Daniels Tod

Reconciliation, von Josefina de Vasconcellos, in St. Michael's Cathedral, Coventry
Reconciliation, von Josefina de Vasconcellos, in St. Michael's Cathedral, Coventry
Creative commons CC BY-NC G Travels

Kann man sowas vergeben?

"Ihr habt nie auch nur mit einer Silbe angedeutet, dass sie schuld war“, sagte ich kürzlich zu meiner Mutter, als wir im Auto saßen und unterwegs waren. 47 Jahre nach dem Unfall war ich endlich dabei, das Puzzle richtig zusammenzusetzen, das ich so lange zu kennen geglaubt hatte. Mein heiß geliebtes Kindermädchen – Tante Milica, wie ich sie nannte, der Engel meiner frühen Kindheitsjahre, die ich verehrte, bis sie mit 91 Jahren starb – hatte an dem Schicksalstag auf uns Kinder aufzupassen. Ich war damals ein Jahr alt, und mein fünfjähriger Bruder Daniel war durch das große Tor des Hofs geschlüpft, wo unsere Wohnung lag, und zu der nur zwei Straßen entfernten kleinen Kaserne gegangen, um mit „seinen“ Soldaten zu spielen.  Auf früheren Expeditionen in das Viertel hatte er dort ein paar Freunde gefunden – junge Soldaten in der Ausbildung, die sich langweilten und etwas Abwechslung brauchten, auch wenn sie von einem unternehmungslustigen Fünfjährigen kam. An diesem verhängnisvollen Tag des Jahres 1957 setzte einer der Soldaten Daniel auf einen von Pferden gezogenen Brotwagen. Als sie auf dem holprigen Kopfsteinpflaster durch das Tor fuhren, beugte Daniel sich zur Seite und sein Kopf wurde zwischen dem Torpfosten und dem Wagen eingeklemmt. Die Pferde gingen weiter. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus – der Sonnenschein seiner Eltern und mein älterer Bruder, den ich nie kennenlernen sollte.

Tante Milica hätte auf ihn aufpassen sollen an diesem Tag. Sie hatte es sträflich versäumt. Sie ließ ihn fortgehen, ging ihn nicht suchen, und er verlor sein junges Leben. Aber meine Eltern hatten mir nie erzählt, dass dies zum Teil Tante Milicas Schuld war. „Hätte ich dir das sagen sollen?“, erwiderte meine Mutter, halb unsicher, ob sie es damals richtig gemacht hatte. „Die meisten Eltern hätten das gemacht“, musste ich denken. Wenn etwas Schreckliches passiert ist, finden die Menschen immer einen Schuldigen, selbst wenn es keinen gibt. Einer muss doch schuld sein, denken sie und stürzen sich auf den ersten Kandidaten, der halbwegs infrage kommt. Tante Milica hatte wirklich Schuld, aber weder mein Vater noch meine Mutter haben ihr je vor uns Kindern Vorwürfe gemacht. Tante Milica, die Schuldige, blieb mein unbefleckter Engel. „Nein“, entgegnete ich meiner Mutter langsam. „Indem ihr geschwiegen habt, habt ihr etwas sehr, sehr Schönes gemacht. Ich bewundere euch sehr dafür. Die Liebe deckt der Sünden Menge, sagt der Apostel Petrus ...“ (1. Petr 4,8). Sie ist eine Heilige, dachte ich, meine­ Mutter, die vier ihrer sechs Kinder begraben musste; drei starben noch in ihrem Leib, und das vierte kam zu Tode, weil die Erwachsenen, die auf es hätten achtgeben müssen, verantwortungslos und grob fahrlässig gehandelt hatten.

Der Schmerz meiner Mutter war unermesslich ­gewesen, und selbst ein halbes Jahrhundert später war er noch da. Dann und wann redete sie über ­Daniels Tod, und dann erwähnte sie immer mit ­tiefer Traurigkeit, dass er in der Nacht, bevor er starb, in ihrem Bett hatte schlafen wollen. Er schlief sehr unruhig, und sie selbst hatte, nach einem anstrengenden Tag in der Fabrik, einen leichten Schlaf, und so hatte sie ihm seinen letzten Wunsch abgeschlagen. Der Schmerz dieses schrecklichen Verlustes ist immer noch da, aber jede Bitterkeit und Groll gegen die Schuldigen sind lange verschwunden. Sie wurden am Fuße des Kreuzes geheilt, als meine Mutter zu dem anderen Sohn hoch schaute, der starb, und über den Gott nachsann, der vergibt. Tante Milicas Schuld war vergeben, und so sprach man nicht mehr über diese Schuld, noch nicht einmal darüber, dass es sie einmal gegeben hatte.

Aber meine Eltern sprachen, wenn sie Daniels Tod erwähnten, oft über das Vergeben.

Die erste Lektion des Vergebens, an die ich mich erinnern kann, erhielt ich, als meine Eltern mir erzählten, wie sie dem Soldaten vergeben hatten, der der Hauptschuldige bei Daniels Tod war. „Gottes Wort fordert uns auf, anderen so zu vergeben, wie Gott in Christus uns vergeben hat“, sagten meine Eltern, „und da haben wir beschlossen, ihm zu vergeben“. Der Soldat war so am Boden zerstört gewesen, dass er ins Krankenhaus musste. Mein Vater, mit einer eigenen Wunde im Herzen, die nie ganz verheilen sollte, besuchte ihn dort, um den, dessen Leichtsinn ihm so viel Leid gebracht hatte, zu trösten und ihm zu sagen, dass meine Mutter und er ihm vergaben.

Er tat dies auch vor Gericht. Meine Mutter war zu untröstlich, um bei der Verhandlung dabei zu sein, aber mein Vater erklärte dem Richter, dass sie und er dem Soldaten vergeben hatten und auf eine Strafverfolgung verzichteten. Warum sollte das Herz der nächsten Mutter brechen, diesmal, weil das Leben ihres Sohnes (eines guten, aber in einem kritischen Augenblick leichtsinnigen Jungen) von den Mühlen der Justiz zermahlen wurde? Als der Soldat daraufhin aus der Armee entlassen wurde und unbestraft nach Hause konnte, besuchte mein Vater ihn dort erneut. Dieser junge Mann lag ihm am Herzen, und er wollte ihm noch einmal von der Liebe Gottes erzählen, die größer ist als unsere uns anklagenden Herzen, und ihm versichern, dass er und meine Mutter ihm vergeben hatten.

Der Grund, warum meine Eltern vergaben, war einfach: Gott hatte ihnen vergeben, und so ­vergaben sie diesem Soldaten. Aber das Vergeben selber war nicht leicht, und für meine Mutter war es überaus schmerzhaft.

In einer Kultur der Unversöhnlichkeit

In den letzten Jahrzehnten ist viel über Vergebung und Versöhnung geredet worden. „Ohne Ver­gebung gibt es keine Zukunft“, konnten wir etwa von den Führern des neuen Südafrika hören, als das Land nach den Verwüstungen der Apartheid den Wiederaufbau begann. Aber es geht ja nicht nur um das Böse, das unterdrückerische Regime verübt haben. In Gesprächen mit Seelsorgern und Psychiatern suchen überall auf der Welt Millionen von Einzelpersonen nach Wegen, denen zu vergeben, von denen sie verwundet und verletzt worden sind, sodass sie frei werden von dem lähmenden Griff der Bitterkeit und des Grolls und sich mit Kollegen, Verwandten, Freunden und Partnern versöhnen können. Ein kroatisches Sprichwort sagt, dass die Menschen über das reden, was sie nicht haben. Wir reden über Vergebung, weil wir in einer sentimentalen, aber gleichzeitig zutiefst unversöhnlichen Kultur leben. Man schaue sich nur die ausufernde Prozesswut in den USA an. (…) Es gibt Gerichtsprozesse, die verständlich sind. Doch viele gerichtliche Klagen heute sind eine Mischung aus Rachsucht und kindischem Trotz. Anstatt zu vergeben und sich um die ­Heilung der Beziehung zu bemühen, geht es den prozessführenden Parteien um Bestrafung und um Entschädigung, und dabei oft weniger um ihre Rechte als um das Herausholen der höchstmöglichen Entschädigungssumme. Großherzigkeit? Güte? Vergebung? Was ist passiert mit diesen Juwelen unserer Menschlichkeit? (… )

Vergeben ist schwierig, ja schmerzhaft, und manchmal scheint es völlig unmöglich zu sein. Warum sollen wir jemand Vergebung schenken, wenn jede Faser in unserem verletzten Körper nach Gerechtigkeit oder gar Rache schreit? (…)

Heilung der Beziehung

Wir wünschen uns Vergebung, weil uns Beziehungen wichtig sind und weil wir wissen, dass Beziehungen, die Schaden genommen haben, ohne Vergebung nicht repariert werden können. Warum braucht es Vergebung, um eine Beziehung zu reparieren? Dazu müssen wir zuerst eine noch fundamentalere Frage beantworten: Wie gehen wir mit einer Situation um, in der jemand einem anderen unrecht tut? Ein solches Fehlverhalten erschüttert eine Beziehung, ja es kann sie zerstören. Ein Freund hat uns verraten, und wir sind schwer enttäuscht, vielleicht haben wir sogar einen ernsten Schaden erlitten. Unser Vater hat uns missbraucht, und wir tragen die Narben für den Rest unseres Lebens mit uns herum. Wir sind in einen Sturm ethnischer Gewalt hineingerissen worden und haben unseren Nachbarn Dinge angetan, die kein anständiger Mensch sich jemals vorstellen könnte zu tun. Kaum ein anderer Weg, mit Unrecht umzugehen, ist so wichtig wie die Vergebung. Darum ist sie so wertvoll. Aber vergeben ist schwer. Oft sehen wir nicht ein, warum wir vergeben sollten. Oder wir wollen ja vergeben, aber wir können es einfach nicht. Oder wir vergeben dem anderen, aber der weist die Vergebung als Unverschämtheit zurück, und die Beziehung wird noch zerrütteter. (...)

Was macht Vergebung mit der Tat?

Wenn wir die Grundstruktur des Vergebens ­untersuchen, finden wir hier mindestens zwei wichtige Handlungen. Erstens: Vergeben heißt, die unrechte Tat beim Namen nennen und verurteilen. Ein Element der Vergebung, ihre unabdingbare „negative“ Voraussetzung, ist die Verurteilung des geschehenen Unrechts. Aber es gibt noch ein zweites Element bei der Vergebung, ihr positiver Inhalt. Wer vergibt, macht dem Schuldigen das Geschenk, ihm das Unrecht nicht anzurechnen. Die als böse verurteilte Tat lastet nicht mehr auf den Schultern des Schuldigen. Das Herz der Vergebung ist das großzügige Erlassen einer echten Schuld. Vergebung ist ein ganz besonderes Geschenk. Beim Schenken suchen wir ja das Wohl eines anderen Menschen, und nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) unser eigenes. Das ist auch beim Vergeben so. Wir vergeben um des anderen willen, auch wenn wir im Ergebnis vielleicht selber etwas davon haben. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied zwischen Geben und Vergeben. Wir schenken einem Menschen etwas, weil wir uns über ihn freuen oder weil ihm etwas fehlt; mit unserer Gabe machen wir ihm eine Freude oder helfen seinem Mangel ab. Vergeben dagegen tun wir Menschen, die uns unrecht getan haben; wir nehmen ihnen die Last ihrer Schuld ab. In dieser Schuld liegt der Unterschied zwischen Geben und Vergeben; der Empfänger unserer Vergebung hat falsch, böse, schuldhaft an uns gehandelt. Und genau hier liegt der Grund dafür, warum es schwieriger ist, zu vergeben als zu geben.

Der Wurm des Zweifels

Wenn es um enge persönliche Beziehungen geht, die uns ans Herz gehen, scheint uns das Vergeben noch Sinn zu machen, auch wenn es uns schwerfällt. Aber wenn wir einen Schritt zurücktreten und das Miteinander der Menschen (auch das zwischen Verwandten und engen Freunden) ­etwas objektiver betrachten, beginnt der Wurm des Zweifels an unserer bereitwilligen Bejahung der Vergebung zu nagen. Heißt Vergebung also, dass wir den Schuldigen einfach davonkommen lassen? Aber ist das nicht ein Affront gegen unseren Gerechtigkeitssinn? Und hat das Opfer überhaupt das Recht, dem Täter zu vergeben? Ist es klug, zu vergeben? Sende ich dem Schuldigen damit nicht die Botschaft, dass er sich nicht zu ändern braucht, sondern ruhig so weitermachen kann? Vergebung, so könnte man argumentieren, befreit den Schuldigen zwar von unserer Wut und unserer Anklage, aber sie kann doch unmöglich das Böse seiner Tat beseitigen. Und ist sie damit, außer dass sie dem Geschädigten inneren Frieden gibt, nicht etwas schlicht Überflüssiges, möglicherweise unklug und ganz gewiss ungerecht?

Die Dreiecksbeziehung

Wenn es bei der Vergebung nur zwei Parteien gäbe – das Opfer, das vergibt, und der Täter, dem ver­geben wird –, wäre es nicht einfach, sie ­gegen diese Einwände zu verteidigen. Aber für den Christen findet das Vergeben immer in einem Dreieck statt, zu dem der Täter, das Opfer und Gott gehören. Lass Gott weg, und das Fundament der Ver­gebung wird wacklig, ja beginnt zu bröckeln. Gott ist der Gott, der vergibt. Wir vergeben, weil Gott vergibt. Wir vergeben, wie Gott vergibt. Unser Vergeben ist ein Echo von Gottes Vergeben. Um unser Vergeben verstehen zu können, müssen wir also mit Gottes Vergebung anfangen, selbst wenn der Täter nicht bereut. Wie gesagt, vergeben heißt verurteilen. Indem wir vergeben, nennen wir die Schuld beim Namen. Wir tun dies behutsam und in Liebe, aber wir tun es. Genau das ist Nach­folge Christi. Dem Unbußfertigen zu vergeben, ist nicht die Kür, sondern das Herz des Christseins. Warum? Weil Gott so ein vergebender Gott ist und weil Christus auf diese Weise vergibt.

Auszug aus: Miroslav Volf, Umsonst – Geben und Vergeben in ­einer gnadenlosen Kultur, Brunnen Vlg., Gießen, 2012, S. 155–157 u. ­165–16

Miroslav Volf: Umsonst
Miroslav Volf: Umsonst

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