus deiner Verzweiflung herausgeholt? 

Nach vierzehn Tagen im Krankenhaus stand noch einmal eine sehr unangenehme Untersuchung an. Danach war ich so kaputt, dass ich früh schlafen ging. In der Nacht bin ich wach geworden. Was ich da sah, kann ich kaum beschreiben. Ich sah ein strahlendes Weiß, das das ganze Zimmer erhellte. Auf jeden Fall war jemand im Raum, eine Lichtgestalt, die unten an meinem Bett stand, nichts sagte und nichts tat. Aber von ihr ging eine Ruhe aus und ein Frieden, das ist für mich heute noch überwältigend. Ich spürte nur eines: Es ist alles gut. Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie neu geboren. Die Schmerzen waren weg und nach dem üblichen Fiebermessen hieß es nur: Oh, das Fieber ist weg! Bei der Visite fragten mich die Ärzte: Was ist denn mit Ihnen los, was ist denn da vorgefallen? Ich antwortete aufrichtig: Heute Nacht stand Jesus an meinem Bett. Darauf sind sie aber nicht eingegangen. Auch die Vorwürfe und die Bitterkeit gegen den Mitarbeiter waren verschwunden. Heute kann ich sagen, es war eine Befreiung, die ich seitdem nie mehr so erlebt habe.

Wenn du dir das Leben nach dem Tod vorstellst, ist diese Erfahrung für dich der Ausgangspunkt?

Ja, in diesem Moment habe ich ein Stück Himmel erlebt – die Gegenwart der Herrlichkeit Gottes, in der nichts Belastendes mehr auf dir liegt, alle Tränen getrocknet sind. Das ist etwas Wunderbares, nach dem du dich zurücksehnst.

Eine körperliche Bestätigung hast du dann ein Vierteljahr später auch noch bekommen.

Von einer Heilung meines Krebses war damals nicht direkt etwas zu spüren, die zeigte sich erst, als das Ergebnis der Bestrahlung überprüft wurde und ich gesagt bekam, dass auf dem Röntgenbild nichts zu sehen sei. Der Tumor war völlig verschwunden, so dass der Arzt mich erstaunt fragte, warum ich überhaupt gekommen wäre. Ich bin sicher, dass die Heilung in jener Nacht geschehen ist, gezeigt hat sie sich aber erst im Nachhinein.

Gehst du, wenn du ans Sterben denkst, mit einer gewissen Freude und Zuversicht darauf zu?

Freude wäre übertrieben, aber es geht in die Richtung: Es kann mir nichts Schlechtes passieren. Das klingt vielleicht anmaßend, aber ich empfinde es so aufgrund dieser Begegnung mit Jesus. Ich weiß nicht, ob ich Gott genüge, das weiß ja keiner. Wovon ich aber ausgehe, ist, dass Gott meine ernsthaften Bemühungen sieht.

Vor eineinhalb Jahren ist erneut Krebs bei dir festgestellt worden. Ein ähnliches Erlebnis hast du aber nicht wieder gehabt?

Dieses Mal war in dieser Richtung gar nichts. Nur tageweise gab es eine leichte Besserung meines Zustands. Aber die 25 Bestrahlungen, die ich hatte, haben den Tumor nicht verkleinert. Und auch die Chemotherapie, die ich angefangen hatte, zeigte statt Abnahme des Krebses Wachstum, deshalb habe ich sie beendet. Gegen die Schmerzen bekam ich Medikamente. Morphium und Antidepressiva waren allerdings Hämmer, mit denen wollte ich mich gar nicht befassen, weil die nach meinem Dafürhalten erst im Endstadium kommen. Im Oktober gab es dann tatsächlich eine Phase, wo ich dachte, jetzt ist Schluss.

Hat das deinen Glauben angefochten?

Es sind schon Zweifel in mir hochgekommen: ­Wieso kommt gar kein Zeichen von Gott, kein Trost, kein Zuspruch aus den Losungen? Beim ersten Mal war von Anfang an Trost da und Er­mutigung für das, was auf mich zukommt. Diesmal hält sich Gott sehr zurück. Aber heute hatte ich ein Gespräch mit Hermann (Klenk). Er meinte, Gott schätzt mich jetzt als einen reiferen Christen ein und erwartet von mir, dass ich diese Spannung aushalte, die Situation annehme und ihm darin vertraue, auch ohne besonderes Zeichen von oben. Das ist noch mal eine ganz neue Perspektive für mich, dass Gottes Zurückhaltung ein Wachstumsschub im Vertrauen bedeuten kann. Das hilft mir, mit der Situation besser umzugehen und etwas Sinnvolles daraus zu machen.

Was macht dir Angst, wenn du an die Zukunft denkst?

Dass der Lungenkrebs am Ende zum Ersticken führt. Wenn du Schmerzen hast, kannst du eine ­Tablette nehmen. Aber dagegen bist du ohnmächtig, ausgeliefert. Ich merke es jetzt schon manchmal, wenn ich die Treppe hochsteige oder irgendetwas zu schnell ausführe, dass ich ausatme, aber nicht mehr einatmen kann und Panik aufkommt. Und der Abstand wird immer kürzer und dadurch die Atemnot auch größer. Das ist ein Zustand, der mir Angst macht. Vor dem Tod habe ich keine Angst.

Panikattacken hattest du auch schon früher?

Die Panikattacken, gegen die ich Antidepressiva bekommen habe, haben nichts mit Todesangst zu tun. Das waren Situationen im Alltagsleben: zum Beispiel, wenn das Telefon läutete, wenn etwas auf mich zugekommen ist, was ich nicht erwartet hatte, oder wenn ein lautes Geräusch in der Küche war. Da war es um mich geschehen, ich hatte dann das Gefühl, das pack ich nicht mehr! Ich war sehr dünnhäutig. Das ist im Großen und Ganzen vorbei. Es kommen manchmal noch kurze Attacken, aber dann bete ich: Jesus, du siehst, da kommt was hoch. Nimm’s einfach weg. Und dann merke ich, wie es einfach geht. Ich habe im Moment selbst die Kraft, dagegen anzugehen. Auch wenn ich die Tabletten weiterhin nehme.

Hast du eine Begleitung für die Fragen, die dich umtreiben?

Es gibt schon Menschen, denen ich meine ­Fragen stellen kann, aber ich sehe sie zu selten, um immer aussprechen zu können, was mich gerade bewegt. Ich versuche in so einem Fall mithilfe der aufbauenden Erlebnisse, die ich als Christ gemacht habe, dem zu begegnen, was mich runterzieht. Den negativen Gefühlen halte ich die positiven Erfahrungen entgegen, bis sie abflauen.

Was ist dir in dieser angefochtenen Zeit wichtig, was tut dir gut?

Wenn ich über meine Krankheit reden kann, auch über ihre Auswirkungen. Das war früher nicht unbedingt mein Fall, aber jetzt hilft es mir. Wichtig war mir immer auch die Teilnahme am gemeinsamen Abendmahl in der Schloss­kapelle. Das ist jetzt durch die Krankheit nicht mehr möglich. Hermann kommt ab und zu ins Haus und wir feiern das Abendmahl. Das ist eine ganz neue, positive Erfahrung, dafür bin ich dankbar. Wichtig ist mir auch, versöhnt zu sein mit den Menschen, die mir nahe sind. Das muss nicht immer mit großen Worten einhergehen, es reicht ein spürbares Einverständnis vom Gegenüber. Auch echtes Interesse von anderen Menschen an meiner Person tut mir gut.

Und was strengt dich an?

Menschen, die oberflächlich sind und nicht zu­hören. Besucher, die kommen und die Gelegenheit nutzen, um von ihren Krankheiten zu reden.

Ist es dir eine Hilfe, wenn andere mit dir beten?

Mir fällt es nach wie vor schwer, laut zu beten. Ich bete lieber im Stillen. Nur manchmal habe ich das Bedürfnis, mein Gebet ist dann immer ganz kurz gehalten und betrifft nur das, was direkt ansteht. Aber wenn andere mit mir beten, ist das schon etwas Schönes.

Für deine Atemnot soll jetzt medizinisch Abhilfe geschaffen werden.

Wenn es möglich ist, wird ein Stent implantiert werden, das wird gerade geprüft. Es muss auch was getan werden. Nichtstun macht mich fertig. ­Da­rauf setze ich jetzt meine Hoffnung. Auf der einen Seite wäre es eine Erleichterung für das Atmen, andererseits wäre ich nicht mehr so ­gefesselt ans Rumsitzen. Auch eine neue Art von Chemo steht im Raum, nach dem Motto: Aller guten Dinge sind drei. Ich hoffe einfach, dass sich noch mal etwas bewegt.

Es war dir wichtig, über deine Beerdigung zu sprechen. Was hat dich bewegt, dafür Lieder auszusuchen, die die Freude betonen?

Der Ablauf der Beerdigung und was da über mich erzählt wird, ist ja nicht von mir zu bestimmen. Aber ein paar Lieder habe ich Hermann genannt, obwohl das Singen ja nicht so meine Stärke ist. Diese Lieder bedeuten mir viel, weil sie meine Verbindung zu Gott beschreiben. Darunter ist auch: „Dass du mich einstimmen lässt in deinen Jubel, o Herr …“. Das ist ja nicht direkt ein Beerdigungslied, aber die Freude war der Ausgangspunkt für meine Beziehung zu Gott. Warum soll sie nicht auch am Ende stehen?

Die Fragen stellte Angela Ludwig.        

Willi Trautmann 72, lebt mit seiner Frau Anita in Reichelsheim und hat lange in der OJC als Schreiner ge­arbeitet. Nach seiner Krebserkrankung 2001 musste er seine Tätigkeit beenden. Anita war bis zu ihrer Rente Personalbuchhalterin der OJC. Beide sind unserer Gemeinschaft weiterhin eng verbunden.

Von

  • Angela Ludwig

    Germanistin und Romanistin, Mitglied des OJC-Redaktionsteams und geistliche Begleiterin für viele innerhalb und außerhalb der OJC-Gemeinschaft.

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