CC BY-ND 2.0 Michael Swan
Christenverfolgung und Martyrium sind kein reines Thema der frühen Kirche, sondern ein ständiger Begleiter der Kirchengeschichte. In vielen theologischen Veröffentlichungen wird so getan, als wäre Verfolgung nur ein Thema der alten Kirche gewesen. Damit wird nicht nur die massive Verfolgung im 20. Jahrhundert übergangen und bagatellisiert, von der Charles W. Colson zu Recht schreibt: „Tatsächlich sind im 20. Jahrhundert mehr Christen für ihren Glauben zu Märtyrern geworden als in den vorangegangenen 19 Jahrhunderten zusammen.“ 1 Vielmehr wird damit auch übersehen, dass Verfolgung und Martyrium die gesamte Kirchen- und Missionsgeschichte begleitet 2 haben, denn: „Die Geschichte der Kirche ist auch die Geschichte ihrer Verfolgung.“ 3
Weite Teile der Christenheit heute, insbesondere auch der evangelikalen Christenheit, leben nicht in einer Situation des Wohlstands, des Friedens und der Rechtssicherheit, sondern in einer Verfolgungssituation und verstehen deswegen das Alte wie das Neue Testament viel besser und realer als die westliche Christenheit. 4 „Das Martyrium der Kirche Christi hat in unserem Jahrhundert einen neuen Höhepunkt gefunden“ 5, und die Kirchen des Westens haben einen großen Nachholbedarf an einer Theologie des Martyriums. Deswegen lohnt es sich für Christen in der westlichen Welt, von Christen aus solchen Ländern und Situationen zu lernen, sei es persönlich, sei es durch deren Schriften. Diese Solidarität sieht das Neue Testament nicht als Möglichkeit, sondern als selbstverständliches Gebot der Liebe Christi: Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil ihr auch noch im Leibe lebt (Hebr 13,3). Ein Christ leidet nie allein, sondern immer als Teil des Leibes Christi: Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit (1. Kor 12,26). Deswegen fordert Paulus Timotheus auf: Nimm teil an den Leiden als ein guter Streiter Christi Jesu (2. Tim 2,3). Und den Philippern schreibt er zwar: Alles vermag ich durch den, der mich stärkt (Phil 4, 13), fügt aber gleich hinzu: Doch habt ihr gut daran getan, dass ihr an meiner Bedrängnis teilgenommen habt (4,14). Und den Ephesern gegenüber geht Paulus davon aus, dass er für sie mitleidet und dass seine Leiden ihre Ehre sind: Deshalb bitte ich, nicht mutlos zu werden durch meine Drangsale für euch, die eure Ehre sind (Eph 3,13). Wir dürfen deswegen nicht satt und selbstzufrieden die Augen vor dem Leid anderer Christen verschließen. Das setzt eine funktionierende Kommunikation des weltweiten Leibes Christi voraus. Deswegen sind Missionsgesellschaften, Menschenrechtsorganisationen, internationale Kirchenkontakte, persönliche Bekanntschaften mit Christen anderer Länder und internationale ökumenische Strukturen unverzichtbar. „Eine Kirche, die ihre Märtyrer im Stich lässt, die weder für sie betet noch furchtlos für sie eintritt und sich um sie sorgt, zerstört damit nicht nur die geistliche Gemeinschaft unter allen Gliedern des Leibes Christi. Sie verrät schließlich Christus selber, das Haupt seines Leibes, der mit seinen Gliedern leidet.“ 6
An erster Stelle des Mitleidens steht im Neuen Testament das Gebet. „Die Fürbitte der Gemeinde hilft, die am Leben verzagten und über ihre Kraft belasteten Glaubensboten aus Todesnot zu retten“ (2. Kor 1,8-11; vgl. Phil 1,1-9) 7. Dazu gehört aber auch das praktische Mitleiden, wie es der Hebräerbrief deutlich macht: Gedenkt aber der früheren Tage, in denen ihr, nachdem ihr erleuchtet worden wart, viel Leidenskampf erduldet habt, als ihr teils durch Schmähungen und Drangsale zur Schau gestellt und teils Gefährten derer wurdet, denen es so erging. Denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet, weil ihr wisst, dass ihr eine bessere und bleibende Habe besitzt (Hebr 10,32 -39). Es ist hochinteressant, dass der Schreiber hier den Leidenskampf auf doppelte Weise gegeben sieht: Die einen leiden direkt, die anderen leiden mit (siehe das „teils“ ... „teils“). Die einen werden verfolgt, die anderen werden ihre „Gefährten“. Die einen verlieren ihren Besitz, die anderen haben „mit den Gefangenen gelitten“. Wir Christen sollen von dem Leiden anderer unmittelbar und persönlich betroffen sein! Auch der konkrete gesellschaftliche und politische Einsatz für die Verfolgten ist vom biblischen Gebot abgedeckt. Sprüche 24,11 gebietet: Rette die, die zum Tode geschleppt werden, und Sprüche 31,8 fügt hinzu: Öffne deinen Mund für den Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen! „Wie Kirche als ganze mit dem Martyrium umgeht, ob sie als Einheit davon betroffen, leidend mit den Leidenden (1. Kor 12,26) oder davon unberührt bleibt, offenbart den Stand der kirchlichen Gemeinschaftlichkeit.“ 8 Deswegen dürfen auch Christen, die in Ländern leben, in denen Religionsfreiheit herrscht, sich nicht beruhigt zurücklehnen, sondern müssen für ihre Glaubensgeschwister eintreten. Auch bei uns herrscht nur Religionsfreiheit, weil Menschen – nicht nur Christen – mit persönlichem Einsatz dafür gestritten haben. Unser Einsatz wird einmal von Gott belohnt werden, aber er hat auch in dieser Welt schon häufig konkreten Erfolg. Wenn sich der Leib Christi zum Gottesdienst versammelt, sollte er sich auch an die erinnern, die um Christi willen leiden und gelitten haben. Dazu dient auch im evangelischen Bereich das Gedenken an die Märtyrer, weswegen es bereits in der Reformationszeit und bis in die Gegenwart evangelische Märtyrerkalender gibt, die die liturgische Erinnerung an Blutzeugen der Vergangenheit lebendig halten. 9
Protestanten ist eine direkte Verehrung der Märtyrer, wie sie in den ersten Jahrhunderten entstand 10 und in den orthodoxen und katholischen Kirchen üblich ist, und die Erinnerung an Christenverfolgung wachhält, nicht möglich. Die Alternative dazu darf jedoch nicht sein, sich nicht an Märtyrer zu erinnern, sondern, wie es gerade Martin Luther selbst immer wieder betont hat, ihnen einen großen Raum unter den Vorbildern des Glaubens einzuräumen 11 und in allen Arbeitszweigen der Gemeinde, etwa auch im Konfirmandenunterricht, Lebensbilder von Märtyrern zu vermitteln. Philipp Melanchthon hat in der Apologie des Augsburgischen Bekenntnisses drei Aufgaben der Erinnerung an die Märtyrer und andere Heilige genannt: 1. Wir sollen Gott für das Exempel seiner Gnade danken; 2. wir sollen durch ihr Vorbild unseren eigenen Glauben stärken; 3. wir sollen dem Vorbild ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Geduld nachfolgen. Große Teile der Bibel sind ohne den Hintergrund früherer oder kommender Martyrien gar nicht zu verstehen. Otto Michel schreibt etwa zum Neuen Testament: „Märtyrersprache, Märtyreranschauung und Märtyrergeschichte sind ein integrierender Bestandteil der urchristlichen Überlieferung, der in sämtlichen urchristlichen Schriften wiederkehrt. Keine urchristliche Schrift ist von ihm unberührt geblieben.“12 Nur drei Bücher des Neuen Testaments erwähnen Verfolgung nicht. Vier Bücher wurden speziell geschrieben, um Christen in der Verfolgung zu ermutigen: der Hebräerbrief, der 1. Petrusbrief, der 1. Timotheusbrief und die Offenbarung des Johannes. In der Apostelgeschichte kommt die Christenverfolgung nur in zwei Kapiteln nicht vor. Verfolgung war eines der Hauptthemen von Jesus, von Paulus, Petrus und Johannes. Und die gesamte paulinische Missionspraxis und Theologie ist von der Verfolgungsthematik durchdrungen.
Jesus ist das Urbild des Märtyrers. „Das junge Christentum hat das Werk Christi mit den Kategorien der Märtyrertheologie verdeutlicht und hat das Schicksal der Märtyrer vom Schicksal des Christus her verstanden.“13 Die Passionsgeschichte selbst nimmt den größten Raum in allen vier Evangelien ein und schildert im Detail den Verrat durch Judas, die falschen Anschuldigungen, unrechtmäßigen Prozesse, Folterung und qualvolle Tötung durch die Führer des Volkes Israel und des heidnischen Staates. Paulus hat immer wieder Jesus Christus als Märtyrer und als Vorbild für alle Christen beschrieben. Die Märtyrerakten der frühen Kirche halten deswegen Jesus für den Märtyrer schlechthin, den kein Märtyrer überbieten kann. Eigentlicher Anlass des Leidens der Christen ist Christus. „Je klarer die Gemeinde von Christus weiß und zeugt, um so gewisser wird sie mit dem Gegensatz, Widerspruch und Hass des Antichrist zu rechnen haben.“14 Deswegen geschieht jedes Leiden in der Verfolgung „um Christi willen“, weswegen Martin Luther schreibt: „Das muss man festhalten, dass alle Verfolgung, auch selbst die geistliche, welche durch den Teufel im Herzen geschieht, um Christi willen stattfindet.“15 Jesus selbst hat immer wieder klargestellt, dass die Verfolgung um seinetwillen geschieht (z. B. Mt 10,22 u. Luk 21,17: Ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen; Mt 16,25: Wenn jemand sein Leben um meinetwillen verliert ... etc). Ein Märtyrer ist „ein Christ, der freiwillig den Tod erleidet als die Strafe für das Bezeugen oder die Weigerung, seinen Glauben oder einen dazugehörigen Lehrsatz, ein Prinzip oder eine Verhaltensweise zu verleugnen“. 16 „Das Martyrium, so wie wir heute diesen Begriff auffassen, ist der Tod um des christlichen Glaubens oder der christlichen Sitte willen.“17 Dass es berechtigt ist, Verfolgung aufgrund einer „Verhaltensweise“ oder einer „Sitte“ der Christen wirklich als Verfolgung anzusehen, macht die Offenbarung des Johannes sehr deutlich. 18 Der antichristliche Staat („das Tier“) verfolgt nämlich „die Heiligen, die die Gebote Gottes und den Glauben an Jesus Christus festhalten“ (Offb 14,12) und wird deswegen untergehen. Genauso werden in Offb 12,17 die beschrieben, die „der Drache“ verfolgt. Wie selbstverständlich werden die Christen zuerst als solche charakterisiert, die Gottes Gebote halten und dann erst als die, die zu Jesus Christus gehören.
Christenverfolgung führt nicht automatisch zu Gemeindewachstum oder zur Reinigung und Festigung des christlichen Glaubens und der Kirche. Dies machen für Deutschland sowohl die Zeit des Nationalsozialismus als auch des Kommunismus in der DDR deutlich. Die Leidenserfahrung dieser Zeiten haben weder zu einer gründlichen Beschäftigung mit dem Thema Christenverfolgung noch zu einer Erweckung oder zu Gemeindewachstum geführt. Doch selbst wenn das Martyrium große Frucht bringt, handelt es sich um keinen Automatismus, sondern um eine Gnade Gottes. Natürlich gibt es Situationen wie in China, wo die Kirche in der Verfolgung wächst. Oft ist es aber auch so, dass erst das enorme Wachstum der Kirche die Verfolgung auslöst oder aber die Kirche in Ländern wächst, die immer schon die Menschenrechte missachteten. Christen im Westen neigen dazu, Christenverfolgung zu glorifizieren, Christen in Ländern mit Christenverfolgung neigen dazu, Freiheit und Wohlstand zu glorifizieren. In seinem berühmten Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld nennt Jesus neben denen, die das Wort Gottes gerne aufnehmen und umsetzen, und denen, die es rundheraus ablehnen, zwei weitere Gruppen von Menschen, die prinzipiell für das Wort Gottes aufgeschlossen sind, aber bei denen der Glaube dann doch unter die Räder kommt: Bei dem aber auf felsigen Boden gesät ist, das ist, der das Wort hört und es gleich mit Freuden aufnimmt; aber er hat keine Wurzel in sich, sondern er ist wetterwendisch; wenn sich Bedrängnis oder Verfolgung erhebt um des Wortes willen, so fällt er gleich ab. Bei dem aber unter die Dornen gesät ist, das ist, der das Wort hört, und die Sorge der Welt und der betrügerische Reichtum ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht (Mt 13,20 -22).
Schon im Alten Testament erfolgt die Verfolgung der Propheten und wahren Gläubigen nicht oder nicht nur durch den jüdischen oder heidnischen Staat, sondern durch Israel selbst. Darauf hat Jesus immer wieder hingewiesen, wenn er die geistlichen Führer seiner Zeit in eine Linie mit den Mördern der alttestamentlichen Propheten gestellt hat (z. B. Mt 5,10 – 12; 10,23; 23,34; Luk 11,49; 13,34; 21,12; Joh 5,16 etc.). Paulus fasst das mit den Worten zusammen: „Aber so wie damals der nach dem Fleisch Geborene den nach dem Geist Geborenen verfolgte, so ist es auch heute noch“ (Gal 4,29; vgl. 1.Thes 2,14 -15). Auch im Neuen Testament tritt neben den heidnischen Staat als Hauptursache der Verfolgung die verblendete Kirche, die im Namen Gottes die wahren Gläubigen verfolgt. Jesus wird sowohl durch die Führer des Volkes Israels als auch durch die des heidnischen Staates gefoltert, misshandelt und qualvoll umgebracht. Dies wird auch in der Offenbarung des Johannes deutlich, wo die Christen verfolgende abgefallene Kirche und Religion als „Hure Babylon“ bezeichnet wird. Jesus hat es auf den kurzen Nenner gebracht: Es wird aber eine Zeit kommen, dass der, der euch tötet, meint, dass er damit Gott einen Gefallen tut (Joh 16,2).
„Die Martyriumstheologie darf die in der Geschichte vielfach nachgewiesene Tatsache, dass Christen ‚im Namen des christlichen Glaubens‘ Verfolgung und Tod verbreitet haben, nicht verschweigen.“ 19 Es sei nur an die Zwangsbekehrungen im Mittelalter, die Kolonialisierung Lateinamerikas, die Kreuzzüge, die Bekämpfung der Häretiker, die Inquisition und die vielen Judenpogrome erinnert. Bereits im 4. Jahrhundert wird der Begriff des Märtyrers auf Christen ausgedehnt, die von anderen Christen, die sich für rechtgläubig hielten, getötet wurden. Mit der Reformationszeit tritt eine unschöne Konfessionalisierung des Märtyrerbegriffes und der Märtyrerbücher mit Sammlungen von Märtyrergeschichten bei Katholiken, Orthodoxen, Protestanten, Anglikanern, Lutheranern, Reformierten und Puritanern ein, bei der als Märtyrer immer nur die getöteten Christen der eigenen Konfession gelten.
Die Offenbarung des Johannes enthält eine gewaltige Botschaft, die Christen in immer neuen historischen Situationen Mut gibt und über die wir uns unabhängig von unserer jeweiligen Auslegung der Offenbarung im Detail einig sein sollten: Die Gemeinde breitet sich nicht durch Macht, Geld oder Gewalt aus, sondern durch die Autorität Jesu, durch das Wort Gottes, den Heiligen Geist und durch das Gebet. Selbst wenn Gott zulässt, dass sich die religiöse Macht und die staatliche Macht gegen die Gemeinde Jesu zusammenrotten und es deswegen so aussieht, als ob die Gemeinde Jesu auf dieser Erde am Ende wäre, bereiten die falsche Religion und der pervertierte Staat nur ihren eigenen Untergang vor, wenn sie die Gemeinde Jesu bekämpfen. Ja, Gott sorgt am Ende dafür, dass sich die Mächte dieser Welt gegenseitig bekämpfen und die politischen Mächte die religiösen Gegner der Gemeinde Jesu vernichten, so wie in der Offenbarung die weltliche Macht des Tieres urplötzlich Gottes Gericht an der religiösen Macht der Hure Babylon vollzieht. Jesus hat verheißen: Ich werde meine Gemeinde bauen – und die Pforten der Hölle werden sie nicht besiegen (Mt 16,12). Gottes Reich wächst unaufhaltsam gegen alle Widerstände der religiösen, geistigen, wirtschaftlichen und politischen Mächte dieser Welt.
Aus: Christenverfolgung heute, © 2007 SCM-Verlag GmbH & Co. KG,
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