Eine alte Frau und zwei junge stehen am Scheideweg. Noch nie waren sie so auf sich allein gestellt. Ihre Ehemänner sind begraben und mit ihnen ihre Hoffnung auf ein behütetes Familienleben. Die Alte will in ihre judäische Heimat jenseits des Jordan zurück. Sie hat den Schwiegertöchtern die kleine Mitgift, oder was davon übrig ist, zurückgegeben und sie aller Pflichten entbunden. Sie sind jetzt frei wie nie zuvor zu entscheiden, an wen sie von nun an ihr Leben binden.
Orpa, die Witwe des jüngeren Sohnes, kennt ihre Rechte. Sie wird zu ihrer Sippe zurückkehren, wieder heiraten und leben, als wäre das Fiasko mit dem Mann aus den Jehudim, dem Stamm Juda, nur ein verworrener Traum gewesen. Als hätte sie sich nie von Kiljons vornehmer Herkunft locken lassen und von seinen Plänen, das brachliegende Familienerbe in Betlehem anzutreten. Das Leben einer Fürstin wollte er ihr bieten – welch ein Hohn! Die herbste Enttäuschung aber war Kiljons unerhörter Gott mit seinen maßlosen Verheißungen und Forderungen. Um seinetwillen hatte Orpa den weitaus umgänglicheren Göttern Moabs abgeschworen. Aber den will sie nun komplett aus ihrer Erinnerung streichen!
Ruth kennt die Gedanken der Schwägerin nur zu gut. Ach, könnte man das Ungemach einfach tilgen, die Trauer, den Zorn, die Bitternis – und noch einmal von vorne anfangen! Aber kann sie, will sie hinter diese Jahre zurück und ihr Ja zurücknehmen? Ihr Ja zu Machlon, dem Israeliten – und damit auch ihr Ja zum Gott Israels, des Volkes, in dessen Schicksalsgemeinschaft sie sich hatte einbinden lassen? Nichts in ihrem Leben war so wahrhaftig und so unausweichlich wie dieses verwegene Ja zu jenem verwegenen Bund. Und nichts war ihr so kostbar wie das Ja des wahrhaftigen und unausweichlichen Gottes zu ihr, der Moabiterin Ruth. Wenn ihr nur dieses Ja bleibt, will sie alles vertrauensvoll aus seiner Hand nehmen: Fülle und Mangel, Segen und Gericht.
Naomi kennt die Entschiedenheit ihrer Schwiegertochter – nichts wird sie davon abbringen, sie nach Betlehem zu begleiten. Ruths liebevolle Anhänglichkeit tröstet ihr Herz und fordert ihren Glauben heraus: Wird Gott sich treu erweisen und einen Löser bestellen, der die Schulden tilgt und den Namen ihres Mannes Elimelech und ihrer Söhne in eine künftige Generation rettet? Was können schon zwei kinderlose Witwen ausrichten? Aber Jahwe, Beschützer der Witwen und Waisen, wird sich ihrer annehmen.
Der Goel – Löser – kennt seine Pflichten. Er hat als nächster Blutsverwandter nach alter Sitte den Zuschlag auf den Nachlass Elimelechs. Gewinn und Kosten hat er überschlagen: es rechnet sich nicht! Die Lösesumme würde seine Habe empfindlich schmälern. Zudem müsste er Naomis Schwiegertochter ehelichen und dulden, dass das gesamte Erbe direkt auf deren künftigen Sohn übergeht: Geld und Status gleichermaßen. Er selbst wäre dem Knaben an Rang sogar unterlegen, und die Moabiterin könnte ihre Position noch gegen die Erben seines eigenen Namens und Vermögens ausspielen. Keiner, der bei Verstand ist, tut sich das an: Löser sind Loser!
Boas, der nächste im Verwandtschaftsgrad, rechnet anders, denn er rechnet mit Gott. Ihm lässt es keine Ruhe, dass das Land, ein Unterpfand des Bundes, in fremde Hände fällt, während seine Stammesbrüder nur ihre persönlichen Vorteile sichern. Boas kennt die Verheißung: „Das Zepter soll nicht von Juda weichen.“ Es ist allerdings ein Zepter, das nicht zum selbstherrlichen Herrschen, sondern zum Dienen ermächtigt und schwer in der Hand der Erstgeborenen liegt. Stammvater Jehuda hatte sich einst in Ägypten als Löser für seinen Bruder Benjamin angeboten. Er war bereit zu sterben, damit der Geringste der Söhne Jakobs leben kann. Diese Liebe hatte ihn für den Erstgeburtssegen qualifiziert. Löser sind Liebende!
Liebende, wie diese Kleine aus Moab, die ihre jungen Jahre opfert, damit die greise Naomi in Würde leben und sterben kann. Sie demütigt sich als Magd aus der Fremde, um in Betlehem dem König der Welt zu dienen. Ruths unerschütterliches Gottvertrauen stellt noch seinen Glauben in den Schatten. Ihre Liebe und die seine – füreinander und für Gott: wäre das nicht ein Angeld auf ein neues Vermächtnis in Israel? Liebe ist die Losung!
Gott kennt nicht nur den Schmerz der Kinderlosen, sondern auch die tiefe Not einer verwaisten Menschheit. Bei ihm gehört beides zusammen und für beides weiß er Rat. Aus der Treue und dem wagemutigen Einsatz zweier Frauen lässt er Heil für ganze Völker erwachsen. Ruths beharrliches Verlangen nach Teilhabe am Bund Abrahams wirkt nicht nur dem Zerfall des Hauses Israel entgegen; in der Moabiterin kehrt ein Nachfahre Lots in die Zelte Abrahams und unter den Schutz seines Segens zurück! Lot hatte einst seinen Anteil aus dem gemeinsamen Besitz gelöst, er war unheilige Allianzen in Sodom eingegangen und hatte am Ende außer seinem Leben alles verloren: seine Ehre, sein Vermögen, seine Frau – und zuletzt seine Vaterwürde. Aus dem notvollen Inzest mit den Töchtern waren zwei Völker an den Grenzen des gelobten Landes hervorgegangen: Ammon, grausam und im Molochkult befangen, Moab, lüstern und darauf aus, Israels Söhne zu verführen und zu verderben. In der versöhnten Tochterliebe der Ruth zu Naomi heilt gleichsam eine uralte Mutterwunde in Moab – und aus der feindlichen Nation erwächst Frucht und mütterlicher Segen für Israel!
Wir kennen die Fortsetzung dieser Liebes- und Versöhnungsgeschichte. David, ein Urenkel von Ruth und Boas, wird die Stämme Israels in einem Königreich vereinen und den Namen Gottes groß machen im Land. Nach leidvollen Jahrhunderten wird dann aus seinem Samen ein Löser hervorgehen, der nicht nur die verlorenen Kinder Abrahams sucht, sondern sein Leben gibt, um das veruntreute Erbe aller Gotteskinder auszulösen. Jesus – ein wahrhaft Liebender: Er wird die Völker der Erde als Braut heimführen in den ewigen Bund des Heils.
Wir stehen am Scheideweg und sind jetzt frei wie nie zuvor zu entscheiden, an wen wir unser Leben binden.
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