OJC-Konferenz in Bensheim
Innerhalb von zwei Jahren hatten Irmela und Horst-Klaus Hofmann und ein kleines Team von Mitkämpfern auf 26 Schüler- und Studentenkonferenzen mehr als 2000 junge Leute kennengelernt und sie mit der Botschaft des Evangeliums zu einer neuen Lebensart herausgefordert.
Aus diesen Anfängen 1968/69 entstand die OJC-Gemeinschaft. Nach zehn Jahren schrieb die Gründerin in „Kein Tag wie jeder andere“ über den herausfordernden Dialog mit den jungen Wilden, aus dem dieser Abschnitt stammt.
Die nun folgende Tagung (im November ’68 auf dem Gelände der Ev. Marienschwestern in Darmstadt, Anm. d. Red.) war nicht nur die bisher größte, sondern auch die spannendste. Nach dem Vortrag über „Sexualität und Herrschaft“ am Samstagabend sollte das Nachgespräch der 80 Mädchen von der heißen Diskussion der rund 90 jungen Männer abgelöst werden, damit möglichst viele und verschiedenartige Probleme offen zur Sprache kommen konnten. Dies nahm eine Gruppe geschulter junger Marxisten zum Anlass für die geplante Kraftprobe. Mehr als fünfzehn junge Männer stürmten aufs Podium und ließen einen Rechtsradikalen, den einzigen in der Gruppe, das Wort führen, um die Konferenz umzufunktionieren. Das war damals übliche Taktik. Erste Überraschung ihrerseits: die kampflose Übergabe des Mikrofons.
Eine Viertelstunde lang interpretierten sie nun lautstark das bisherige Konferenzgeschehen auf ihre Weise und versuchten, die vor ihnen sitzende Menge emotional anzuheizen und zur Rebellion gegen die Konferenzleitung zu gewinnen. Ich hatte so etwas noch nie erlebt und bekam es mit der Angst zu tun, umso mehr, als ich plötzlich sah, wie eine vor mir sitzende Marienschwester den Saal verließ. Als ich mich umschaute, stellte ich mit Schrecken fest, dass alle Schwestern gegangen waren. Auf dem Podium, etwas abseits von der entschlossenen „Rebellen-Gruppe“, stand Horst-Klaus. Er schien gelassen, aber hochkonzentriert zu sein. Da fiel mir nichts Besseres ein, ich fing an zu beten.
Es waren etwa 20 Minuten vergangen, als es dem engagierten Sprecher mit jedem Satz schwerer zu fallen schien, neue Argumente gegen die Konferenzleitung zu finden. Erregt rief er: „Jetzt verteidigen Sie sich doch endlich, Herr Hofmann!“ und übergab ihm das Mikrofon. Das war der Augenblick, auf den Horst-Klaus gewartet hatte. Sekunden später hörte ich seine Stimme aus dem Lautsprecher so ruhig, als setze er einen unterbrochenen Vortrag fort, aber entschlossen, die Herausforderung nicht unbeantwortet zu lassen: „Jeder von uns steht vor einer Wahl. Ich habe bei Jean-Paul Sartre gelernt, dass es zwei Arten von Revolutionären gibt. Ich will sie Ihnen schildern, indem ich Ihnen meinen Lieblingsdialog aus den ‚Schmutzigen Händen‘ vorlese ...“ Und dann las er aus dem leidenschaftlichen Gespräch zwischen dem alten Kämpfer Hoederer und dem jungen Intellektuellen Hugo vor:
Liebst Du die Menschen?
Der kommunistische Führer Hoederer setzt sich über die Direktiven seiner Partei hinweg. Um das Leben von Hunderttausenden zu retten, will er vorübergehend einen Pakt mit den bürgerlichen Parteien schließen. Sein Sekretär Hugo wirft ihm vor, er sei ein Verräter. Hoederer versucht, ihn von seiner intellektuellen Hochnäsigkeit herunterzuholen:
Hoederer: Wie du an deiner Reinheit hängst, mein Kleiner! Wie du Angst hast, deine Hände zu beschmutzen! Nun, so bleibe rein! Was wird es dir nützen, und warum kommst du zu uns? Die Reinheit ist eine Idee von Fakiren und Mönchen. Ihr Intellektuellen, ihr bürgerlichen Anarchisten, ihr nehmt sie zum Vorwand, um nichts zu tun. Nichts tun, am Ort treten, Ellbogen am Leibe, Handschuhe an den Händen. Ich, ich habe schmutzige Hände. Bis zum Ellbogen hinauf. Ich habe sie in Kot und Blut eingetaucht ... Du liebst die Menschen nicht, Hugo. Du liebst nur deine Prinzipien.
Hugo: Die Menschen! Warum sollte ich sie lieben? Lieben sie mich?
Hoederer: Warum bist du dann zu uns gekommen? Wenn man die Menschen nicht liebt, kann man nicht für sie kämpfen.
Hugo: Ich bin in die Partei eingetreten, weil ihre Sache gerecht ist, und ich werde austreten, wenn sie aufhören wird, es zu sein. Was die Menschen anbelangt, so interessiert mich nicht, was sie sind, sondern was sie werden können.
Hoederer: Und ich, ich liebe sie für das, was sie sind. Mit all ihren Unsauberkeiten und Lastern. Ich liebe ihre Stimmen und ihre warmen Hände, die mich ergreifen, und ihre Haut, die nackteste aller Häute und ihren unruhigen Blick und den verzweifelten Kampf, den sie, einer nach dem anderen, gegen Tod und Angst führen. Für mich zählt das: ein Mensch mehr oder weniger in der Welt. Das ist etwas wert. Dich kenne ich, du Kleiner, du bist ein Zerstörer. Du verachtest die Menschen, weil du dich selbst verachtest; deine Reinheit gleicht dem Tode, und die Revolution, von der du träumst, ist nicht die unsrige: Du willst nicht die Welt verändern, du willst sie in die Luft sprengen.
Es wurde immer stiller im Raum. Die Jungen verließen einer nach dem anderen das Podium. Als ich mich umschaute, saßen auch die Marienschwestern wieder an ihren Plätzen.
Es folgten 40 Minuten einer mitreißenden Herausforderung zur radikalen Änderung des eigenen Lebens, damit wirksame Änderung in der Gesellschaft möglich würde. Im Saal herrschte atemlose Stille, sodass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Und nun denke ich,“ hieß es plötzlich, „haben wir alle viel Sauerstoff und Ruhe zum Nachdenken nötig. Gute Nacht!“
Der Saal leerte sich. Was war geschehen? Wie war es zu der Wende gekommen? Ich erfuhr es beim Hinausgehen. Die jungen Schwestern hatte der gleiche Schrecken ergriffen, der auch mich gepackt hatte. Sie waren ins Mutterhaus gelaufen und hatten Bericht erstattet. Daraufhin hatte Mutter Basilea in alle Häuser, Werkstätten und Küchen Bescheid gegeben, alle Arbeit aus der Hand zu legen und zu beten; denn hier könne nur der Geist Gottes selbst eine Wendung herbeiführen. Eine Viertelstunde später hatte sie die Schwestern wieder an ihre Plätze zurückgeschickt mit den Worten: Dankt Gott, der Durchbruch ist geschehen. Eine solche unmittelbare Erweisung der Kraft des Gebets hatte ich noch nie erlebt. Diese Urerfahrung sollte die Basis unseres zukünftigen Lebens und Auftrags werden.
Aus: Kein Tag wie jeder andere, Wuppertal 1978, S. 14 – 15
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