Relief mit den Gesetzestafeln an der Synagoge in Prag
Relief mit den Gesetzestafeln an der Synagoge in Prag
Keramische Nachbildung der Brustplatte des Hohepriesters an der Synagoge von Ramat Gan/Israel
Keramische Nachbildung der Brustplatte des Hohepriesters an der Synagoge von Ramat Gan/Israel

Prophet und Priester

Zwei Ämter im Kraftfeld der Gemeinde

Beim Lesen des Alten Testaments fällt eines sofort auf: Nahezu von Anfang an stehen hier zwei grundlegende geistliche Dienste nebeneinander: die Priester und die Propheten. Oft kommt es zwischen ihnen zu Spannungen. Aber beide haben auch viel gemeinsam. Zum einen wurzeln sie in der Mitte des Volks – anders als etwa das Königtum. Sie werden immer von einer Mehrzahl von Personen ausgeübt. 1
Beide Dienste vermitteln jeweils auf ihre eigene Weise den Willen und die Gegenwart Gottes. Gemeinsam ist beiden auch, dass sie nicht für sich selbst existieren, sondern sich nach außen orientieren und für das größere Ganze da sind. Für beide gibt es ein „Ur-Bild“ in der Entstehungszeit Israels, der Zeit des Exodus und der Wüstenwanderung: Mose und Aaron, den Sprecher Gottes und den Hohepriester. Und nicht zuletzt gehören sie mit dem König zusammen zu den drei „Ämtern Christi“, mit denen die klassische Dogmatik die Dimensionen des Dienstes Jesu beschreibt.

Schaut man sich die beiden Berufungen näher an, um die es hier gehen soll, dann stellt man fest, dass sich darin die zwei grundlegenden Ausprägungen des Dienstes in und an der Welt widerspiegeln. Sie stehen im Verhältnis einer spannungsvollen Ergänzung zueinander: Sie sind gleichzeitig konträr und komplementär. Genau diese Struktur prägt auch den Auftrag der Christen in Kirche und Welt. Deshalb werden wir uns kurz die Eigenheiten der beiden Berufungen anschauen, um dann in einem Vergleich die Folgerungen für unsere Existenz heute zu ziehen.

Konfrontation: Die Propheten

Propheten sind Personen, die von Gott individuell erwählt, inspiriert und gesandt werden, um seinen Willen für die jeweilige Zeit konkret kundzutun. 2 Sie sind eine Art Sprachrohr für ihn. Da aber der Wille Gottes in Zeiten der Krisen, des Abfalls, des Gerichts und des Neuanfangs entscheidend und unterscheidend war, treten Propheten im Alten Testament vor allem in solchen Phasen der Geschichte auf. So stehen sie oft gegen den Mainstream und riskieren für ihre Botschaft häufig ihr Leben. Auf den Punkt gebracht lautet ihre Aufgabe: Der Prophet konfrontiert mit dem je aktuellen Willen Gottes für hier und heute. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt: Im AT wird zunehmend sichtbar, dass es Israels Berufung als Volk Gottes insgesamt ist, eine prophetische Stimme in der Völkerwelt zu sein, „ein Licht für die Nationen“ 3. Dem ist es allerdings im Alten Testament nur spärlich nachgekommen.

Integration: die Priester

Zunächst fällt auf, dass es in allen alten Kulturen Priester gibt. Dahinter steckt das tiefe Wissen um einen grundlegenden Bruch: die Welt ist nicht heil. Das gilt insbesondere für den Menschen. Er lebt im Gegensatz zum Göttlichen, zum „Heiligen“, und wird immer wieder schuldig. Dadurch zerbricht, biblisch gesprochen, der Schalom 4 der Welt. ­Aber ohne diesen Schalom und ohne das Heilige, das ihn garantiert, schützt und wiederherstellt, ist der Mensch „unheil“, zum Untergang verurteilt. Denn für ihn als Unheil(ig)en verläuft jeder direkte Kontakt zur Sphäre des Heiligen tödlich. Also braucht er „Mittler“ – und hier kommt der Priester ins Spiel. Nicht umsonst lautet eine seiner Bezeichnungen im Lateinischen „pontifex“, „Brückenbauer“. Seine grundlegende Rolle ist die Vermittlung des Menschen mit der Sphäre des Göttlichen. Dies bedeutet zum einen die Verantwortung für die Einsicht in die Grundprinzipien des Schalom und die Einhaltung der Gebote, die ihn garantieren. 5 Zum andern aber bedeutet es den Akt der Sühne, und damit der Wiederherstellung der Integrität des zerbrochenen Schalom. Kurz gesagt: Die Aufgabe des Priesters besteht in der „Integration“.

Priester in Israel

Interessanterweise sehen wir bei der Offenbarung Gottes am Sinai eine ähnliche Dynamik am Werk. Eigentlich hat ganz Israel die Berufung zur Priesterschaft, zur Vermittlung Gottes an die Welt. 6 So verkündet Gott das Fundament der Tora, die Zehn Gebote, vor den Ohren des versammelten Volks. Angesichts seiner sich dramatisch manifestierenden Heiligkeit bekommt es das Volk aber mit der Angst zu tun und schickt Mose vor und „ins Feuer“. Er soll als Mittler fungieren. 7 Ähnliches sehen wir nach dem Sündenfall des Volks am Sinai: Den Ort der Gegenwart Gottes, das „Zelt der Begegnung“, kann allein Mose betreten. Hier geschieht der „Brückenschlag“ zwischen Gott und seinem Volk. 8 Später treten die „Stiftshütte“ bzw. der Tempel an seine Stelle; die Rolle des Mittlers geht dabei an Aaron und die Priesterschaft Israels über. 9 So vermitteln die Priester des AT die Gegenwart und den grundlegenden Willen Gottes; sie lehren die Prinzipien seines Bundes mit Israel, der den Schalom garantiert. Gleichzeitig bringen sie in den Opfern Israel fürbittend vor Gott. Und wenn der Wille Gottes missachtet und sein Bund gebrochen wird, vollziehen sie die Sühne am Tempel. So wird der Schalom wiederhergestellt.

Priester im Neuen Testament

Das Neue Testament bringt eine wichtige Änderung: Der Aspekt der Sühne ist „ein für alle Mal“ durch das Opfer des Hohepriesters Jesus abgedeckt. In ihm ist Gottes Schalom dauerhaft gegenwärtig. Für das Volk des Neuen Bundes aber wird die ursprüngliche Berufung ganz Israels erneuert: Ihr jedoch seid ein auserwähltes Volk; ihr seid eine königliche Priesterschaft, eine heilige Nation, ein Volk, das ihm allein gehört (1.Petr 2,9). Das heißt: Alle Christen haben die Aufgabe, mit ihrem Dasein, ihrem Leben und Handeln Gottes Gegenwart in die Welt zu vermitteln – und die Welt priesterlich vor Gott zu bringen.

Prophet und Priester:
Zwei lebensnotwendige Pole

Vergleichen wir die Lebensform und den jeweiligen Auftrag von Prophet und Priester, so sehen wir einerseits, dass sie nicht gegensätzlicher sein könnten. Weil aber Gottes Wille und Weg um­fassend ist, reicht keine der beiden Berufungen aus; keine verwirklicht allein seinen Willen. Deshalb braucht die eine Berufung die andere. So ergänzen sich letztlich die beiden Dienste gegenseitig. Übrigens gibt es im AT einen Punkt, an dem beide Berufungen miteinander identisch werden: in den Gottesknechtsprophetien des Jesajabuchs. 10 Sie schauen einen künftigen Gottesknecht, der als Prophet Israel und der Welt die Botschaft Gottes bringt und am Ende durch seine priesterliche Lebenshingabe im Tod die Schuld der vielen auf sich nimmt. Das Neue Testament erkennt darin den Weg Jesu.

Im Folgenden sollen sieben Grundmerkmale ideal­typisch miteinander verglichen werden. Dabei ist zu beachten, dass es in der konkreten Realität natürlich immer wieder zu Überschneidungen kommen kann. Trotzdem hilft es, sich die beiden konträren Pole einmal zu verdeutlichen. Das schärft den Blick auf unsern Auftrag als Gemeinde Jesu in der Welt. Schon in der Berufung unterscheiden sie sich: Der Prophet wird als einzelner heraus­gerufen aus seinem sozialen Zusammenhang, seiner ­Familie, dem Beruf und der Heimat. Der Priester hingegen wird hineingeboren in seine priesterliche Berufung: Er ist Teil einer Familie, einer Sippe, ja eines ganzen Stammes, die als Leviten schon immer in dieser Berufung standen. Auch der Charakter des Dienstes ist unterschiedlich: Der Prophet steht für den Aufbruch zum Neuen, die Herausforderung zum unbedingten Glauben gegen alle äußeren Umstände, für Dynamik und Veränderung, aber immer wieder auch für den Ruf zur Umkehr zu Gott, die Rückkehr zu den Ursprüngen und damit für „Reformation“. Der Priester hingegen verkörpert die Kontinuität in Lehre und Praxis, das Verwurzeltsein in der bewährten geistlichen „Tradition“, für die Ausgewogenheit und damit die Vertiefung des Lebens mit Gott. Hier klingen nicht zufällig die Grundcharismen des evangelischen und katholischen Ansatzes an. Die Gegensätzlichkeit betrifft auch die Grund­haltungen. Der Prophet lebt in Opposition: er steht im Gegensatz zur Anpassungsbereitschaft des Volkes Gottes an den Mainstream der jeweiligen Zeit. Die Existenz des Priesters hingegen besteht in der Annahme, dem pastoralen Mittragen der Schwachen und Sünder. Selbst wo er ausgrenzen muss, geschieht das im Blick auf eine künftige Wiederaufnahme.Für den Auftrag bedeutet das: Die prophetische Berufung fordert heraus, sie konfrontiert und ­polarisiert. Indem der Prophet den Anspruch Gottes proklamiert, scheidet er die Geister und führt die Trennung von Licht und Finsternis herbei. Der Priester hingegen integriert: er führt zusammen, verbindet, heilt und eint so die Gemeinschaft. Er vermittelt den Zuspruch Gottes. Damit verknüpfen sich Unterschiede in der Form: Der Prophet agiert von sich aus und setzt die Themen. Seine Botschaft ist aktuell, punktuell und verdichtet. Alles ist auf die eine entscheidende Fragestellung hin fokussiert; andere Themenbereiche liegen außerhalb seines Auftrags. So kommt es bei den großen Propheten des Alten Testaments immer wieder zu manchmal jahrelangen Phasen des Schweigens. Der Priester hingegen reagiert auf die Anliegen der Gemeinde, er dient ihr kontinuierlich in der gesamten Bandbreite des Lebens. Der Prophet wird „gesandt“ – den Priester aber sucht man auf, etwa im Tempel. Schließlich sind auch im Blick auf die „Reichweite“ des Dienstes die Unterschiede markant: Der Prophet hat zwar einen stark profilierten, zugleich aber auch eng umgrenzten Auftrag: für eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Situation und eine bestimmte Zielgruppe. Der priesterliche Dienst hingegen ist umfassend: er richtet sich an alle Menschen und Generationen, zu jeder Zeit und in jeder Situation. Im Letzten verkörpern beide Dienste zwei unterschiedliche Seiten des Wesens Gottes: Der Prophet steht für das ewige Gegenüber Gottes zu seiner Schöpfung, für das Wort der Wahrheit, das „von außen“ und „von oben“ kommt. Der Priester hingegen repräsentiert das Mitsein Gottes, seine Identifikation, die bis zur „In“-Karnation, ja zum stellvertretenden Tod reicht. Der Prophet thematisiert die Gerechtigkeit Gottes, der Priester seine Liebe. Beides aber sind nur die zwei Seiten ein und derselben Münze – denn Gott ist Einer.

In der Grund-Polarität der beiden Berufungen spiegelt sich ein wichtiger Aspekt biblischer Weltsicht wider: Das Ganze wird nur durch die beiden Pole einer Ellipse erfasst. Schon in der Schöpfung beschreibt der Begriff „Himmel und Erde“ ihre Gesamtheit, „Tag und Nacht“ den Rhythmus der Zeit, „Mann und Frau“ das Menschsein. „Hören und Handeln“ sind die beiden Grundpfeiler der menschlichen Existenz, „Gottes-“ und „Nächstenliebe“ ihr Ziel. Beide Formen des Dienstes haben aber auch ihre je eigenen Gefährdungen – Rechthaberei und Spaltung einerseits, falsche Annahme und trügerische Sicherheiten andererseits. Der Leib Christi braucht deshalb beide Formen gleichermaßen. Ausschlaggebend ist, dass beide Dienste in einem guten und respektvollen Miteinander praktiziert werden. Auf Dauer bleibt eine geistliche Gemeinschaft nur gesund, wenn sie beiden Polen gleichermaßen Raum gibt. Denn der Leib Christi bildet auch in seiner Berufung zum Dienst Christus ab: in prophetischer Konfrontation und priesterlicher Integration.

Anmerkungen:

  1. Der Priesterdienst war grundlegend „teambasiert“. Aber auch die großen Schriftpropheten versahen ihren Dienst zwar oft einsam, aber eben nicht allein. So tritt Amos beispielsweise zeitgleich mit Hosea auf, Jesaja mit Micha, Jeremia mit Hesekiel und Zefanja, Haggai mit Sacharja. Zudem hatten viele von ihnen eine Jüngerschar um sich herum. – Anders verhält es sich mit dem Königtum: Es steht nur Gott zu. Er überträgt es dann einem von ihm „Gesalbten“ – zunächst dem König, ­später dem endzeitlichen „Messias“.
  2. Der landläufig so wichtige Aspekt der „Zukunftsvorhersage“ ist dabei sekundär. Er steht immer im Dienst des aktuellen Entscheidung, vor die Gott die Adressaten stellt: „Wenn ihr das und das tut, dann werde ich so und so handeln!“
  3. Vgl. Jes 2,1–4; 49,10 ff.; 60; 66,18 ff.; das fokussiert sich im endzeitlichen Gottesknecht z. B. Jes 42,1.4.6; 49,1.6. Letzteres wird im NT auf Jesus bezogen (z. B. Mt 12,17 ff.), aber auch auf den Dienst des Paulus (Apg 26,17 f.) und damit letztlich aller Christen.
  4. „Schalom“ meint das umfassende Heil: den Frieden mit Gott, der Schöpfung, sich selbst und untereinander.
  5. 3.Mose 10,10 f.
  6. 2.Mose 19,6
  7. 5.Mose 5,23–27 (2. Mose 20,18 ff.)
  8. 2.Mose 33,7 ff. (mit seinem Diener Josua)
  9. 3.Mose 8 f.
  10. Jes 42,1–9; 49,1 – 9; 50,4–9; 52,13–53,12; vgl Jes 61,1–3

Von

  • Manfred Schmidt

    Er und seine Frau Ursula sind geistliche Begleiter der OJC-Kommunität und stehen in einem deutschlandweiten Lehr- und Reisedienst.

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