© Tanner Silva
In unserer modernen Welt löst oftmals schon die Erwähnung der Bibel ein gewisses Maß an Ängsten und Abwehr aus. Als Buch der Bücher wurde die Bibel aus der Mitte gedrängt. Vishal Mangalwadi, ein indischer Christ, Philosoph und Sozialreformer, erzählt in seinem BUCH DER MITTE vom Einfluss der Bibel auf die Entwicklung der westlichen Gesellschaft. Sein Zugang zum östlichen wie zum westlichen Denken befähigt ihn, sich prägnant, klar und mit prophetischem Mut zur Krise unserer Zeit zu äußern. Seine Analyse ist mit spannenden Geschichten verwoben. Eine möchten wir hier erzählen.
Im England des 18. Jh. herrschten Sklavenhandel, Korruption, Seuchen, Armut, Alkoholismus und Spielsucht. Die Bibel verstaubte auf den Regalen. Kirchenmänner, die an ihr Gewissen gebunden waren, wurden unterdrückt. Die Church of England war korrupt und durch eine ungute Verbindung mit der Krone mächtig geworden. Dieses finstere Zeitalter erlebte durch John Wesley, dem Begründer der Methodistischen Kirche, eine geistliche und moralische Erneuerung.
John Wesley wurde am 28. Juni 1703 in einem Pfarrhaus in Lincolnshire als eines von neunzehn Geschwistern geboren. Er besuchte die berühmte Charterhouse School und ging anschließend nach Oxford, wo er aufgrund seiner hohen Intelligenz zum Ehrenmitglied und Tutor des Lincoln College gewählt wurde. Bereits damals kümmerte er sich um Arme und Unterdrückte – auch wenn er dafür von Kollegen viel Verachtung einstecken musste.
Erweckung
Nach seiner Ordination in der anglikanischen Kirche segelte er, zusammen mit seinem Bruder Charles, in die Vereinigen Staaten. Bei der Rückkehr erkannte er, dass er eigentlich nur dem Namen nach Christ war. Dies bewog Wesley, am 24. Mai 1738 in einem Gottesdienst der Herrnhuter 1 aufrichtig für seine Sünden Buße zu tun und Jesu Retterangebot für sich persönlich in Anspruch zu nehmen. Er schrieb: „[Ich] spürte mein Herz seltsam erwärmt, und fühlte, dass ich Christus vertraute – Christus allein, der für meine Errettung gestorben war. Und ich erhielt die Gewissheit, dass er mir meine Sünde abgenommen hatte [...].“ John Wesley erlebte das, was Jesus „von Neuem geboren werden“ nennt. Sein Herz wurde warm, seine Persönlichkeit gefestigt und er empfand mehr Mitgefühl für andere. Unmittelbar danach begann er, „die frohe Botschaft des Evangeliums“ zu verkündigen: in Gefängnissen, Arbeitshäusern und in allen Kirchen, die ihm ihre Kanzel öffneten. Doch solche Kirchen waren dünn gesät. Im April 1739 kam Wesley auf Einladung von George Whitefield 2 nach Bristol. Whitefield war von der Notwendigkeit von Freiversammlungen überzeugt, denn so könne man die meisten Menschen erreichen – besonders die Arbeiterschicht, die wenig mit der etablierten christlichen Kirche in Berührung gekommen war. Trotz seiner Zweifel hielt Wesley schon am nächsten Tag seine erste Predigt unter freiem Himmel – er legte die Bibel einem Publikum aus, das nicht regelmäßig oder niemals zur Kirche ging. Damit nahm die evangelistische Bewegung des „Großen Erwachens“ („Great Awakening“) ihren Anfang.
Anfeindungen
Diese Erweckung sollte sich viele Jahre lang unter Anfeindung, Verachtung, Verleumdung und Gewalt bewähren müssen. Alkoholisierte und gewaltbereite Schlägertrupps trieben zum Beispiel Stiere in die Versammlung oder versuchten, mit lärmenden Musikinstrumenten die Stimme des Predigers zu übertönen. Oftmals entkamen Wesley, Whitefield und ihre Mitbrüder nur knapp dem Tod. Die schlimmsten Angriffe kamen von Pfarrern, die Wesley als „diesen Methodisten“, „Enthusiasten“, als „Antichristen“ und „teuflischen Verführer, Hochstapler und Fanatiker“ beschimpften. Hunderte von Hetzschriften, skurrile Zeitungsartikel und Berichte versuchten, gegen die Erweckungsbewegung Stimmung zu machen. Wesley selbst erklärte in einer Schrift sein wichtigstes Anliegen: „Es ist der alte Glaube, den ich lehre!“ Sein großes Ziel war es, seinen Landsleuten das Wort Gottes zu erschließen und Männer und Frauen durch Christus in eine Beziehung zu Gott zu führen. Auf diese Weise würde man ihre Häuser, Städte und ihr Land den Klauen der Gottlosigkeit und der Korruption entreißen. Für Wesley war soziale Veränderung eine zwangsläufige Folge echter Bekehrung. Er glaubte, dass das Wort Gottes Einzelpersonen zur Rettung ruft und darüber hinaus Richtlinien für das Leben als Volk und für das menschliche Miteinander enthält. Bald trafen sich eine wachsende Zahl von Menschen, die eine Umkehr erlebten, in sogenannten „Societies“ (Vereinen), allerdings nur als Ergänzung zum regulären Gottesdienst der englischen Staatskirche. John Wesley selbst war die meiste Zeit seines Lebens Geistlicher dieser Kirche. Der Bruch mit der anglikanischen Kirche fand erst viel später statt, als er begann, Pastoren einer Gemeinschaft zu ordinieren, die später als Methodistische Kirche bekannt wurde.
Feindesliebe
Trotz tausendfacher körperlicher und verbaler Angriffe verlor er kein einziges Mal seine Beherrschung, sondern steckte Schläge bereitwillig ein. Wenn ihn ein Stein oder ein Knüppel traf, wischte er sich das Blut ab und predigte weiter. Er liebte seine Feinde, wurde niemals ausfällig oder ärgerlich. Wesleys ruhiges Auftreten, ohne Arglist und Zorn, sowie die Tatsache, dass sein Leben so offensichtlich von Gottes Geist gebraucht wurde, entwaffnete seine Feinde und gewann sie schließlich für Christus. Soldaten, Seeleute, Bergleute, Fischer, Schmuggler, Arbeiter, Diebe, Landstreicher, selbst Kinder hörten ihm aufmerksam zu. Nach einer Weile zogen sie dann den Hut und knieten sich hin.
Gründungen
Im Mai 1739 fand die Grundsteinlegung des ersten methodistischen „Predigthauses“ in Bristol statt. Bald darauf wurden die Kingswood-Schule und in einer verlassenen Londoner Gießerei die „Foundery Chapel“ eröffnet. Daraus erwuchsen vielfältige soziale Dienste wie Arbeitsvermittlung, Kredite für Arme und kostenlose medizinische Versorgung. Wesley eröffnete in London die erste kostenlose Armenklinik, dann eine Rheumaklinik und in ganz England, Irland und Schottland weitere Predigthäuser zur Verkündigung der Heiligen Schrift.
Von 1739 bis zu seinem Tod 1791 engagierte sich John Wesley rastlos im Dienst. Gewöhnlich stand er morgens um vier Uhr auf, um gegen fünf Uhr seine erste Predigt zu halten. Seine Energie schien unerschöpflich. Er und seine Reiseprediger lebten nach einem klar strukturierten Tagesablauf: acht Stunden für Schlaf und Essen, acht Stunden für Andacht, Gebet und Bibelstudium und acht Stunden für Predigtdienste, Besuche und soziale Dienste.
Reisen, Schreiben, Predigen
Wesley reiste fast eine halbe Million Kilometer auf dem Pferderücken – und das bei Wind und Wetter, Tag und Nacht, kreuz und quer durch ganz England, oft über gefährliche und nahezu unpassierbare Straßen. Während dieser Reisen stellte er einen Bibelkommentar zusammen, schrieb Hunderte von Briefen und führte täglich Tagebuch. Zu seinen Lebzeiten wurden 330 Bücher veröffentlicht, Grammatiken in Englisch, Französisch, Latein, Griechisch und Hebräisch und es entstand seine berühmte, 50 Bände umfassende „christliche Bibliothek“. In einem Mitarbeiterhandbuch (Rules for a Helper) fordert er auf, darauf zu achten, von niemandem Böses zu glauben und über niemanden Böses zu reden. Ein Verkündiger des Evangeliums solle sich allein der Sünde schämen, pünktlich sein und seinen gesunden Menschenverstand brauchen.
Keine Privilegien
Wesley äußerte sich über den rechten und falschen Gebrauch von Geld und Privilegien. Er lehnte es ab, teure Kleider zu tragen, speiste so billig wie irgend möglich und gab für seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr als 30 Pfund im Jahr aus. Er gab der Schnapsbrennerei die Schuld an den hohen Lebensmittelpreisen, da gewaltige Mengen an Getreide dafür verschwendet würden, und setzte sich für ein Alkoholverbot ein. Wesley forderte faire Preise, gerechte Löhne, die den Lebensunterhalt deckten, und plädierte für menschenwürdige Arbeitsbedingungen ohne Gesundheitsgefährdung. Unermüdlich appellierte er an die Reichen und ermahnte sie, den Armen zu helfen. Er forderte seine Anhänger auf: „Antwortet niemandem, der euch um Hilfe bittet, mit einem bösen Wort oder schaut sie böse an. Verletzt diese Menschen nicht.“ In seiner Schrift Thoughts upon Slavery (Gedanken über die Sklaverei) bezeichnete er diesen „abscheulichen Handel“ als nationale Schande. Bis zu seinem Tode kämpfte Wesley gegen die Sklaverei. Sein letzter Brief ging an William Wilberforce, einem evangelikalen Parlamentsmitglied, der sein ganzes Leben lang für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatte. Wesleys vielfältige Interessen, Anliegen und Aktivitäten können nicht alle aufgezählt werden. Aber erwähnt werden soll sein Engagement für Arbeitslose, Gefangene und Fremdlinge. Er predigte den Himmel, glaubte aber, dass die Erde Gottes Geschenk an uns Menschen sei.
Singende Bewegung
Das „Große Erwachen“ schenkte der gesamten englischsprachigen Welt einen reichen Schatz an geistlichen Liedern – und öffnete ihr die Augen dafür, dass Lieder auch Literatur, Geschichte und Theologie sind. Die Choräle seines Bruders Charles Wesley, seine Gebete sowie seine Version der Psalmen sanken tief ins Unterbewusstsein des englischen Volkes ein. Die Bibel, die während des frühen 18. Jh. für den Engländer ein ungelesenes Buch war, wurde wieder zum Buch der Bücher und rettete England aus dem Abgleiten in die Gottlosigkeit. John Wesley, Whitefield und ihre Mitstreiter richteten ihr Leben nach den Wahrheiten der Bibel aus und leisteten einen wichtigen Beitrag für die Stärkung des biblischen Christentums. Dass die Bibel in der englischen Welt wieder als Autorität gesehen wurde, führte dazu, dass die Gesellschaft ihre Seele fand.
Sein letzter Gang
53 Jahre lang verkündigte John Wesley, dass wir allein durch den Glauben an Christus gerettet werden, aber dass der Glaube sichtbar werden muss und die Gläubigen einmal nach ihren Werken gerichtet werden – danach, wie sie gelebt hatten. Er betete oft: „Lass mich verschleißen, aber nicht verrosten. Lass mein Leben nicht umsonst sein.“
Bis eine Woche vor seinem Tod, als Fieber ihn ans Bett fesselte, hatte der 87-Jährige gepredigt, geschrieben, organisiert und Menschen ermutigt. Am Morgen des 2. März 1791 verstarb er. Für seine Beerdigung brauchte man keine Kutsche und keinen Leichenwagen, denn er hatte Anweisung gegeben, man solle sechs armen, arbeitslosen Männern jeweils sechs Pfund zahlen, damit sie seinen Körper zu Grabe trügen. Wenigen Menschen ist es geschenkt, die Früchte ihrer Arbeit sehen zu dürfen. In den ersten Jahrzehnten seines Dienstes führte es jedes Mal zu Krawallen, wenn Wesley und seine Anhänger auf der Bildfläche erschienen. Aber in den letzten zehn Lebensjahren genoss Wesley in England größte Zuneigung und höchsten Respekt.
Anmerkungen:
1 Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine aus der böhmischen Reformation herkommende überkonfessionell-christliche Glaubensbewegung, 1722 gegründet von Nikolaus Graf Zinzendorf, welche vom Protestantismus und dem späteren Pietismus geprägt wurde.
2 George Whitefield (1714 – 1770), englischer Geistlicher und Mitbegründer des Methodismus.
Aus: Das Buch der Mitte. wie wir wurden, was wir sind. Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur. fontis-Verlag, Basel 2014, S. 362-372 (leicht gekürzt)
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