„Wir werden nach Mexiko fliegen.“ Als wir das zu Beginn unseres FSJ-Jahres hörten, war die Begeisterung groß. Wir sollten in einem Baucamp mit einem praktischen Arbeitseinsatz „Armonía“, den Projektpartner der OJC, unterstützen. Armonía ermöglicht mit seinem Internat in Oaxaca im Süden Mexikos indigenen Jugendlichen den Besuch einer Schule, der ihnen aufgrund der kilometerweiten Fußwege in der abgelegenen Region und fehlender finanzieller Mittel sonst nicht möglich wäre. Im Januar 2018 brachen wir auf zu einer Reise, die weitaus mehr war als gedacht.
Bei aller Verschiedenheit der 14 Teilnehmer (und drei Begleiter) hat das Mexikoseminar uns oft an den gleichen Stellen berührt und bewegt. Die Begegnung mit der ganz anderen Kultur begann bereits bei dem – wegen eines verpassten Fliegers – ungeplanten Ausflug nach Mexiko-Stadt. Schlagartig wurde mir bewusst, wie weit die vertraute Heimat von uns entfernt war und wie komplett anders es hier zuging. Der Lärm, die Gerüche, die unglaublich vielen Menschen! Wie groß und vielfältig ist unsere Welt und wie riesig der Kontrast! Kultur und Mentalität, diese oft gehörten Begriffe, wurden für mich an diesem Tag spürbar. Es geht um mehr als nur Sprache oder Bräuche, es geht darum, wie Menschen das Leben hier sehen und wie sie es aus ihrer Sicht leben.
In den kommenden zwei Wochen mussten wir uns immer wieder mit der mexikanischen Kultur auseinandersetzen. Wir lernten neue Speisen kennen, hörten eine Sprache, die die meisten von uns nicht beherrschen, kamen in Berührung mit Dingen, die uns völlig fremd waren. Mit Menschen, denen wir vorher nie begegnet waren, aßen wir gemeinsam, teilten Zimmer und Bad. Alle lernten die Gewohnheiten und Bräuche der anderen und ihrer Lebenswelt in einer Weise kennen, wie es intensiver nicht hätte sein können. Wir waren total überrascht, dass unsere mexikanischen Mitbewohner das Zimmer schon morgens putzten, als wir noch im Land der Träume unterwegs waren. Genauso staunten wir über die Ordnung, die bei den Mexikanern herrschte. Und wir Deutsche, die ja als sehr ordentlich gelten, wurden diesem Ruf kaum gerecht. Bei uns herrschte eher Durcheinander. Ohne das Zusammenleben in gemeinsamen Zimmern hätten wir diese Aha-Momente wahrscheinlich verpasst.
In diesen Begegnungen lag Reichtum und Segen. Wir haben nicht an den Menschen vorbei gelebt, sondern mit ihnen, mitten unter ihnen. Wir sprachen nicht nur über die Menschen und ihre Kultur, wir erlebten sie hautnah und knüpften Freundschaften mit den indigenen Jugendlichen. Wir haben nicht nur Fakten gelernt, wie noch vor einem Jahr in der Schule, sondern eigene Erfahrungen mit einer anderen, unbekannten Kultur gesammelt. Jetzt habe ich verstanden, was mit „interkultureller Begegnung“ gemeint ist.
Als ich „internationales Baucamp“ hörte, ging ich (wie alle aus dem Jahresteam) zunächst davon aus, dass wir die sein würden, die etwas einbringen, an Arbeitskraft, an betriebenem Aufwand, an Zeit. Die vorherrschende Überzeugung war, wenn auch unausgesprochen, dass wir dort mal so richtig auf den Putz hauen und gefühlt Berge versetzen würden. Ja, wir haben viel gearbeitet, auf der Baustelle des Internats, auf dem Feld, in der Küche, und uns investiert. Nach jedem Tag spürten wir rein körperlich, was wir geschafft hatten. Doch wir haben mindestens genauso viel mitgenommen von der Lebensschule Mexiko.
Die Dankbarkeit und die daher rührende Freude der Mexikaner hat uns immer wieder in Staunen versetzt. Sie strahlte jeden Tag aus ihren Gesichtern und zeigte sich in ihrem Lächeln und ihrem herzlichen und offenen Umgang mit uns. Das war so beeindruckend, vor allem angesichts ihres Lebens. Die Indigenen kommen meist aus Dörfern, die zu Fuß einige Stunden von Armonia entfernt liegen, ihre Familien und Freunde sehen sie nur sehr selten. Ihren Lebensunterhalt erwirtschaften die Familien mit einer kärglichen Landwirtschaft. Viele haben in ihrem Umfeld mit Alkoholmissbrauch zu tun. Um eine Zukunftsperspektive zu erlangen, müssen sie ihre Heimat hinter sich lassen. Armonia öffnet ihnen viele Türen, sie bekommen die Chance, ein Handwerk zu erlernen. Aber sie müssen sehr viel dafür tun. Neben der Schule muss im Internat jeder mit anpacken, überall werden die helfenden Hände der Schüler benötigt. Dabei hatten sie, als wir dort waren, gerade Ferien. Wir konnten uns ausmalen, wie viel sie im restlichen Jahr arbeiten müssen. Während meiner Schulzeit hatte ich das Gefühl, mit dem, was ich für die Schule machen musste, komplett ausgelastet zu sein. Ich weiß nicht, ob ich ihr Arbeitspensum hätte durchziehen können. Zumindest wäre ich nicht zufrieden gewesen und hätte das wahrscheinlich auch offen gezeigt. Nicht so die Mexikaner. Sie leben mit einer wirklich spürbaren Zufriedenheit. Doch ein Vergleich mit europäischen Maßstäben kann nur vordergründig bleiben. Was uns letztlich zur Lebensschule wurde, war die Tatsache, dass die Mexikaner das Leben nehmen wie es ist. Sie machen einfach das Beste aus einer Situation. Sie haben eine Perspektive vor Augen und darauf steuern sie zu, die Steine im Weg räumen sie unverdrossen weg. Die Unbeschwertheit, mit der sie ihr Leben trotz aller Schwierigkeiten dankbar und voller Freude annehmen, hat uns schwer beeindruckt. Wie oft stehen wir uns in unserem wohlbehüteten und reich gesegneten Umfeld selbst im Weg, weil wir nicht in der Lage sind, uns dankbar der Dinge zu erfreuen, die uns geschenkt sind! Von Schwierigkeiten lassen wir uns abschrecken, anstatt sie als Chancen zu sehen und an den Herausforderungen zu wachsen. Die Mexikaner waren wirkliche Vorbilder, die uns lehrten, wie wertvoll das Leben ist.
Jedem von uns wurde auf ganz neue und persönliche Art und Weise bewusst, wie reich er beschenkt ist und was für ein Privileg es ist, in einem Land wie Deutschland leben zu dürfen. Aber vor allem wurde uns klar, wie viel Potenzial in jedem Menschen steckt und dass es auch mal Hindernisse geben darf. Wer sie überwindet, wächst über sich hinaus und geht gestärkt aus den Problemen hervor. Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass wir diese Erfahrung machen durften.
Neben der „interkulturellen Begegnung“ war „Versöhnung der Nationen“ eine Maxime, unter der unser Aufenthalt in Mexiko stand. Darunter konnten wir uns noch weniger bis gar nichts vorstellen. Was war mit Versöhnung gemeint? Versöhnung folgt im besten Fall einem Konflikt, doch hatte es einen Konflikt gegeben? Zwischen der OJC und Armonia oder gar Deutschland und Mexiko? Wir konnten mit diesem Leitgedanken nicht wirklich etwas anfangen, und doch wird damit genau das beschrieben, was letztlich bei uns und den Mexikanern passiert ist.
Die Schüler bei Armonia leben ähnlich wie wir Jahresmannschaftler in einer Gemeinschaft. Sie essen, arbeiten und schlafen zusammen und werden auch gemeinsam unterrichtet, verbringen also den größten Teil ihres Lebens miteinander. Als wir ankamen, standen sich zwei Gemeinschaften gegenüber, die zwar untereinander verbunden waren, jedoch der anderen Gruppe jeweils fremd. Das war deutlich zu spüren. Beide Seiten waren im Umgang mit den anderen erstmal sehr zurückhaltend. Beim Essen saßen die beiden Gruppen fast geschlossen beieinander und auch während der Arbeiten wurde in den ersten Tagen nicht viel miteinander gesprochen. Wir konnten deutlich spüren, dass das Eis zwischen uns und den Mexikanern noch nicht gebrochen war. Aber unsere Anleiter (auf beiden Seiten), wiesen uns an, bei gemeinsamen Mahlzeiten gemischt zu sitzen. Diese unscheinbare Regel zog enorme Kreise und mir wurde neu bewusst, wie sehr eine gemeinsame Mahlzeit Knotenpunkt für sozialen Kontakt und Kommunikation ist. Wir fingen an, den Mexikanern Fragen zu stellen und über die Sprachbarriere hinweg zu kommunizieren. Die Mexikaner ihrerseits begannen uns zu interviewen.
Eine Mexikanerin fragte mich, wie man denn auf Deutsch bis zwanzig zähle. Wir haben bei diesem Mittagessen sehr viel gelacht und sie hat mir beigebracht, auf Spanisch zu zählen. Ich kannte nicht viel mehr als ihren Namen und ihr Alter, aber sie war mir weniger fremd geworden. Wenn wir uns später begegneten, grüßten wir uns, tauschten ein paar holprige Sätze und lachten meistens sehr viel.
Ich habe daran gemerkt, wie wenig Worte es braucht, um mit einem Menschen in Beziehung treten zu können. Ein Lächeln oder ein Lachen hat in jeder Sprache die gleiche Bedeutung und oft reichten Gesten zur Verständigung aus. Der Wille, das Gegenüber kennenzulernen, einfach aufeinander zuzugehen half, eine Beziehung aufzubauen. In den nur zwei Wochen haben sich bereits Freundschaften entwickelt. Das, was in dem Wort Armonía, auf deutsch soviel wie Harmonie oder Eintracht, steckt, wurde immer deutlicher spürbar, wir verstanden uns immer besser. Eines Abends kam einer der Mexikaner mit einer Gitarre und fragte mich, ob ich ihm einfach mal was vorspielen würde. Es erstaunte mich, wie aufmerksam und interessiert er dann zuschaute. Die Musik wurde die Brücke, die uns verband. Schließlich bat er mich, ob ich ihm ein paar Lieder, die er auf dem Handy hatte, beibringen könne.
Unsere Gastgeber hatten anfangs befürchtet, dass wir ihre Kultur nicht zu schätzen wissen. Als Indigene erleben sie in Mexiko oft, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Gerade die Begegnung mit einer Gruppe aus Deutschland, aus der „ersten Welt“, wo scheinbar alles perfekt läuft, weckte ihre Befürchtungen. Umso mehr waren sie von uns positiv überrascht. Sie empfanden unsere Haltung als demütig und respektvoll und das bedeutete ihnen unglaublich viel. Wir haben viel in Mexiko gelernt, aber ich glaube, dass auch wir den Indigenen etwas geben konnten, nämlich die Überzeugung, dass ihre Kultur wertvoll ist und eine Bereicherung für alle Völker, ganz besonders für uns.
Mit der Zeit wurde aus den beiden Gruppen eine Gruppe – eine wunderbare Erfahrung! Natürlich blieben die Unterschiede, aber das ist gut. Es unterstreicht die Einzigartigkeit der Menschen. Durch eine offene Herzenshaltung, eine Haltung des Respekts, kann aus dem Fremdem ein Freund und aus der Fremde ein kleines Zuhause werden. Genau das verstehe ich unter „Versöhnung der Nationen“. Neben allerlei Souvenirs und Geschenken haben wir gerade diese Erkenntnis mitgenommen.
Diese zwei Wochen waren für jeden von uns unglaublich prägend. Die Erfahrungen, die wir machen durften, zählten nicht nur für den Moment, sondern sie klingen noch immer nach. Das Miteinander beschenkte uns mit einem Quell der Freude, der nicht so schnell versiegen wird, er bleibt für den Rest unseres Lebens erhalten. Es war mehr als nur das Kennenlernen einer fremden Kultur, mehr als ein gemeinsames Baucamp, mehr als Sonne und Tortillas, es war weitaus mehr als eine Reise.
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