© M S Corley
Wer der Reformation wieder einmal einen Besuch abstatten möchte, wer nach Impulsen zur Erneuerung ruft, wer gar Evangelisation für erforderlich hält, der geht in der Regel davon aus, dass manches in der Kirche Jesu nicht so ist, wie es sein sollte oder könnte. Und in der Tat kann kaum jemand ein Buch zum Thema „Kirche“ aufschlagen, ohne dass ihm die tiefe Übergangskrise der Kirchen im westlichen Europa entgegenspringt. Die neueste (5.) Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD von 2012 zeigt: Es schrumpft die kirchliche Mitte. Die treuen Kirchenfernen sterben aus, im wahrsten Sinn des Wortes. Emil Brunner, dessen 50. Todestag wir in diesem Jahr (2016) begehen, sprach schon 1960 von einem „Prozess der fortschreitenden Entkirchlichung“ 1 und vom „Ende der konstantinischen Ära“ 2.
Ich referiere alle diese Dinge gerade in meiner Vorlesung über Kirchentheorie. Durch höhere Fügung unterrichte ich aber glücklicherweise auch Homiletik und Liturgik. Und da hat die Liturgische Konferenz in Deutschland uns in ihrer großen Weisheit gerade eine Revision der sonntäglichen Lesungen und Predigttexte beschert. Nach Pfingsten gibt es nun, fast schon in reformierter Tradition, eine Lectio continua des kleinen Prophetenbuches Jona. An drei Sonntagen nacheinander lesen die Gemeinden also diese Geschichte. Und unsere Studentinnen und Studenten haben dazu Predigten geschrieben und gehalten. Also habe ich immer parallel zu diesem Text den Bericht über Jona gelesen und die Predigten unserer Kommilitonen. Irgendwann dachte ich: Das ist noch einmal ein ganz anderer Blick auf mich, unsere Gemeinden und die Kirche als ganze. Könnte es sein, dass wir hier nicht für alles, aber für einiges eine neue Sicht bekommen können?
Jona ist ein Prophet. 3 Und der hört einen Auftrag: „Geh nach Ninive.“ Ninive liegt im Osten, Hauptstadt des assyrischen Reiches. Jonas Kollege Nahum sagt über Ninive: „Ganz übel!“ Also auf Biblisch: „eine mörderische Stadt“ 4, „die schöne Hure, die mit Zauberei umgeht“ 5. Und er, Kollege Nahum, sagt, was Ninive erwartet, nämlich der Untergang. Wer, so fragt er, wird dann Mitleid mit Ninive haben? 6 Korrekte Antwort: Niemand. Das sind die Schlimmsten der Schlimmen, und was immer uns gerade aus den Nachrichtensendungen als heutige Parallele einfällt: Es passt! Darum ist dieses kleine Jona-Buch so ein sensationelles Buch: Gott schickt Jona nach Ninive. Jona ist Prophet, wer wäre da so dumm, nicht zu tun, was Gott will? Jona. Der sture Hund. Wir wissen, was passierte. Jona soll nach Osten, aber flieht per Schiff nach Westen. Da schickt Gott einen großen Sturm. Die Seeleute fürchten sich und ganz multikulti betet jeder zu seinem Gott, nur Jona nicht, der ist inzwischen ganz tief gesunken, schlaftrunken unten im Schiff. Also, da stutzt man schon: Der Prophet tut, was man von Heiden erwartet, die heidnischen Seeleute tun, was man vom Propheten erwartet. Am Ende geht Jona über Bord. Das heidnische Schiff aber wird zum Ort der Anbetung des einen Herrn. Aber weiter: Gott ruft einen großen Fisch, „the Lord appointed a big fish“, heißt es in der ESV (English Standard Version). Wahrscheinlich hat er zum Fisch gesagt: „Nur schlucken, nicht kauen!“ Jona überlebt das. Und jetzt betet er, seine Flucht hat ein Ende. Ausgekotzt, mit Thunfisch à la Tartar bedeckt, liegt er da. Aber: Er hört auf, wegzulaufen. Er geht nach Ninive, predigt die schlechteste Predigt seit Menschengedenken, ein lustloses Abliefern der Nachricht: „In 40 Tagen ist alles vorbei.“ Und er kann es nicht fassen: Auf die schlechteste Predigt kommt die tiefste denkbare Reaktion: Die Menschen kehren um. Sie suchen Gott. Aber Jona sucht nur noch Abstand. Bloß weg. Das große Lobgebet auf Gottes Erbarmen aus 2. Mose 34 kehrt er in einen bitterbösen Vorwurf um: Wusste ich es doch, du mit deinem unermüdlichen Erbarmen! Da überlegt sich Gott eine kleine prophetische Zeichenhandlung mit einem Rizinus-Strauch. Über den kann der miesepetrige Prophet sich freuen, aber als Gott den Strauch vernichtet, will er nur noch sterben. Da sagt Gott: „Du hast Mitgefühl für einen Strauch, der heute blüht und morgen kaputtgeht. Und ich sollte nicht Mitgefühl haben mit so vielen Menschen und Tieren, denen ich das Leben geschenkt habe? Das sollte mir nicht nahegehen, Jona?“ So endet das Buch, so offen, mit einer Frage an Jona, an mich, an meine Kirche, an uns.
Ich werde mich hüten, das alles nun 1:1 auf uns und die Kirche zu übertragen, womöglich als geistlich arrogante Kirchenschelte. Aber ich sehe Grundzüge einer anderen Perspektive, die mit Jona als unserem idealtypischen Bruder und mit Ninive als glaubensferner Kultur zu tun hat. Ich sehe, wie schwer Gott es hier mit seinen eigenen Leuten hat. Mit mir. Mit uns. Wie viele Orte, zu denen er uns schickt, und wir gehen nicht. Wie viel Missionsrhetorik ohne Folgen! Wie viel Gleichgültigkeit gegenüber denen da draußen. Es ist ein mühsames Unterfangen für Gott, weil er neben seinem Projekt Ninive die ganze Zeit mit einem widerspenstigen Mitarbeiter zu tun hat. Wie viel Arroganz und Überheblichkeit, abwechselnd mit Kleinmut und Fluchtgedanken. Die ganze Zeit ist Gott damit beschäftigt, den Jona auf Kurs zu bringen und am Leben zu erhalten. Ich sehe, wie erstaunlich sich dagegen die Menschen von ganz weit her benehmen. Erstaunliche Matrosen, die anfangen zu beten, die Mitgefühl zeigen und – so lange es Hoffnung gibt – den Jona nicht einfach ins Meer werfen. Und als Jona als gescheiterter, überschuldeter, unbrauchbarer Mensch vor ihnen steht, da hören sie ihm zu. Und dann Ninive: Sie hören eine grauenvolle Predigt, nach Form, Inhalt und persönlicher Glaubwürdigkeit. Im Seminar ein glattes Mangelhaft. Und sie reagieren, selbst Kuh und Katz laufen in Sack und Asche herum. Sie ändern ihr Leben, nehmen Gott unendlich ernst und retten ihre Stadt. Und dann sehe ich, wie uns Gott hier vorgestellt wird. Wie viel Mühe gibt er sich mit Jona. Er setzt Fische und Wüstenwinde in Bewegung. Er sorgt nicht einfach für pflegeleichten Ersatz. Er geht dem Schlingel nach, wieder und wieder. Er verzeiht, gibt eine zweite Chance. Er erträgt die miserable Performance dieses Predigers. Nichts davon wird gutgeheißen, aber am übelsten Beispiel wird demonstriert: So ist Er. So geht Er mit uns um. Seinen einzigen hellen Moment hat Jona im Bauch des Fisches. Da war der ganze Fisch voll Gesang. Als er auf den Boden aufschlägt, fängt er an zu beten. Und wunderbarerweise hört ihn Gott. Geholfen hat es nicht viel: Sehr bald schlägt wieder seine dunkle Seite durch, er nimmt für sich Gottes Geduld in Anspruch, aber anderen mag er sie nicht gönnen. Was um Himmelswillen ist mit einer solchen Kirche anzufangen? Mit mir? Mit uns? Aber Gott geht ihm nach, kümmert sich, erzieht, bildet, vergibt, erträgt, sendet aufs Neue, redet, hofft auf Resonanz – für meinen Bruder Jona.
Und wie erstaunlich ist, was er über die Heiden von Ninive sagt! Gott empfindet Reue. Das ist eine sehr mutige theologische Auskunft. Gott dreht es das Herz um, er kann nicht richten, er muss sich erbarmen. Das kleinste Zeichen von Umkehr bricht ihm das Herz. Mich sollte nicht jammern diese Stadt mit so vielen Menschen? Mission ist nicht die Überwindung von geistlichen Feinden. Mission ist nichts anderes als Ausdruck der herzzerreißenden Suche, Liebe, Barmherzigkeit und Gnade unseres Gottes. Wer wird Mitgefühl mit Ninive haben, fragte Nahum selbstsicher und stolz! Wer wird sich melden? Es meldet sich der, von dem sie es am wenigsten erwarteten: Gott selbst. Er scheint sie alle zu lieben. „People matter to God“, (Die Menschen sind Gott wichtig) heißt es immer in Willow Creek. 7 „Everybody is welcome, nobody is perfect, anything is possible“ ist das Motto der Menlo Church in San Francisco. 8 Alle, die gut klarkommen und die gar nicht klarkommen, Geschiedene, Deprimierte, Gebildete, Schlichte, Konservative, Linke, Moslems, Esoteriker, brav Verheiratete, Homosexuelle, Weiße, people of colour, Alte, Kinder – „People matter to God!“
Was soll das aber mit unserem Thema zu tun haben? Nun, es ist das narrative Echo der reformatorischen Botschaft. Jonas offenkundige Untauglichkeit macht ihn nicht untauglich. Ninives offenkundige Bosheit ist nicht das Ende. Gott ist unermüdlich beschäftigt, zu suchen und zu finden. Wieder und wieder bricht ihm seine Welt das Herz. Für den „Jona in uns“ geht es nur darum, die Frage am Ende des Buches zu beantworten: Jona, verstehst du mein Erbarmen nicht? Willst du es haben und anderen verweigern? Oder willst du es mit anderen genießen? Das ist eine Frage, so ernst, dass alles daran hängt, auch das Kirchesein der Kirche. Und es ist eine Frage, die das Tor weit aufstößt zu Gewissheit und Freude. Aber das eine bekommen wir nicht ohne das andere. Das ist das Evangelium: nicht guter Rat zum besseren Leben, sondern gute Nachricht von allem, was Gott tat und tut, um uns zu retten. 9 Timothy Keller sagt es genau so: „Gospel is good news, not good advice.“ 10
Und hier beginnt die Erneuerung der Kirche, bei uns und dem Evangelium. Mit der Umkehr zur Freude, mit der Freude der Umkehr. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft sagt es in der Studie Ecclesia semper reformanda von 2012 genau so: „All reform and renewal needs to be understood as the way the church continually returns to God: it is an act of repentance and is always seeking renewal through the work of the Holy Spirit.“ (Alle Reform und Erneuerung muss als Weg verstanden werden, auf dem die Kirche immer wieder zu Gott zurückkehrt: Es ist ein Akt der Reue und sucht immer wieder Erneuerung durch das Wirken des Heiligen Geistes.) 11 Und Christina Aus der Au hat darüber nachgedacht, ob wir Reformation eher wie Ovid verstehen als Rückkehr zum Alten oder eher wie Plinius als stetige Verbesserung. Ich glaube, dass vor dem Verbessern das Rückkehren angesagt ist und vor der Arbeit die Gnade. 12 Wir müssen uns der Krise stellen und uns als Kirche „besser aufstellen“, keine Frage, da ist nüchterne Arbeit zu leisten. Aber hier, hier! beginnt es: Mit dieser Frage Gottes an Jona. Papst Franziskus hat das, was uns hier erwartet, an den Anfang seines Schreibens Evangelii Gaudium gestellt: „Die Freude des Evangeliums füllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.“ 13 Freude erneuert unsere Kirche. Freude wartet auf Jona, wenn er begreift, zulässt, ergreift, was Gott ihm die ganze Zeit zeigen und schenken wollte. Freude wartet auf die ärmere, ältere, kleinere, weniger privilegierte, weniger dominante Kirche, wenn sie begreift, zulässt, ergreift, was Gott ihr in ihrer Krise aufs Neue zeigen und schenken wollte. Freude ist der Anfang der Zuwendung zur Welt. Mission ist Selbsthingabe an die Welt aus der Freude heraus und mit der Hoffnung, dass Ninive umkehrt und auch zur Freude findet. ■
Anmerkungen:
aus: Walter Dürr, Ralph Kunz (Hg.), Gottes Kirche reimaginieren. Reflexionen über die Kirche und ihre Sendung im 21. Jh, Aschendorff-Verlag, Münster 2016, S. 17 ff; gekürzt
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